Allegro Pastell – Leif Randt

Kiepenheuer&Witsch | 2020 , 280 Seiten.

>> Eine „gute Zeit haben“, omnipräsentes Leitmotiv. Hatte ich eine „gute Zeit“ beim Lesen des Buches? Ja und nein. Schmunzeln und freudige Überraschung über Neuentdecktes, aber auch Zähneknirschen. Allerdings schon beim Lesen, nicht nachts wie beim Protagonisten Jerome Daimler. Vielleicht hätte ich auch vor der Lektüre immer ein bisschen Ketamin oder sonstige in dieser Szene verwendete Aufheller einwerfen sollen. Aber leider war von all dem nix in meiner Hausapotheke. Jerome und seine Freundin Tanja Arnheim gingen mir ziemlich schnell auf den Geist. Soviel Achtsamkeit und Awareness, Hedonismus, Narzissmus, die Bedeutung der Distinktion, der Versuch sich um jeden Preis von anderen abzusetzen, diese Blasiertheit kombiniert mit Ignoranz und systematischem Ausblenden aller Probleme unseres Planeten, die Selbstbezogenheit, diese neurotische Konzentration auf das eigene Ich, Ich, Ich , die Bedeutung von Markenartikeln und Accessoires, diese permanente Selbstinszenierung gepaart mit sprachlicher Verwahrlosung, der Meditationskitsch, die Dummheit, das Leben zwischen 35 und 75 als die „verlorenen Jahre“ zu bezeichnen, die Lifestylerei, die durchsichtige, vordergründige Ästhetisierung des Alltags, all das war schwer zu ertragen und machte die Lektüre emotional anstrengend, aber natürlich auch aufregend.

Die beiden Hauptdarsteller können noch nichts wissen von den Risiken der Selbstfindung, der gefährlichen Reise nach Innen, von der sich manche bis ans Ende ihrer Tage nicht mehr erholen. Von der Politik wissen sie immerhin, dass links mit Wehmut und rechts mit Nostalgie konnotiert ist. Ein Jahr Zivildienst in einer sozialen Einrichtung hätte Jerome vermutlich immens gut getan. Tanja, eine in jungen Jahren schon erfolgreiche Schriftstellerin schreibt über derart abgelegene Themen, dass man vermuten darf, dass der Autor eine gelungene Persiflage auf den aufgeregten Literaturbetrieb angestrebt hat. Auf der letzten Seite mailt sie dann gereift wie ein Herbstapfel, aber ich nehms ihr nicht ab.

Der Unterschied zur von Florian Illies beschriebenen Ego-Gesellschaft „Generation Golf“ (Jahrgänge 1965 – 1975) scheint mir nicht sehr groß zu sein. Zwischendurch bläst auch ein bisschen „Nordwind“ ( Daniel Glattauer).

Leif Randt ist ein starkes Buch gelungen. Ein vorzüglicher Beobachter und Stilist, der generös den ausgestreckten Zeigefinger mir überlassen hat. Ich hoffe, dass das von ihm beschriebene Segment minoritär ist und bleibt. Ich hoffe das im Interesse unseres Landes, das, je älter ich werde, desto mehr schätze.  Note: 2 (ax) <<

 

>> „Allegro Pastell“ fasziniert und irritiert auf verschiedenen Ebenen. Schon die Kapiteleinteilung „Phase Eins“ „Phase Zwei“ „Phase Neu“ signalisiert Neuland-Literatur (s. PanoptikumNeu).  Phase 1+2 spiegeln die Befindlichkeiten, wechselnde Nähe und Distanz, des 36jährigen Webdesigners Jerome und der 30jährigen Erfolgsschriftstellerin Tanja. „Phase Neu“ beginnt mit dem Auftritt der 35jährigen Unternehmensberaterin und Grundschulfreundin Marlene Seidl und mündet in eine durch Powerpoint-Präsentation abgesicherte Entscheidung Jeromes und Marlenes zum gemeinsamen Kind. Das Schlusswort gehört wiederum Tanja mit einer von ihr eigentlich nicht zu erwartenden anrührenden Mail. „ABSENDER: Tanja Arnheim BETREFF:us 04.08.2019, 23:21 Uhr“. Nur ein Screenshot dieser Mail könnte diese Form der Kommunikation noch toppen. Wie nahe Randts Erzähler seinen Figuren steht, zeigt sich schon auf der 1. Seite. Nicht die Handlung sondern die Reflektion der Handlung steht im Vordergrund. Wie spiegelt sich mein Verhalten im Gegenüber, welche Erwartungen werden geweckt bzw. enttäuscht. Sprachcode und Dresscode spielen in diesem Lifestylemilieu ein zentrale Rolle und da muss sich Leif Randt ganz glänzend auskennen. Berliner und Maintal Location, das Personal hip, ökonomisch saturiert, mindestens in Medien, Design, Kunst unterwegs, hedonistisch, in der Clubszene stets kontrolliert auf Droge, nicht ikeaspießig sondern declathonaffin, sexuell offen, aber letztlich doch bindungsbedürftig. Für Pfrondorf, WHO, Derendingen und den Österberg ist in dieser Welt kein Platz, auch wenn wir jetzt als Pensionäre die Zeit hätten uns unter die 400 Gäste im Technoclub „Griessmühle“ zu gesellen um am frühen Sonntagnachmittag nach 45min. Wartezeit und 15€ Eintritt an der „Cocktail d’Amore Party“ teilzunehmen. Ob wir allerdings nach der „Einnahme am Tresen“ wie Tanja von 14.14 bis Montagmorgen 2.15 ausharren könnten, ist zweifelhaft. Das wär bei der Party „Lecken“ im „Unter Tage“ sicherlich eher machbar. Ambivalent bleibt in diesem Roman bis zum Schluss die Frage, welche Lesart des Romans zu welchem Urteil führt. Minutiöse Beobachtung in Inhalt und Form eines Stücks gesellschaftlicher Wirklichkeit, die mir letztendlich doch fremd bleibt,  weil sie sich ausschließich mit Innensichten und Selbstwahrnehmung befasst. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist nicht nur in der Gestalt von Bernie Sanders auf den Hund gekommen. Bei der 2. Lesart dominiert Augenzwinkern Leif Randts. Hier wird vorgeführt und entlarvt. Tanjas PanoptikumNeu -nach Randt eine „Romanminiatur“ zeigt wie im Literatur- und Kulturbetrieb gehipt wird. „Sinnstiftende Virtual Reality“ ein „Missverständnis“, dem nicht nur Figuren wie Markus Lanz erliegen. Kultbuch, „ein Ikone für schwule Akademiker zwischen 20 und 45“, Lesungen in Kapstadt und Wien, vermarktet zu einer vierteiligen Miniwebserie, gedreht mit Samsung S7 und was erfahren wir vom Inhalt? Eine Figur namens Liam und seine 4 schwulen Freunde wollen in einem „Landschulheim“ (VR riecht nach Cyber space, der Schauplatz aber nach Stockbett) ihre Sucht nach sexueller Befriedigung „in den Griff kriegen“ (großartig! Besser kann man die Sache nicht auf den Begriff bringen). Wenn das kein Stoff ist der nach Goethe-Institut ruft!  Vergleichbar schlicht gestrickt sind Tanjas weitere Projekte. Jeromes Frage nach dem „thematischen Zentrum“ ihrer 2. Romans beantwortet Tanja: “Ich glaube man sollte sein Thema nicht zu genau definieren…es geht mehr um Religion als um Psyche“ und ihr letztes Romanprojekt führt uns aus der Perspektive einer jungen Pflegerin in ein „leicht futuristische Senior*innenstift. Ein Besuch bei der verstorbenen Großmutter in einer solchen „Residenz“ (Altersheim geht in diesem Milieu gar nicht) dient als Hintergrundrecherche. Nicht nur Tanjas vermeintliche literarische Fortüne erzeugt Schmunzeln, auch dort, wo der Blick mal über das eigene Selbst nach Außen gelenkt wird, kommt Irritation auf: Jeromes „fatalistischer Blick aufs moderne Wirtschaften“ mündet in einer Teilzeitlandschaftsgärtnerutopie („idealerweise Dienstag“) möglichst mit „vier Tage Wochenende“, die Tanja noch toppt: „Eigentlich will ich gar nicht arbeiten“. Das ist entwaffnend naiv, aber eben auch Teil des Randtschen Mikrokosmos, einer letztendlich doch verlorenen Teilgeneration zwischen Tiefsinn und Oberflächlichkeit. Diese Generation ist einerseits ganz ganz dicht bei sich selbst, lebt das Hier und Jetzt und ist andererseits ganz weit weg von dem, was eigentlich auch von dieser Generation zu erwarten wäre. Diese Bestandsaufnahme ist Leif Randt hervorragend gelungen.

Dass „Allegro Pastell“ verschiedene Lesarten ermöglicht, ist ein Teil der Faszination. Schade, dass Tanja in den nächsten Monaten in der Gruppe „Allegro Kalenji  beim TSV GuthsMuths 1861 in Tiergarten pausieren muss, wie überhaupt Randts Personal mit der Berliner Quarantäne seine Schwierigkeiten haben dürfte. Aber vielleicht nutzt Tanja ja die Zeit für ein neues Panoptikum. Note: 1/2 (ai) <<

 

>> Eine Lovestory. Tanja auf dem Frankfurter Hauptbahnhof Gleis 9, Jerome findet es charmanter stehen zu bleiben. Später haben sie leicht pathetischen Sex auf seiner Couch in Maintal. Tanja zurück in Berlin Hasenheide. Tanja und Jerome haben keine Policies der Informationsvergabe vereinbart. Sie kommunizieren meist in langen iMessages. Sie tanzt 9 Stunden auf der Cocktail-d´Amore Party. Es ist das Jahrzehnt, in dem öffentlich ausgetragene Blowjobs den Sprung in den Mainstream schaffen. Jerome will simultan in Offenbach Ecstasy einwerfen, während sie in Berlin plant 155mg mdma zu konsumieren. Theorie vom europäischen Energiefeld der Love Interests. Jedem Protagonisten fällt eine Rolle zu. Jeromes Aufgabe: Paarbeziehungen retten, indem er sich als schlechtere Seitensprungwahl entlarvt. Jerome mit Sparticket in Berlin. Der erste Sex in Tanjas Wohnung hat etwas Formelles. Im Szechuan Lokal lobt Tanja das Interieur. Am Abend betrinken sie sich. Zwischen den Getränken schnupfen sie vom Briefkastenschlüssel Ketamin. Tanja lobt das Highfidelity-Gefühl. Tanjas 30. Geburtstag. Jerome geht ihr unvermittelt auf die Nerven. Trennung. Sie ist fasziniert von ihrem Kontrollverlust als Janis, der Freund ihrer Freundin, auf ihrer Bettkante sitzt. Jerome bemüht sich zu feiern. Nach dem Kauf eines Marihuana Vaporizers vapt er verschiedene Hybridsorten mit Blick auf das Naturschutzgebiet. Als die Schulfreundin Marlene und Jerome ein Fünfer-Bembel Apfelwein geleert haben, spricht er: „Zwischen Samstag und Dienstag haben wir jetzt Cross-Partnerlook gemacht“. Dass sie zwischenzeitlich Calvados bestellen, ist ein gutes Zeichen. Marlenes alte Beziehung war im dritten Jahr bei sprachloser Lähmung aber noch großartigem Sex zu Ende gegangen. Marlene: Dort hatte ich meinen ersten Mushroom-Trip. Jerome: Psychedelics sind die Leerstellen in meinem Konsumportfolio. Marlene zieht ein rotes Kondom aus ihrer Tasche. Er weiß jetzt, dass er mit Marlene okayen bis sehr guten Sex haben würde.

Janis pocht bei Tanja erneut auf seine gut funktionierende Affäre mit dem Dresdener Dennis. Tanja bleibt mit ihrem Rest Eiscreme sitzen. Tanja mit Alex im Tattersall. Er weiß Rat. Gruppensex im Unter Tage. Bei den Parties „Lecken“ sind auch Heteros, das entspannt. Tanja und Jerome nach fünf Monaten erneut bei einer Hochzeitsparty. Sie nehmen eine schwarze Levi´s vom saferparty.ch Versand. Jerome spürt eine Erektion. Tanja will in Berlin mehr Langeweile wagen. Jerome feiert seinen sechsunddreißigsten Geburtstag bei Mutter. Er isst mit Marlene, sie Steak, er Dorade. Sie probieren gegenseitig und bestätigen ihren jeweiligen positiven Eindruck. Sie knutschen kurz. Die nächste Knutschphase dauert etwas länger. Jerome will wissen, ob er es gut ertragen kann, sie zu lecken. Die Einsicht ist, dass er es gerne tut. Jerome und Marlene in Como. Sie schlafen sechsmal miteinander, an zwei Tagen gar nicht, dafür am Ankunftstag dreimal. Am vierten Tag nehmen sie psychedelische Pilze. Der Rausch nimmt sich überraschend freundlich aus. Marlene wird schwanger. Jerome arbeitet die Familienzukunft in einer PowerPoint Präsentation auf. Marlene ist die gesündeste Liebe seines Lebens. Sie würde immer Geld verdienen. Tanja bewahrt sich ihre Liebe für Jerome. Finito.

So gelesen hätte diese Love Story nicht geschrieben werden müssen, ist sie doch so fade wie der allegropastelle Einband der Originalausgabe. Zugegeben, da ist noch etwas mehr. Ein Mehr, dass ähnlich wie die Inspektion der „Generation Golf“ von F. Illies (2000) bedingt analytisch wie auch selbstironisch die Generation Y (Abkömmlinge der 80er Jahre) erhellt.

Virtuelle Welten. Die Protagonisten dieses Romans sind nicht unwesentlich affin für virtuelle Lebensgestaltung. Hierfür setzt Randt alte und neue Welten außerhalb des Wahren unmittelbar nebeneinander und lässt sie ineinanderfließen. Tanja ist Jungautorin mit dem Fokus einer sinnstiftenden Virtual Reality. Literatur war immer schon irreal-real und scheint es hier sogar in zweifacher Hinsicht. Die IT-Welt des Webdesigners Jerome bewegt sich zwischen Medien-fokussierter Selbstinszenierung seiner Kundschaft in Form von Webpages und entrückten Lavalampen-Pitches, in denen verquirlte Geräusch- und Farbverläufe seelische Erhellungen provozieren sollen. Virtuell-reale Zustände. Ähnlich farbenfroh wirkt schließlich die Welt biologischer und synthetischer Rauschmittel, die wie die Literatur Elemente der Realität in Formen des Irrealen transformiert und verfremdet. So betrachtet, ist die virtuell fixierte Generation Y von der durch Literaturklassiker geprägten Elterngeneration nicht prinzipiell verschieden.

Literaturbetrieb. Tanja versucht sich als Schriftstellerin. Das erste und einzige Werk liegt schon dreieinhalb Jahre zurück, ist dünn und führt zu Missverständnissen. Ihre Einladung zum Fernsehmoderator Lanz weist ihr eine Rolle zu, der sie sich nicht gewachsen fühlt. Die Urteile über ihre Person schwanken zwischen hochnäsig und erfrischend inkompetent. Ihre Protagonisten sind schwul, worauf homosexuelle Akademiker sie zur Ikone stilisieren, während FeministInnen ihr vorwerfen, dass sie sich überhaupt mit Männern beschäftigt. Während der Schauplatz ihres „zukunftsweisenden“ Miniaturromans ein altes Landschulheim ist, soll ihr zukünftiger Roman aus Seniorenstiften gespeist werden. Die staunende Rückblicks-Melancholie am Lebensende. Ihre Freundin empfiehlt dagegen das Thema Wechseljahre, das sicher niemand besser in Szene setzen könne als Tanja. Tanja selbst: Nehmt mich nicht ernst. Vielleicht ist es dieser Aspekt von Allegro Pastell, mit dem der Jungschriftsteller Randt auch sich und den Literaturbetrieb ironisch inzeniert. Vom Sprachduktus der Y-ers ganz zu schweigen.

Die Charaktere. Die Repräsentaten der urbanen Generation: Gut-Dreißigjährige, akademisch vorbereitet, berufliche Individualisten, angedeutete Hedonisten, aufgeklärt, konsumselektiv, rauschoffen, depressiv (Schwester), triebbereit, bindungsbegrenzt (Tanja), ritualbeengt (Jerome), mobilbetont, tolerant. Summa summarum: ein moderner Sapiens Subtyp. Kann man leben lassen. Auch hier darf dem Autor Randt ein ambivalentes Augenzwinkern zugetraut werden.

Gelegentliche Originalität ist eingefügt. Mit Wohlwollen sogar Sinnhaftigkeit. Ein bisschen Popkultur, ein wenig Generationenstudie unter einer großzügig aufgetragenen Deckschicht Pomade. Das Buch kann man lesen, will es aber nicht unbedingt müssen.

Note: 3 (ur) <<

 

>> Verschiedene Leser haben gefragt: „Ist das alles ernst gemeint? Die Figuren gehen mir ganz schön auf die Nerven“. Die richtige Frage und ein richtiger Befund. Trotzdem oder gerade deswegen ein sehr gutes Buch, das dem Leser die Parallelwelt einer Generation der um die 30-jährigen offenbart, in deren Alltag sich einerseits viel um Äußerlichkeiten und Distinktion durch Markennamen, hippen Restaurants, Essen und Kommunikationscodes dreht, andererseits aber unendlich viel auch um Selbstreflexion und Befindlichkeiten dreht.  Ein typischer Satz: „Jerome mochte den Gedanken, dass er sich selbst gegebenenfalls unerträglich finden würde, könnte er sich von außen in der U4 sehen“. Das ist äußerst klug von Leif Randt beobachtet und mit psychologischer Tiefenbohrung beleuchtet. Das Leben einer extrem selbstbezogenen Generation in Berlin – Tanja – und Frankfurt- Jerome-  bilden den Rahmen. In Berlin geht es darum „möglichst publikumswirksam eine gute Zeit zu haben“.
Drogen gehören selbstverständlich dazu. Die Unentschlossenheit, die Ambivalenz, These und Antithese in ein und demselben Gedanken und das Fehlen eines festen Standpunkts durchdringen Allegro Pastell porentief. „Sie diskutierten darüber, ob Marlenes Kontaktaufnahme nun steril und abgeschmackt oder das genaue Gegenteil davon gewesen war“. Everything is possible. In der auffällig häufig verwendeten Vokabel „ erstaunlich“ drückt sich schon der halbe Rückzug von jeglicher  Festlegung aus. Sex mit Mitte 30 war „auch ein klein wenig austauschbar, unpersönlich und egal“.

Dass man Leif Randts Roman deshalb als Parodie, Ironie, Satire, Persiflage lesen muss, um einen veritablen Lesegenuss zu haben, liegt auf der Hand. Das geschilderte Milieu wird zu Kenntlichkeit decouvriert. Schon das in der Belletristik verpönte , von Randt aber in Tanjas und Jeromes Gedankenwelt selbstverständlich verwendete Gendersternchen (Autor*innen) spricht für sich.
Herrlich der Literaturbetrieb, der Tanja mit ihrer „Romanminiatur“ PanoptikumNeu für „ schwule Akademiker zwischen 20 und 45 zu einer Art Ikone“  macht.  „Von Tanja wusste Jerome, dass sie Peter Handke ebenfalls mochte, er hatte in Erinnerung, dass er ihr liebster Autor aus der Schweiz war“. Das ist auf den Punkt gebracht. Besser kann man den literarischen Kosmos von Jerome oder von Tanja oder von beiden nicht beschreiben. Spätestens wenn Jerome , als er erfährt, dass er Vater wird, schnell eine Power Point Präsentation Pro und Contra Kind entwirft  und meint,  ihr Kind könnte „eine sinnvolle Religion“ erlernen, muss klar sein, in welchem literarischen Sujet sich Randt meisterhaft bewegt.  Note: 1 – (ün) <<

Hundert Jahre Einsamkeit – Gabriel García Márquez

Kiepenheuer&Witsch, Neuübersetzung, 3. Auflage 2020 | 519 Seiten.  ISBN 978-3-462-05021-9

>>Die Lektüre – gewiss ein Kraftakt, aber er lohnt sich. Im Mikrokosmos von Macondo und der „Sippe Buendias“ entfaltet sich das Leben in allen Facetten bis zum bitteren Ende. Ein erzählerisches Feuerwerk, das auch möglichen Bedenken aktueller political correctness Diskurse widersteht. Auch wenn es eine Geschichte des Untergangs ist, so ist es doch letztlich eine Liebeserklärung an die Bedeutung der Literatur: „Die Welt wird an dem Tag endgültig im Arsch sein, wenn die Menschen erster Klasse reisen und die Literatur im Güterwagen“ . Note: 1 (ai) <<

>> Dieses gewaltige literarische Naturereignis ist schlichtweg eine Zumutung und überfordert anfangs wahrscheinlich jeden Leser. Mir hat die schiere, fast biblische Eruption von Ereignissen und Personen, die über Generationen vielfach gleiche Namen tragen, jedenfalls eine gehörige Anstrengung abverlangt. Zumal die Zeitebenen sich leicht mäandernd immer wieder leicht verschieben. („Auch die Zeit stolpert“) Ohne Personenregister und Stammbaum aus dem Internet wäre ich wahrscheinlich nicht weit gekommen.
Trotzdem bin ich etwas stolz und auch froh, bis zum Ende durchgehalten zu haben.
Wenn man begriffen hat, dass die zeitliche Verortung der unzähligen Aurelianos oder José Arcadio Buendiás wohl von untergeordneter Bedeutung ist, kann man sich voll und ganz an der ungeheuren Fülle von sprachgewaltig erzählten Ereignissen rund um die schillernde Familie Buendias, das Dorf Macondo und ihrer Bewohner  im karibischen Teil Kolumbiens erfreuen. Hintergrund bildet auch noch die historische Entwicklung Kolumbiens mit endlosen Bürgerkriegen, das Eindringen und Verschwinden eines ausbeuterischen Plantagen-Systems. Hierbei exzellent und hellsichtig geschildert, die raffinierte Tilgung („durch die Zauberer des Rechts“)  eines fürchterlichen Massakers an den Arbeitern der Plantage aus dem Gedächtnis des ganzen Landes.

Die Wiederkehr der gleichen Namen über Generationen hinweg könnte auch ein Hinweis auf eine der vielen Deutungsebene des grandiosen Werkes sein: Die an griechische Tragödien erinnernde Gefangenheit der  Akteure in einem von der Zentralfigur des „Zigeuners“  Melchiades prophezeiten  Schicksals, das sich in einer geheimen Schrift offenbart. Die ewige Wiederkehr von F. Nietzsche:  Kummer, Elend, Hunger – wie würde man damit fertig werden können, wenn man wüsste, dass man dies auf ewig wieder erleben müsste? Nietzsche formuliert dafür einen neuen Imperativ: Du sollst die Augenblicke so leben, dass sie dir immer wiederkehren können, und zwar ohne Grauen!“
Das gelingt bei Marques nur wenigen Figuren, vielleicht Amaranta Ursula. „Sie waren wieder glücklich in der Gewissheit sich auch als Wiedergänger weiterzulieben, auch dann noch, wenn dereinst künftige Tierarten den Insekten das Elendsparadies abringen würden, das diese jetzt ein für alle Mal den Menschen abrangen.“ (S. 506)

Aureliano Segundos Saufkumpane legen ihm einen Kranz auf den Sarg, auf dem steht: „Weg da, ihr Kühe, das Leben ist kurz!“  Note : 1/2 (ün) <<

 

>>            Erst nachdem José Arcadio Buenda dem Nachbarn erwartungsgemäß die Lanze durch den Hals getrieben hatte, offenbarte Ursula ihm ihren Unterleib. Der Nachbar hatte Arcadio als impotent beleidigt. Tatsächlich hatte Ursula ihrem Gatten José Arcadio den Beischlaf von Anfang an verweigert, weil sie wegen des Inzestverhältnisses Nachkommen mit Schweineschwänzen befürchtete. Ihrem Leib entsprangen darauf nach und nach drei Sprösslinge jedoch ohne Schwänze hinten, aber teils mit legendärem Gemächt vorne. Mit gerade diesem, aber auch allem anderen was Geist und Körper aufboten, belasteten sie wie der Vater die Sippengeschichte so nachhaltig, dass sie nach sieben Generationen ausgelöscht waren.

            Der Roman mag verstanden werden als südamerikanisch interpretierte Menschheitsgeschichte mit offensichtlichen Anleihen bei biblischen Episoden. Oder als Allegorie vier historischer Phasen Südamerikas. Oder als Verdammnis des Individuums, das sich ewig selbstzerstörerisch im Wege steht. Hundert Jahre Einsamkeit ist eine überaus turbulente Erzählung, die im kolumbianischen Norden spielt – der Heimat des Autors. Sehr eigenwillig im Duktus des Magischen Realismus wie auch von zahlreichen anderen lateinamerikanischen Autoren gepflegt. Mit Blick auf wiederkehrende Traumata vielleicht ein zeitloser Roman, auch wenn er heute der überempfindlichen political correctness nicht gerecht wird.

Am Anfang stand die auf Schuld gegründete Genesis und Vertreibung. Adam und Eva mussten aus dem Garten Eden weichen. So wie Eva aus Adams Rippe geschnitten quasi hermaphroditisch genetisch verwandt mit Adam blieb, so sind auch José Arcadio und Ursula inzestuös verbunden. Vor der wiederkehrenden Seele des ermordeten Nachbarn flüchtend, fanden sie erst nach einer qualvollen zweijährigen Odyssee den Platz, auf dem fortan der Ort Macondo wuchs. Biblische Gestalten, Episoden und Verläufe prägten das Gesicht dieser in sich geschlossenen Entität. Menschen mit großer Reinheit wurden geboren wie Remedios die Schöne, die in Anlehnung an Mariä Himmelfahrt beim Wäscheaufhängen eines Tages einfach in den Himmel auffuhr. Zwar mit Ehrfurcht betrachtet, blieb am Ende jedoch ärgerlich, dass damit auch ein Bettlaken verschwand. Die klimatischen Umstände der Arche Noah spiegelten sich in Macondo in einer vierjährigen katastrophalen, aber reinigenden Regenzeit. In Macondo trat als weissagender Messias alljährlich der Zigeuner Melquíades auf, verbreitete innovative Erkenntnisse und verfasste ein verschlüsseltes Werk, welches tatsächlich die Zukunft in allen Details vorwegnahm. Er starb und kehrte wieder, weil er die Einsamkeit des Jenseits nicht ertrug, und hinterließ eine Zeit disziplinierende Aura, welche Staub und Rost Einhalt gebot. Macondo entwickelte sich und verdarb über sieben Generationen vielleicht in Anlehnung an die Johannesoffenbarung, in der sieben Engel sieben Schalen des Zorns über die Erde gießen, bevor es zum Harmagedon kommt. Die endzeitliche Apokalypse ist bei Márquez der Sieg der Natur mit ihrer vielgliedrigen Gewalt in Gestalt vernichtender Stürme, Myriaden nagender Ameisen und einer erbarmungslosen Flora. In der Schlussszene entzifferte der letzte Aureliano Buendas die Weissagungen des Melquíades bis zu dem Moment seines eigenen vorausgesagten Todes. Ein alles vernichtender Orkan löschte schließlich Macondo aus. Während die Bibel im günstigen Fall den Aufstieg in den Himmel und ein Himmelreich auf Erden (wenn auch auf tausend Jahre beschränkt) anbietet, heißt es bei Márquez, dass „die zu hundert Jahre Einsamkeit verdammten Sippen keine zweite Chance auf Erden bekamen.“ Das wäre es dann gewesen. Der Sozialist Márquez scheint sich hier aus dem bunten Szenenkatalog der Bibel zu bedienen, um die Originale – mit Trivialkolorit verfremdet – zu persiflieren.

Eine andere Sichtebene des Plots ist nach Strausfeld historisch-politisch angelegt. In Phase I des Romans (Kolonialzeit) gründeten Pioniere wie José Arcadio Buenda und Ursula gesellschaftliche Keimzellen ähnlich den Einzelkämpfern, die Südamerika durchdrangen. In Phase II (Republik) hatte sich eine polarisierte Gesellschaft entwickelt und suchte vergeblich das Gefälle von Arm und Reich durch einen 20-jährigen Bürgerkrieg zu überwinden. Mehrere Sippenmitglieder der Buendas nahmen an den Auseinandersetzungen teil, wurden zu erfolglosen Revolutionären mit 32 verlorenen Schlachten, bereicherten sich als diktatorische Statthalter oder versuchten sich das Leben zu nehmen, weil sie die proklamierten Ideale nicht erzwingen konnten. In Phase III (Imperialismus) schlichen sich US-amerikanische Agrarkonzerne in das Land. Ökonomische Abhängigkeit, kulturelle Wandlung, Widerstand und Ruf nach Gerechtigkeit hallten durch Macondo. Bananenplantagen wurden verwüstet. Die Fremdherrscher antworteten mit einem umfassenden Massaker an der Bevölkerung, das später nicht nur von den Tätern sondern auch von den Überlebenden geleugnet wurde. In Phase IV (Neoimperialismus) folgte die desaströse Individualisierung mit einer Rückbesinnung auf umstrittene Werte. Religiöse Hinwendung versprach Ordnung, sie und Moral an sich wurden jedoch verraten. So verließ der nach Rom entsandte José Arcadio schon kurz nach der Ankunft das Priesterseminar um letztlich als pädophiler Nichtsnutz heimzukehren. Später wurde er von seinen dekadenten Liebesburschen ertränkt. Amaranta Buenda aus der fünften Generation hinterging ihren belgischen Ehemann, um mit ihrem Neffen den letzten Nachfahren in erotischer Einsamkeit zu zeugen. Dieser Nachkomme starb als Neugeborener den grauenhaftesten Tod als ihn am lebendigen Leib Ameisen zerfraßen. Mit dieser Metapher zeichnete der Autor ein überaus düsteres Bild seiner kolumbianischen Heimat. Ein Bild, das Hoffnung keinen Raum gibt.

Am gravierendsten scheint die dritte Interpretationsrichtung: das scheiternde Individuum. Keine von Márquez´ zentralen Literaturgestalten stellt ein Ideal, ja noch nicht einmal einen farblosen Durchschnittsprotagonisten dar. Alle zeichnet ein Makel, ein isolierender Charakterzug, eine Grausamkeit, eine Manie aus. Die Protagonisten sind innerlich vereinsamt, finden nicht zu anhaltender Gemeinsamkeit. Jetzt nicht und auch nicht in einhundert Jahren. Nie. Als Ausnahme könnte man vielleicht die matriarchale Urmutter des Romans Ursula lesen. Sie folgte unbeirrt mit herben Einsatz ihren ordnenden Prinzipien und war sogar gewillt, ihre schuldigen Söhne zu verstoßen. Am Ende des Romans, im vermuteten Alter von 120 Jahren, erblindete sie und wurde sehend. Und was sie zu sehen meinte, ernüchtert. Dass z.B. ihr 20 Jahre im Freiheitskampf verharrender Sohn und Revolutionsoberst nie einen Menschen liebte, nie ein politisches Ziel wirklich ernst nahm, sondern lediglich seiner Selbstsucht folgte.

Auch wenn der Plot im Grunde Hoffnungslosigkeit inszeniert, ist seine Form von teils atemberaubender Sprachgewalt. Grandiose Metaphern, üppige Fantasiebilder und bizarre Handlungsfolgen verbinden übergangslos Mögliches und Unmögliches. All das kann jedoch nicht verdecken, dass dem Leser auch Längen und Ermüdung zugemutet werden. Für mitteleuropäische Lesegewohnheiten bleibt der Magische Realismus Lateinamerikas gelegentlich eine Herausforderung.  Note: 2– (ur)<<

 

>>Einer der größten literarischen Erfolge der Weltgeschichte. Unendliche Auflagen, übersetzt in alle Sprachen, die es gibt und gab. Ein Opus Magnum dessen, der mit GGM abgekürzt wird. Obwohl mich Magie eher anzieht, hat mich der magische Realismus des etwas zu breit geratenen Romans eher irritiert als gefesselt. Die Geschichte Kolumbiens, griechische Mythen und Biblisches, existentielle Befindlichkeiten der menschlichen Gattung, es fehlt wenig. Die von Netflix geplante Verfilmung (die Söhne haben die Rechte verkauft, der Vater war immer scharf dagegen) kann eigentlich nur in die Unterhose gehen. Dem Autor gelingen großartige Beschreibungen wie zum Beispiel der Streik, das anschließende Massaker und vor allem der subtil geschilderte Versuch, reale Ereignisse aus den Gedächtnissen zu verdrängen. Oder wie es Aureliano Segundo schafft, zwischen zwei extrem konträren Frauen auskömmlich zu leben. Einige Sätze weisen über den Tag hinaus: “Du bist jetzt ein Mann“, sagt Amaranta zu Aureliano José. Oder: “Die Liebe ist eine Pest“. (José Arcadio Buendía)

Trotzdem kann ich das Buch nur „starken“ Leser/innen empfehlen. Ich war etwas verloren:

Manchmal ward es eine Qual
die Magie schien ir.real
Voll betäubt von der Magie
Schwebt der Leser im NiWi
Realismo mágico
war zu schwer für Máximo.

Note: 2/3 (ax) <<

Am Tag davor – Sorj Chalandon

dtv  2017/ 2019 | 316 Seiten.

ISBN 978-3-423-28169-0

>> Dass sich in diesem Buch eine reale Bergwerkskatastrophe und eine persönliche Tragödie zugleich ereignen, enthüllt uns der Autor erst schrittweise gegen Ende des Romans. Nicht nur das ist dramaturgisch perfekt konstruiert.  Faszinierend wie sich aus der Perspektive des 16 jährigen Michel Flavent das Geschehen des 26. Dezembers und des Grubenunglücks am 27. Dezember überlagern. Und damit stellt sich auf zwei Ebenen die Frage von Schuld und Sühne. Was sich im Schacht 3b von Liévin  ereignet, ist Folge eines Grubengasunglücks, Profitgier sticht Sicherheit, so ist das Leben 710 m unter Tage. Das ist ein Stück brilliant recherchierten Bergmannslebens und der Kohleindustrie: Maloche, Kumpelsolidarität neben Vorarbeiterkontrolle, lebenslanger Bedrohung auch nach der Zeche, fast jede Familie hat ein Opfer aber auch dem Stolz eines Berufs, dem die Industrienationen ihren Wohlstand zu verdanken hatten. Was sich aber im Kopf des „Pochjungen“, abspielt (auch eine Form von unter Tage), der „am Tag davor“ in der Figur des Rennidols Michel Delanet seinen geliebten Bruder Jojo durch einen Mopedunfall verliert, das ist die geniale Geschichte eines Psychogramms, die im Detail Psychoanalytiker zu enträtseln vermögen. Mit der literarischen Figur des Gefängnispsychiaters Adrien Croizet wird uns im Gegensatz zu den anderen psychologischen Fehlbesetzungen ein würdiger Vertreter des Faches vorgestellt.  Erst der Prozess nach dem Mordversuch an Lucien Dravelle befreit Michel Flavent aus seinem inneren Gefängnis, das ihm die Bürde seines Vatersbriefs bisher lebenslang auferlegt hat. Überhaupt erweist sich der Prozess gegen den inzwischen 57jährigen Michel Flavent auch als Katharsis für den zunächst nur als „Dreckskerl“ wahrgenommenen  Dravelle, der sich der Verantwortung für die Katastrophe vom 27.Dezember stellt.

Mich hat in dem Roman vieles gefesselt und berührt, vielleicht mit am stärksten die Geschichte Michel Flavents und einer Frau Cécile, die in der den Roman abschließenden Traumgeschichte einen Abschluss findet, der auch sprachlich ganz ganz große Literatur ist und der uns als Leser einen versteckten Wink gibt, dass Cécile vielleicht doch die wahre Geschichte ihres Michel gekannt hat.

Das „ich weiß“ bleibt offen und das ist gut so, weil alles, was wir in diesem Roman erfahren, die Erfahrung des Ich-Erzählers Michel Flavent alias Michel Delanet ist.

Note : 1+ (ai) <<

 

>> Der Tag davor ist der 26. Dezember 1974, ein Tag vor dem größten Grubenunglück in der Geschichte Frankreichs. Der Tag davor ist auch der letzte Tag einer ungewöhnlich intensiven Bruderliebe. Im Am Tag davor verknüpft Chalandon das Bergwerksdrama mit dem Lebensdrama zweier Brüder. Während der größere Bruder Jojo sein Leben verliert, verschüttet sein Tod das Dasein des Jüngeren, Michel. 40 Jahre wird er davon verfolgt werden, bis er mit einem Befreiungsmordversuch ansetzt auch sein eigenes Dasein abzuschließen. Erzählt aus dem Munde des Jüngeren, erscheint diese Entwicklung lange Zeit als Vergeltung an den Verantwortlichen des Bergwerksunglücks und bekommt damit eine sozialpolitische Dimension. In einer literarisch raffinierten Konstruktion überrascht der Autor jedoch den Leser mit einer ganz anderen Wahrheit. Die politische Ebene changiert augenblicklich in eine psychologische, an deren Ende das tragische Wechselspiel von Schuld und Sühne regiert.

            Sorj Chalandon lässt Michel über 200 Seiten die von ihm verklärte Lebensgeschichte darlegen, deren offensichtliche Tragik keinen Zweifel erlaubt. Anfang der Siebzigerjahre lebt die vierköpfige Familie vom dürftigen Ertrag ihrer zukunftslosen Landwirtschaft. Jojo lässt sich gegen den erbitterten Widerstand des Vaters als Bergarbeiter rekrutieren. Der vierzehn Jahre jüngere Bruder Michel verfolgt bewundernd den großen Bruder, der rührend den Kleinen umgarnt. Michel teilt die unbändige Lebensfreude wie auch die kämpferische Kritik an den täglichen Bergbauquälereien. Dann kommt Weihnachten ´74. Die Profitsucht der Werksleitung provoziert ein Grubenunglück. 42 Bergleute sterben sofort, Jojo wird laut Michel schwer verletzt, seine Eltern werden erniedrigend abgefertigt. Jojo erliegt schließlich seinen Brandverletzungen im Krankenhaus. Unter der Hand wird ihm vorgeworfen, bevorzugt in einem weiß-bezogenen Krankenhausbett gestorben zu sein, während Kumpel unter Tage verbrannten. Von anderen Ehefrauen wird Jojos Gattin gedemütigt, die versuche, mit Heulen eine Witwenrente zu ergaunern. Mit größter Verbitterung muss Michel wahrhaben, dass der Name seines Bruders nicht auf den Gedenksteinen der Opfer aufgeführt wird, weil er zu spät gestorben war. Als schließlich aus Verzweiflung auch der Vater sich das Leben nimmt, hinterlässt er Michel das Vermächtnis, sich im Namen der Familie an der Zeche zu rächen.

            Michels Vertiefung in das Unglück gipfelt in der Errichtung eines Mausoleums. In einer über Jahrzehnte angemieteten Garage wird er alle verfügbaren Zeitungsartikel, Requisiten und Erinnerungsstücke sammeln. Es ist der Ort, an dem seine Trauer gebündelt und seine grenzenlose Traurigkeit beständig neu belebt wird. Es ist eine Dunkelheit, die später seine Frau als zerstörerisches Lebensmotiv entlarven wird. Es wird schließlich eine Finsternis, in der eine ganz andere Alptraumwirklichkeit Gestalt annimmt.

            Michel ist kein Gewalttäter – im Gegenteil. Der Autor zeichnet ihn als feinfühligen Charakter mit unendlicher Geduld und grenzenloser Liebe, als er seine Frau Cécile in den Krebstod begleitet. Sie gab ihm die Kraft das Jugendtrauma gerade noch zu ertragen. Als sie stirbt, ist für Michel der letzte Lebensanker losgerissen. Für ihn bleibt nur noch die Schlussrechnung zu begleichen. Chalandon zeichnet dem schauenden Leser ein groteskes Mordgemälde, in dem ein nackter, Kohle verschmierter Täter auf dem Opfer liegt. In Dravelle hatte Michel Jojos Vorarbeiter gefunden, der die tödliche Schlagwetterexplosion mit zu verantworten hatte. Dravelle wird zum Vollzug von Michels Vermächtnis. Michel mietet eine billige Absteige im Revier, verkehrt monatelang in altgedienten Bergwerksgaststätten bis er schließlich auf den invaliden Dravelle stößt. Nach mehrmaligen Besuchen zieht er dem lungenkranken Steiger die erstickende Tüte über den Kopf. Mit seiner folgenden Selbstanzeige scheinen Vergeltung und Selbstbestrafung vollzogen.

            Chalandon durchbricht an dieser Stelle den gradlinigen Handlungsstrang um einen weiteren Spannungsbogen aufzubauen. Dravelle kann wiederbelebt werden. Was folgt, ist eine überaus interessante Prozessdarstellung, weil die Tataufarbeitung einen unerwarteten Verlauf nimmt. Justiz und Presseöffentlichkeit reagieren mit angedeutetem Verständnis, sind Tod von Bruder und Vater doch ursächlich verbunden mit kapitalistischer Ausbeutung. Der Mordversuch erscheint damit als erklärbare Verzweiflungstat eines hochgradig traumatisierten Jugendlichen, der aus einer 40jährigen inneren Inhaftierung ausbricht. Darüberhinaus bedient die Plausibilität politische und publizistische Grundströmungen der seit dem Bergwerksunglück empörten Öffentlichkeit.

So berechtigt die Verurteilung der mörderischen Ausbeutung unter Tage ist, so entpuppt sich der Schlagwettertod als Lüge. Michels lebenslanges Passwort ist gefälscht. Tatsächlich trägt Michel selbst die Verantwortung als er Jojo im Laufe eines Mopedunfalls am Tag davor in den Tod lenkt. Als sein Vater ein Jahr darauf Selbstmord begeht, hinterlässt er Michel anders als von ihm berichtet eine Nachricht, die jedoch kein Vermächtnis ist, sondern eine belastende Erklärung: „Ich hatte zwei Söhne. Einer tötete den anderen. Dann wollte ich nicht mehr leben“. Michel flüchtet in einen psychischen Ausnahmezustand, der Wahrheit und Fiktion verwischt. Eine psychische Abspaltung, deren genaue Ausformung der Autor jedoch nicht darlegt. Hat Michel tatsächlich die Realität vollständig gelöscht? Offensichtlich nicht.

Sein Versuch vierzig Jahre später den inzwischen alten invaliden Dravelle zu töten, erscheint vordergründig als Vergeltung – tatsächlich zielt er jedoch auf die eigene Verurteilung durch die Justiz. Der Mordanschlag auf Dravelle fungiert dabei als Medium. Den Grund seiner Tat wird er vor Gericht nie nennen, Entschuldigungen wird er nicht vorbringen, um stattdessen mit konsequentem Schweigen seine uneingeschränkte Bestrafung zu erreichen. Formal wird es die Verurteilung für den Mordversuch, intendiert ist die Sühne für die Familienopfer. Seine Anwältin, der er ebenso die Verteidigung seiner Tat untersagt, macht ihm schließlich deutlich, dass die seelische Bewältigung nur mit einer Aussprache gelingen wird. So schließt das letzte Kapitel mit einem Traum, in dem Michel sich seiner über alles geliebten Frau Cécile offenbart ohne ihre Liebe zu verlieren. Er hatte sie mit der unwahren Geschichte stets im Ungewissen gelassen. Chalandon ist vor dem Hintergrund moralischer Verantwortung nicht nur ein bemerkenswerter Plot gelungen. Im Duktus bleibt der Autor überzeugend bei der detailreichen Ausleuchtung des Bergbaus und Gerichtsalltags oder den Charakterdarstellungen von Michel, der Cécile-ähnlichen Anwältin, den Gerichtspsychologen bis hin zum argumentationsstarken Staatsanwalt. Auch wenn einige Momente plötzlich schwülstig aufleuchten wie der sühnelastige Vergebungsmodus von Dravelle, so bleibt das Werk dennoch sehr lesenswert.

„Ich war an Josephs Tod verwelkt. Meine Jugend war alt geworden.“

Note: 2+ (ur)

 

<< Dieses Meisterwerk habe ich nicht verschlungen, es hat mich verschlungen!  Man will es nicht aus der Hand legen. Die Unter – und Oberwelt der Bergleute im nordfranzösischen Kohlerevier wird so eindringlich geschildert, dass einem die Atmosphäre unter Tage buchstäblich unter die Haut kriecht. Ein großes Bergwerkunglück, bei dem 1974 tatsächlich 42 Bergleute ums Leben kamen, steht zwar im Zentrum des Romans, aber noch stärker ist die psychologisch äußerst spannende und von Chalandon sehr klug erzählte Frage um Schuld und Verdrängung und Abspaltung eines Traumas.

Note: 1+ (ün) >>

 

<< Tage danach, immer noch unschlüssig, hin-und hergerissen. Zweifellos ein beeindruckendes Buch: die dramatische Schilderung der üblen Arbeitsbedingungen unter Tage, das Leben und die Rituale im Gefängnis, die durchkomponierte und spannende Gerichtsverhandlung.
Der ergreifende Tod Céciles im Morgengrauen. Das misslungene Volkstribunal der aus Paris angereisten maoistischen Studenten. Großartig geschildert. Aber wie wird das alles zusammengehalten? Nur mit Mühe und wenig überzeugend.

Da gibt es einen (gefälschten?) väterlichen Brief an den jüngeren Sohn, sich an der Grube für den Tod des älteren Sohnes zu rächen:“Räche uns an der Zeche!“. (S.78) Derartiges übersteigt mehrfach auch eine gut entwickelte Vorstellungskraft.. Ein Vater erteilt einen, sagen wir mal, alttestamentarischen Racheauftrag. Entfernt Vergleichbares kenne ich nur von sogenannten Ehrenmorden, wo der jüngste Sohn den väterlichen Mordbefehl ausführt. Schlimmer noch und unwahrscheinlicher , der väterliche Brief mit der Schuldzuweisung für den Tod des älteren Bruders:“Ich hatte zwei Söhne. Einer hat den anderen getötet. Dann wollte ich nicht mehr leben.“ (S.289) Und die dringende Bitte der Mutter an den Sohn:“Zeuge nie ein Kind, Michel! Das tut einfach zu weh.“ Was sind das für Elternwünsche? Was für eine Familie. Vielleicht hätte eine Familienaufstellung helfen können.

Michel Flavent vor Gericht. Meistens schweigt er, obwohl hier ja eine Tribüne für die berechtigte Kritik am Ausbeutersystem wäre. Verdrängung geht immer. Aber kann man einen Mopedunfall mit Todesfolge völlig vergessen, verdrängen? Der zweite große Block, die Verhöre, die Gerichtsverhandlung, ist wird von zahlreichen Wiederholungen geprägt. Ein Angeklagter, der seine Verteidigerin darin hindert, für ihn zu plädieren?  Die Krönung: Michel Flavent, ein Borderliner, der Lucien Dravelle töten will um für den Mopedunfall mit Todesfolge bestraft zu werden. Krimi?
Psycho total: der halb totgeschlagene Lucien Dravelle, den das an ihm verübte Verbrechen erlöst hat, weil er weiß, dass seine Nachlässigkeit die Grubenkatastrophe verursacht hat.

Ein anspruchsvoller Plot, an dem sich der Autor, schwäbisch gesagt, verlupft. Dabei ist Chalandon zweifellos ein herausragender Journalist und Rechercheur. Aber seine literarischen Qualitäten sehe ich etwas kritischer als viele lobende Literaturexperten von Paris bis Tübingen. Auch das Literarische ZDF-Quartett applaudierte mit 4:0 Stimmen.

Ein Buch, das 42 verunglückten Bergleuten ein Denkmal setzt, ist im Grunde unangreifbar. Und zweifellos war und ist dieser Roman ein Trost für die leidgeprüften Familien der Toten. Und so gesehen ist er verdienstvoll.  Note. 3+ ( ax) <<

Die Pest – Albert Camus

rororo 92. Auflage 2020| 350 Seiten.

>> Wahrscheinlich hätte unser Quartett, das nicht so sehr auf Oldies steht,  dieses Buch nie gelesen, ja wenn nicht…

Aus den bekannten Gründen erlebt der Roman derzeit eine Renaissance. Und es finden sich überraschend viele Parallelen zur aktuellen Pandemie. Ignorieren und Verdrängen, Solidarität, aber auch Egoismus, es scheint Kontinuitäten zu geben. Das gilt auch für Medien und Behörden. Ebenso für die Feste hinterher, die hierzulande vielleicht schon zu früh beginnen. Staatliche Konjunkturprogramme erwähnt der Autor nicht. Eindrucksvoll schildert Camus das Wüten der Pest, das Sterben der Menschen, ihre Verzweiflung. Der Arzt Bernard Rieux kämpft und kämpft gegen die Seuche, wird zum Helden und bleibt dabei trotzdem menschlich.

Gottesmann Paneloux stellt in seiner ersten Predigt selbstsicher die Epidemie als berechtigte göttliche Strafe für die Sünden der Menschen dar. Später erlebt er die Agonie eines Kindes. „Mein Gott, rette dieses Kind“ betet er und bleibt unerhört. Seine Hilflosigkeit kleidet er in den Satz “Aber vielleicht müssen wir lieben, was wir nicht verstehen.“ Rieux antwortet ihm, dass er eine andere Vorstellung von der Liebe habe und er sich weigere „eine Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert“ würden. Später schließt sich der Priester einer Helfergruppe an, die Rieux in seinem Kampf unterstützt.

Diese Gruppe wird von Tarrou ins Leben gerufen. Er und Rieux werden Freunde. Ihre Gespräche, eher Monologe mit philosophischem Tiefstgang, erinnern manchmal, sorry, an den kleinen Prinzen, wenn er mit dem Fuchs spricht. Der städtische Angestellte Grand von beispielhafter Pflichterfüllung, bleibt etwas rätselhaft mit seinem Romanprojekt, dessen ersten Satz er immer wieder korrigiert, verbessert. Seine Schreibblockade wird manchmal fast zum running gag.

Die Bekehrung des in Oran gestrandeten Journalisten Rambert vom Egoisten zum Altruisten überraschte mich. Die Deutung des Romans als eine Allegorie auf die deutsche Besatzung  oder das Böse an sich scheint mir nicht zwingend zu sein. Warum Camus sich für eine relativ komplizierte Erzählstruktur entschieden hat (Rieux als Erzähler, Tarrous Tagebuch als zusätzliche Quelle) bleibt für mich unklar.

Ist „Die Pest“ ein Männerbuch? Frauen existieren nur als Mütter und Geliebte.

Mit „La Peste“ ist Albert Camus ein zeitloses Werk gelungen. Als ich im Frühjahr 1971 an seinem bescheidenen Grab in Lourmarin stand, wollte ich den Roman lesen. Leider hat es nun doch fast 50 Jahre gedauert.  Note: 1/2 (ax) <<

 

>> Meine Taschenbuchausgabe stammt aus den späten 60er Jahren und die spärlichen Randnotizen zeigen, mein April 2020 hat die Lektüre von Camus „Die Pest“ völlig verändert. Die Dimension der Apokalypse,  sie ist unvergleichlich und doch zeigt das in die 40er Jahre verlegte Geschehen im nordafrikanische Oran Muster und Abläufe, die erstaunlich gegenwärtig sind. Ist es nur einfaches Fieber oder doch schon mehr, gar die Pest, wie lange kann man verharmlosen, gar verleugnen und vertuschen bis es zum radikalen „Lockdown“, der Schließung der Stadttore kommt? Die Stunde der Präfektur und Verwaltung unterstützt durch ärztliche Expertise, Serum und Impfung wirkungslos, Spitäler im Krisenmodus, Quarantäne, Pestkurven, Statistiken (zunächst täglich, dann wöchentlich!), Expertenstreit, die erbarmungslose „Diktatur der Realität“, von der Einzelbestattung ohne Trauergemeinde zum Massengrab, Todeskämpfe, Besuchsverbote in Krankenhäusern, fehlendes Material und Personal, Sanitätshilfstruppen, ein Stadion als Absonderungslager, Isolation, Vereinsamung, Wirksamkeit von Gazemasken über Mund- und Nase, ökonomische Kollateralschäden, Zusammenbruch des Handels  (ersetzt durch „Schleichhandel“), Ende des Fremdenverkehrs, steigende Arbeitslosigkeit – ein Rest von Begegnung bleibt: Cafes und Restaurants geöffnet, keine Abstandregel. Dann Abflauen der Pest, fallende Statistiken, Lockerungen in  Zweiwochenfristen bei gleichzeitiger Warnung vor Aufflammen,  Öffnung der Tore, fahrende Züge, geöffnete Bahnhöfe, Neubeginn, Wiedersehen aber auch Verlusterfahrung. Was wird sich ändern, folgt der Zeit des Leidens die Zeit des Vergessens, was bleibt im kollektiven Gedächtnis (auch heute?), wie lange halten Lustbarkeiten und Fröhlichkeit?

Was in Oran „dieser frohen Menge unbekannt war“ dessen ist sich Dr. Rieux, der sich am Romanende nicht nur als Chronist sondern auch als belesen belehrender Mahner zu erkennen gibt, gewiss: Die Pest kommt wieder. Trotz dieser bedrückenden Botschaft bleibt der Erzähler nicht ohne Zuversicht: „Was man in den Heimsuchungen lernen kann“ bilanziert er zum Schluss „nämlich daß an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten ist“. Nicht nur die zentralen Figuren des Romans, Dr.Bernard Rieux, Jean Tarrou, Raymond Rambert, Josef Grand, Herr Gottard stehen für dieses Menschenbild Camus. Am liebevollsten findet diese Bewunderung Ausdruck in der Person des nur auf den ersten Blick etwas verschrobenen kleinen Angestellten Josef Grand. Allein seine Geschichte: glänzend!

„Die Pest“ trägt im Gegensatz zu den Schergen des Faschismus und seinen Nachfolgern kein Gesicht, Allegorien können auch vernebeln. Note: 1 ( ai) <<

 

 

>> Im Jahr Corona globalis liest sich Camus´ Roman von 1947 als visionäres Werk, das den pandemischen Ausnahmezustand des Jahres 2020 in zahlreichen Einzelheiten vorwegzunehmen scheint. Abgesehen davon, dass vermutlich schon vor Camus´ Zeiten Formen des gesellschaftlichen wie des persönlichen Krisenmanagements ähnlich den heutigen etabliert waren, darf auch spekuliert werden, ob Camus´ Pestbazillus nicht vor allem eine Allegorie für das infektiös Böse im Menschen darstellt. Camus platziert das Geschehen in die gesichtslose, algerische Küstenstadt Oran, im Jahr 194… Das Drama beginnt mit einem bizarren, massenhaften Rattensterben, dem bald erste Menschen folgen. Nach anfänglichem Ignorieren, verkünden schließlich die Behörden eine Pestepidemie, mit weitreichenden Einschränkungen. Über Monate darf niemand die militärisch abgeriegelte Stadt verlassen. Erkrankte versterben meist innerhalb weniger Tage. Kontaktpersonen werden in Quarantänestationen zwangseingewiesen. Haustiere werden exekutiert, Lebensmittel und Strom rationiert. Versorgungs- und Dienstleistungen brechen zusammen. Weil die Infektionszahlen stetig in die Höhe schnellen, werden fortlaufend neue Auffanglager, leistungsfähigere Leichentransporte, Friedhofserweiterungen und Beerdigungsbeschleunigungen eingeführt.

In diesem Zustand des Grauens, verdrängt das Entsetzen die Zeiten. Erst weicht der Blick für die Zukunft, die nie mehr zurückkehren wird. Das Wissen und Erwarten, wofür gelebt wurde, versiegt in der Hoffnungslosigkeit. Dann verblassen die Erinnerungen – die Vergangenheit entgleitet. Die nackte Gegenwart wird schließlich zunehmend gegenstandslos. Eine kurze Evolution der Gefühle macht sich breit. Ungläubigkeit, dann Ärger, Widerstand, Furcht und Verzweiflung und letztlich Lethargie. Die individuellen Schicksale zerrinnen im kollektiven Niedergang. Camus stellt diesen Reaktionen der Stadtgesellschaft eine kleine Gruppe von Männern gegenüber, die sich mit unterschiedlichen Mitteln und Überzeugungen der Epidemie entgegenstellen. Die zentrale Figur ist Dr. Rieux, der als Arzt und Agnostiker bis zur Erschöpfung Hilfe leistet – selbst im Wissen der Ausweglosigkeit. Ihm gegenüber steht Pater Paneloux, der die Pest für eine gerechte Strafe Gottes hält, der man nicht mit medizinischen Mitteln sondern religiöser Inbrust begegnen sollte. Der zum Freund reifende Partner im täglichen Sanitätskampf wird Tarrou. Tarrou ist Moralist und Chronist von Belanglosigkeiten, nachdem er von den großen Gesellschaftsentwürfen zutiefst enttäuscht wurde. Unterstützt werden sie durch Rambert, der als Journalist unglücklicherweise in der Stadt hängen geblieben ist. Auch der blassgrau wirkende Amtsassistent Grand unterstützt sie durch beflissene Schreibtischarbeiten. Interessiert, aber ohne erkennbaren Einsatz werden sie zudem begleitet von dem Rentner Cottard. Er wird von der Seuche vorübergehend profitieren, da die Polizei lange keine Zeit findet, ihn – den Straftäter – dingfest zu machen. Warum diese Figuren? Dass sie im allegorischen Szenenbild des Bösen die Guten, die Mitläufer, die Verblendeten, die Träumer und die Aufrichtigen verkörpern, darf vermutet werden. Bemerkenswert bleibt, dass Frauen in diesem Plot keine größere Rolle zufällt. Am Ende des Romans wird der Leser erfahren, dass das Gelesene die Aufzeichnungen Rieuxs sind, der sich lange Zeit nicht zu erkennen gibt, um den Anschein der Objektivität zu wahren. Eine kleine erzähltechnische Raffinesse, zumal suggeriert wird, dass über dem Protokollanten doch noch ein allwissender Über-Erzähler steht.

Die Seuchenbakterien wüten erbarmungslos und in atemberaubendem Tempo. Von Flöhen und Mitmenschen übertragen, befallen sie Organe und verursachen steinharte Schwellungen der Lymphknoten, die als schwarze Beulen auf der Haut erscheinen, verbunden mit unerträglichen Schmerzen. Wenn die Lunge befallen wird, tritt der stinkende Tod häufig schon nach zwei Tagen ein. Therapiebemühungen bleiben erfolglos. Dr. Rieux kann nur den Niedergang verwalten, muss mit Polizeigewalt Infizierte einweisen, die ihn als Richter und die Einweisung als Todesurteil empfinden.

Ein zentraler Begriff, den Camus schon früh in das Pest-Szenario einführt, ist der des „Exils“. Ein Zustand des Überlebens, der von innerer Heimatlosigkeit geprägt wird. Eine Heimatlosigkeit, die sich im Romankontext nicht als geographischer, sondern als emotionaler Verlust darstellt. Ein Verlust, dem sein größter Schmerz durch das Getrenntsein von vertrauten Menschen eingebrannt ist – „zusammen mit der Angst das schlimmste Leid dieser langen Zeit des Exils“ (S. 77). Eine beißende Leere, die für die gerade zu Ende gegangenen Weltkriegsjahre des Autors prägend war. Am Ende des Romans ist es gerade die Auflösung des Exils, das Wiedererlangen der sozialen Verbundenheit, das reale und psychische Umarmen der lange Getrennten, welches eine überwältigende Lebensfreude entfacht. „Sie wussten jetzt, dass es, wenn überhaupt, etwas gibt, was man immer ersehnen und manchmal bekommen kann, nämlich menschliche Zärtlichkeit“ (S. 341). Als tragischen Held dieser Gefühle gestaltet Camus den verschroben wirkenden Grand. Während sich ringsherum die Toten häufen bastelt er mit grotesk wirkender Eifrigkeit in Sisyphos-artiger Endlosigkeit am ersten Satz eines literarischen Epos zu Ehren seiner Angebeteten, die ihn nicht erhören will.

Eine Einordnung des Romans in einen Erkenntnis- und Moralkontext erlaubt vor allem der Gedankenaustausch zwischen Tarrou und Rieux. Während Rieux einem altruistischen Reflex folgt – ihm ist nur Gutes möglich, selbst wenn es nicht gewürdigt wird – ist Tarrous Einsatz das Ergebnis eines schmerzlichen Entwicklungsprozesses. In einem Richterhaushalt groß geworden, schockiert ihn die Anmaßung, dass über Leben und Tod geurteilt wird. Orientierung suchend vagabundiert er anfänglich durch das Leben, um sich in der Folge militanten Befreiungsbewegungen anzuschließen. Getragen wird seine Unruhe von der Hoffnung, nicht nur Ideale auszumachen, sondern deren nachhaltige Gültigkeit zu erzwingen. Der Umstand, dass programmatische Gewalt auch hier zur Durchsetzung zwingend scheint, erschüttert seine Zuversicht. Das Böse tun, um das Gute zu wollen, bleibt ein inakzeptables Paradoxon. In einem Punkt nähert sich hier die pragmatische Einsicht des Atheisten der des Klerus an. Sowohl Tarrou wie auch Pater Paneloux bewerten die Pest als Zäsur des menschlichen Daseins, die in ihrer erbarmungslosen Grausamkeit den Menschen zum Einhalt und zur Einsicht zwingt. Und damit zur Umkehr zu einem gefälligeren, humanistischen Leben. In diesem Zusammenhang entpuppt sich die Pest in der Tat als Allegorie des Bösen: das vielleicht prinzipiell Böse im Menschen, vielleicht das politisch Böse in Form des Totalitarismus wie der gerade überwundene Faschismus. Die literarische Pest ist vom Autor mit einem dialektischen Doppelcharakter angelegt: sie ist das Subjekt, das den Niedergang bewirkt. Sie könnte aber auch der reinigende Prozess werden, der das Diabolische überwinden hilft – wenn denn der Mensch die Zeichen annimmt. Ob die Allegorie und der offensichtliche Doppelcharakter glücklich gewählt sind, darf diskutiert werden.

Vermutlich spiegeln Tarrou und Rieux widerstreitende Züge Camus´. Hoffnungslos, aber dennoch  nach Erkenntnis strebend in der Person von Tarrou, und demütig akzeptierend und empathisch bei Rieux. Verbindend wohnt beiden der humanistische Glaube an den Menschen inne, auch wenn der Mensch ewig vom moralischen Abgrund fasziniert bleibt, und der Pestbazillus nie sterben wird.  Note: 2 – ( ur) >>

 

<< In Zeiten von Corona liest sich die Pest von A. Camus als frühe Vision, wie sich das Leben in einer Pandemie anfühlen kann. Da ist die Rede von Schlangen vor den Geschäften, von Massengräbern, von Fahndungstrupps, von Lagern im Fußballstadion, von Isolation, auch davon, ob man nicht „eine Lockerung ins Auge fassen“ könne. Natürlich bildet sich nicht alles 1:1 ab, aber die Parallelen sind doch frappierend. Im Zentrum steht aber natürlich die Frage, wie sich Menschen in einer solchen Ausnahmesituation verhalten und wie sich das ethische Koordinatensystem verschieben kann. „Er war nicht da um Leben zu retten, er war da, um Isolation anzuordnen“.
Ein wiederentdeckter, sehr lesenswerter Klassiker.  Note: 1/2 ( ün) <<

Politischer Islam – Susanne Schröter

Gütersloher Verlagshaus 2019 | 382 S.

<< Eine  überaus verdienstvolle, umfangreiche Bestandsaufnahme über den politischen Islam , seine historischen Wurzeln und die wachsende Bedeutung, die er offensichtlich sowohl in den muslimisch geprägten Ländern,  als auch in Europa und speziell in Deutschlad erhält. Ein Kompendium des Versagens der Mehrheitsgesellschaft, aber vor allem linker Milieus und der Kirchen,  die den Angriff auf demokratische und freiheitliche Errungenschaften der Moderne durch Islamismus , Salafismus und Moscheeprediger negieren, im Namen einer vermeintlichen Toleranz.  Gliederung und Systematik sehr gut.  Durch die  Fülle der belegten Beispiele (200 Literaturhinweise, 500 Internetquellen) stellt sich allerdings zuweilen eine gewisse Erschöpfung beim Lesen ein. Note: 2 ( ün)   >>

 

<< Das ist ein enorm faktenreiches Sachbuch, das zuweilen den Blick aufs Ganze durchs Verharren im Kleinklein verliert. Neben vielen wissenschaftlichen Quellen  facebook-Einträge eines 16Jährigen, DITIB-homepages aus Ichenhausen u.a., Werbevideo eines Pizzaboten aus Dinslaken-Ost – das mag Belegfunktion haben sofern es repräsentativ ist, aber es zeigt letzten Endes doch nur das, was wir schon wissen: Der politische Islam ist demokratiefeindlich, intolerant, frauenfeindlich, antisemitisch, homophob. Zurecht stellt sich dabei die Frage und sie wird in diesem Sachbuch  nicht beantwortet. Warum bleibt der demokratische Rechtsstaat vorwiegend in der Rolle des Zuschauers? Oder um mit Susanne Schröter zu fragen: Warum setzen sich die Zivilgesellschaften diesem Stresstest aus? Das setzt allerdings zunächst die Antwort auf die  Schlüsselfrage voraus: Verträgt sich die Weltreligion Islam mit der säkularisierten Moderne und der Gültigkeit universeller Menschenrechte? Wenn ja, dann ist es höchste Zeit, dass vor allem deren Repräsentanten dem Missbrauch   ihrer Religion klare Grenzen setzen. Vielleicht könnte unser LQ Vertreter und Islambeauftragter anregen das Buch nicht nur in der Stadtbibliothek sondern auch in den Moscheegemeinden zur Lektüre auszulegen.  Note: 3 ( ai) >>

 

<< Vor uns liegt eine populärwissenschaftliche quasi Habilitationsschrift (die keine ist), in der das Innenleben des islamischen Fundamentalismus in Deutschland ausgeleuchtet wird. In 10 klar strukturierten Kapiteln vertieft die Autorin und Professorin geschichtliche Ursprünge des Islam und seinen globalen Siegeszug, die Manifestierung in Deutschland, die speziellen türkischen, ägyptischen und iranischen Einflüsse sowie die Unterwerfung der Frauen, Antisemitismus und die Glorifizierung gerichteter Gewalt. In der deutschen Szene identifiziert sie Schulen als eine der Hauptproblemzonen. Das letzte Kapitel widmet sich Konfliktlinien und Lösungskonzepten im bundesrepublikanischen Politikalltag.

Schröter definiert den politischen Islam als Gegenentwurf zur säkularen Moderne und den Freiheitsrechten des Individuums, wobei das Dasein in halal (gut) und haram (böse) zerfällt. Nach den Anfängen im 8. Jahrhundert führte 1258 die desaströse Eroberung Bagdads als entwickelte Megametropole durch die Mongolen zu einer historischen Rückbesinnung auf eine idealisierte Vergangenheit wie sie im Koran beschrieben ist. Das Aufflammen extremer Strömungen im Sinne wörtlicher Auslegungen ist auch anderen Krisen muslimischer Gemeinschaften wie in Ägypten gefolgt. Die dabei entstandene Muslimbrüderschaft darf heute als mächtigste islamistische Vereinigung der Gegenwart angesehen werden. Bemerkenswert ist, dass die Muslimbrüderschaft ihre Urheberschaft bei zahlreichen religiösen und sozialen Aktivitäten weitgehend verheimlicht.

Den bedeutendsten Entwicklungsschub in der Gegenwart erlebte der politische Islam 1979 mit dem Zusammenbruch des Schah Regimes im Iran und der Errichtung der islamistischen Diktatur Ajatollah Khomeinis. Die Theokratie unterstützt durch den Terror der Revolutionsgarden führte u.a. zu einer Säuberung von Ungläubigen, streng schiitischer Interpretation des gesellschaftlichen und familiären Alltags mit einer weitreichenden Entrechtung der Frauen und Abschaffung der Koeduktion. Die iranische Revolution bewirkte einen enormen Auftrieb für die Neuausrichtung des Islam in vielen Staaten und ist seitdem wie in Malaysia und Indonesien mit einer zunehmenden Politisierung der Staatsreligionen verbunden. Befördert wird diese Entwicklung durch umfängliche Bildungskooperationen im Rahmen erzkonservativer Programme Saudi-Arabiens. Die türkische Abkehr unter Präsident Erdogan von säkularen Prinzipien Atatürks hin zu neo-osmanischen Machtmodellen islamischer Prägung ist eine weitere bis nach Deutschland ausstrahlende Entwicklung.

Schröter macht vier Schwerpunktbereiche islamistischer Praxis aus: den der Politik, des Rechts, der Geschlechtsverhältnisse und der Gewalt. Im Bereich der Politik gab es immer wieder pan-islamische Bestrebungen, jedoch scheiterten Kalifat-Versuche stets an der Heterogenität der zahlreichen islamischen Gruppierungen. Bedeutender erscheint heute der juristische Bereich, welcher der Islamisierung der Politik dient. Ein wirkungsvolles Instrument der Disziplinierung ist u.a. die Blasphemiegesetzgebung. Im islamischen Alltag nach innen aber auch zur Abgrenzung und zum Angriff nach außen dient die patriarchalische Genderordnung, die sich nicht nur symbolisch in der Häufigkeit verschleierter Frauen wiederspiegelt. Vor Gericht zählt die männliche Aussage doppelt, die weibliche einfach. Nur der Ehemann kann die Ehefrau durch eine schlichte Formelwiederholung verstoßen. Vergewaltigungsanklagen von Frauen müssen von vier Männern bezeugt werden. Gelingt der Frau der vierfache Zeugennachweis nicht, wird sie selbst wegen außerehelichem Geschlechtsverkehr verurteilt. Im letzten Bereich – der Gewalt – wird ein probates Aktionsmuster ausgemacht. Die Durchsetzung des politischen Islam wird meist durch gewalttätige Akteure flankiert.

Die folgenden Kapitel befassen sich mit bundesrepublikanischen Zuständen. Bemerkenswert ist hierbei auch die Rezeption innerhalb der an sich säkularen Linken, die sich teilweise laut für islamische Belange stark macht. Vermutet wird, dass dies auf Grund geschickter Kodierung und einer neuen Betonung von en vogue-Themen gelingt. Statt „Islamischer Staat“ heißt es z.B. „Welt, in der Gerechtigkeit herrscht“. Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit würden im besonderen Maß im Islam umgesetzt werden.

Die größte muslimische Ethnie in Deutschland stellen Türken dar. Deren religiöse Beeinflussung in der BRD erfolgt vor allem durch die regierungskontrollierte türkische DITIB mit eigenen Imamen in ca. 1.000 Moscheen. Hierbei geht es nicht nur um Religionsausübung, sondern auch um politische Einflussnahme. So nutzte Präsident Erdogan den Rahmen um gegen eine Assimilierung von Deutschtürken in Deutschland aufzurufen. Konkurrierend zu DITIB tritt der noch radikalere Verband Milli Görüs auf, ehemals geführt von dem in die Türkei abgeschobenen Kölner Prediger Kaplan. Ein Teil ihrer Rechtfertigungsstrategie ist der empörte Vorwurf der Islamfeindlichkeit deutscher Stellen, wobei das Opfernarrativ besonders gepflegt und in Konkurrenz zum jüdischen Narrativ gesetzt wird. Ein weiterer islamistischer Export stammt aus dem Iran, der als Hauptaktionszentrum in Berlin das Al-Mustafa Institut betreibt.

Der vierte Bereich „Gewalt“ macht in den westlichen Ländern eine Evolution durch. Früher erfolgten in komplizierten Choreographien mit zahlreichen ausgebildeten Tätern spektakuläre Großangriffe auf das World Trade Center, die Madrider und Londoner U-Bahnen oder Pariser Freizeitstätten. Gegenwärtig töten selbstständige Einzeltäter mit einfachsten Mitteln zufällig ausgewählte Mitmenschen um eine Destabilisierung in der ungläubigen Gesellschaft zu erzeugen. Ausgerufen als Krieg im Namen des Islam wird es gleichzeitig den friedliebenden Muslimen schwerer in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit das Bild des sanftmütigen Islam aufrechtzuerhalten. Eine besondere Ausprägung zeigt der Salafismus, der als Wahhabismus light eine radikale Jugendbewegung darstellt. Gewaltbereitschaft bis hin zur Teilnahme am Krieg des Islamischen Staates finden sich hier ebenso, wie eine ausgeprägte Konfrontationsbereitschaft junger Frauen, die ihre strikte Unterordnung als Selbstverwirklichung umdeuten. Die Autorin vermutet, dass die Hinwendung zu äußerst schlichten Weltbildern die Antwort auf die Zumutungen der komplexen Moderne ist. Eine Moderne, deren Komplexität zu stark verunsichert. „Die massenhafte Begeisterung für Gewalt im Namen einer Religion gibt es gegenwärtig ausschließlich im Islam“ (S. 321), schreibt Schröter.

Die Ausprägungen des Islam in der Bundesrepublik sind vielfältig, scheinen der Autorin aber besonders in Schulen problematisch. Muslimische Mehrheiten würden nicht-muslimische Minderheiten tyrannisieren, Kritik würde von den jugendlichen Tätern und ihren Eltern als islamophob zurückgewiesen und Bremer und Berliner Schulbehörden würden letztlich sogar besorgte Lehrer als kulturinkompetent rügen. Konfliktinstrumente sind neben Mobbing und Gewaltanwendung auch das Kopftuch, Beten, Fasten und die deklarierte Unzumutbarkeit christlicher Kulturrituale. In der BRD besuchen ca.60% der muslimischen Kinder zusätzlich eine Koranschule. Für die junge „Generation Allah“ garantiert der Islam einen normativen Halt in der säkularisierten Bundesrepublik.

Am Ende benennt Schröter Leitlinien für eine innerdeutsche Islampolitik. Zuoberst sei die ausländische Einflussnahme auf deutsche Islamverbände vor allem durch die Bestellung von Imamen aufzubrechen. Dazu müssten verstärkt Imame an deutschen Universitäten ausgebildet werden. Durch einen staatlich kontrollierten Schulunterricht, sollte der Einfluss der Koranschulen verringert werden. Ferner müsste die finanzielle Abhängigkeit der Verbände vom Ausland unterbunden werden, indem z.B. eine Moscheesteuer entsprechend der Kirchensteuer erhoben wird. Gängige deutsche Schulprinzipien wie Koeduktion sowie Sport- und Schwimmunterricht sollten allgemein verbindlich sein.

Schröter hat ein kenntnisreiches Werk zusammengetragen, das mit Fleiß und Akribie den islamischen Körper seziert. Die Darstellung verzichtet weitgehend auf tendenziöse Interpretationen, auch wenn die Kritik am politischen Islam umfassend ist. Ein Teil der dargestellten Fakten sind inzwischen Allgemeingut. Die Detailversessenheit mit über 500 Literaturstellen dürfte nur für semiprofessionelle Islamkenner von Interesse sein und fordert vom Laien ein nicht unerhebliches Durchhaltevermögen bei der Lektüre.

Note: 3 – (ur) >>

 

<< Susanne Schröter bedauert das Versagen der Linken und der neuen einäugigen Frauenbewegung, die die Risiken eines rigiden und agressiven politischen Islamismus nicht zu erkennen vermögen. Die Autorin belegt sorgfältig all das, was sie behauptet. Das ist ohne Kleinklein und viele Belege schwer möglich. Erfreulicherweise klammert sie den oft tabuisierten muslimischen Antisemitismus nicht aus. Es bleibt zu hoffen, dass am alljährlich in der muslimischen Welt gefeierten Qudsday keine israelischen Fahnen mehr verbrannt werden, wie zuletzt auch in Berlin.

Gelegentlich wird Schröter vorgeworfen, sie beschreibe nur ohne Ursachen zu nennen. Dem ist nicht so. Sie benennt in seltener Offenheit unter anderem die Ursachen, an denen Integration scheitert. Immer wieder gibt es auch kleine Hoffnungsschimmer. So hat kürzlich das hessische Bildungministerium die Zusammenarbeit mit DITIB beendet.

Ich bewundere die Courage der Autorin, die an der Frankfurter Universität keinen leichten Stand hat. Ich hoffe, dass sie im Herbst wieder nach Tübingen kommen kann.

Das Buch ist schlüssig aufgebaut und sehr hilfreich für alle Menschen, die versuchen , die allerorts zu beobachtende Beeinflussung des öffentlichen Lebens durch islamistische Gruppen zu benennen, zu kritisieren oder zurückzuweisen. Das ist oft nicht leicht, da man von Werterelativisten und Tolleranten schnell in eine Ecke gestellt wird, in die man nicht gehört. Islamophobie (Phobie = Krankheit) oder antimuslimischer Rassismus sind dabei die am häufigsten verwendeten rhetorischen Keulen. Was hat Rassismus mit Religion zu tun? Die bundesrepublikanische Mehrheitsgesellschaft sollte weniger wegschauen und sich nicht wegducken.

Ein Buch, dem viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind.  Note : 1/2 (ax) <<

Mittagsstunde – Dörte Hansen

Penguin Verlag 2018 | 320 S.

>> Ohne Ingwer Feddersens Sabbatical wäre Brinkebüll in Vergessenheit geraten. Lehrer Steensen und dem namenlosen Landvermesser sei Dank. Dörte Hansen gelingt mit ihren großartigen Figuren ein Meisterwerk eines sich auflösenden dörflichen Mikrokosmos. Kein Satz zu viel, Lebensgeschichten auf den Punkt gebracht. „Der erste Akt vorbei, die Plätze alle schon besetzt“ , das genügt. Die Rückkehr aus der gleichfalls treffend beschriebenen Kieler Gegenwelt ist letzten Endes eine Liebeserklärung an einen Generationenabschied, den man einfühlsamer und liebevoller nicht beschreiben kann. De Ole und Ella haben ihn verdient. Note: 1 ( ai) <<

>>Die Saaleeiszeit hatte kein Nachsehen mit Blick auf das nordfriesische Brinkebüll. Auf unfruchtbarer Geest platziert, den polar-verdächtigen Nordseewinden ausgesetzt und seit Menschengedenken von Weltströmungen abgeschnitten, konnte sich hier nur ein stures Geschlecht behaupten. Eben Brinkebüller. Doch am Ende des zweiten Jahrtausends werden die Sommer wärmer, Gemüter tauen auf, während andere verdorren. Mittagsstunde ist der Wendepunkt, an dem manche Familiengeschichte einen unerwarteten Verlauf nimmt, persönliche Höhepunkte überschritten werden, und soziale Gefüge dem Abend entgegenreifen. Mittagsstunde ist die Anamnese eines Soziotops, einer Dorfgemeinschaft, in der physiologische Phänomene und pathophysiologische Symptome um das Normative ringen. Irgendwie scheint irgendwo alles irgendwann einmal normal. Auch wenn es abwegig anmutet. Mittagsstunde ist aber vor allem die Zeit von Ingwer Feddersen, universitärer Frühgeschichtler, Allzeitachtundsechziger, Erbschaftsverweigerer und Heimatgebundener, dem wir durch die erdigen Gassen folgen. Mal durch sein Glas, mal am Kaleidoskop vorbei schauend auf die Urgewächse seiner Familie und die knorrige Nachbarschaft. Mittagsstunde behandelt den Wandel, Verluste und das Ende, Aufbrüche, Versuche und Durchbrüche. Und dies erstaunlich sympathisch, einfühlsam und unaufgeregt, bizarr, bunt und unterhaltend. Nicht ohne der Tragik gebührenden Respekt zu zollen. Die Eiszeit hätte es nicht anders gemacht.

Familie Feddersen betrieb seit Generationen den Gasthof: Stammtische, Psychotherapiebesinnungen, Trunkenboldpsychopathen, Jubiläumsrituale, musikalische Heiterkeiten, Unterkunft und Verpflegung. Der Saal war meist belebt, der Boden musste allmorgendlich von den gröbsten Spuren befreit werden. Es war ein gutes Zeichen. Heute kann man schon mal `ne Woche aussetzen. Jahrzehnte beanspruchte der alte Sönke Feddersen die Thekenhoheit. Seine stille Frau Ella war der verlässliche Diesel im Küchengetriebe. Sie sprach ausgesprochen wenig, was keiner merkte, weil sie aufmerksam zuhörte – man fühlte sich endlich einmal verstanden. Das Paar war schon ewig ein Paar, auch wenn die Anfänge umstritten blieben. Sie war die Schönste im Umland, und nicht nur von Westwinden umweht. Sönke war der Glückliche, musste jedoch in den Krieg. Nach seiner Rückkehr kam Tochter Marret zur Welt. Schon mit geringer Rechenerfahrung war zu erkennen: eine Geburt nach erstaunlich kurzer Schwangerschaft. In der Tat war da noch ein stiller Anderer (Lehrer Steensen). Ella war nicht untreu. Ganz im Gegenteil, sie blieb beiden Männern treu. Ein ganzes Leben lang. Sönke tröstete sich damit, dass Marret misslungen war. Und von ihm hatte sie es ja nicht. Zur Familie gehörte auch der deutlich jüngere Ingwer, für den Sönke und Ella ebenso Vadder und Mudder waren. Erst viel später sollte sich das als tragischer Irrtum herausstellen.

Tochter Marret war sonderbar. Immer wieder versank sie in einem unverstandenen Kokon. Unerreichbar, voller Nebel und mit eigenwilligen Bildern. Man verstand zwar, dass vieles unpassend war, aber man ließ sie gewähren. Man kannte ihre Rückzüge, wusste dass sie stundenlang in einem Schrank oder unter Hecken sitzen konnte. Man ertrug ihre Marotten, wenn sie von Tür zu Tür ging um den drohenden Untergang zu beschwören oder Requisiten verendeter Kleintiere für ihr ganz persönliches Heimatmuseum sammelte. Als Marret 17 war, kamen Landvermesser in die Wirtschaft. Als sie gingen wurde nicht nur die alles verändernde Flurbereinigung Gewissheit, sondern auch Marrets Schwangerschaft. Marret wusste nicht, was die Unruhe in ihrem Unterleib bedeutete, aber eine grenzenlose Furcht beschlich sie. Die Eltern waren umfassend sprachlos. Eines Morgens fand man Marret mit gebrochenen Beinen halberfroren im Schnee. Der Sprung vom Dach war missglückt. Sie lebte noch. Dann kam das Kind zur Welt, dass sie gar nicht wahrnahm. Und so wurde Sönke ein zweites Mal Vadder ohne Vater zu sein. Das uneheliche Kind seines Kuckuckskindes, welches die Scham ins Unerträgliche gesteigert hatte, wurde schlagartig seine Herzensangelegenheit als man beschloss, ihm den Namen seines Vaters zu geben: Ingwer. Er trug das Neugeborene monatelang unter dem verschwitzten Hemd auf der nackten Haut. So wurden Marret und Ingwer Geschwister. Erst Jahre später sollte Ingwer realisieren, dass seine vermeintliche Schwester seine Mutter war, und dass sein Vater unbekannt blieb. Marret lebte weiter ihre absonderliche Abgeschiedenheit. Als nach der Aufgabe des Gasthofs ihr kleiner Museumsschuppen abgerissen wurde, verlor sie ihre wahre Welt und jeden Halt. Man konnte sie in keinem Schrank mehr finden. Sie blieb verschollen. Selbst einen leblosen Frauenkörper fand man nie.

Für Ingwer blieb Marret die verschwommene, entrückte Schwester. Er dagegen überraschte mit erkennbar mehr als Bauernschläue. Dies wurde Dorfschullehrer Steensen sofort klar, als der kleine Bub, sein Enkelkind, sich für sein Steckenpferd frühgeschichtliche Bodenkunde zu interessieren begann. Studiert, promoviert, aber immer fremd geblieben im universitären Milieu, zu dem sein Geestwesen nicht so recht passen mochte. Er blieb unangepasst, wohnte seit über zwei Jahrzehnten in derselben Kieler Dreier-WG, teilte sich mit dem männlichen Mitkommunarden dieselbe weibliche Mitkommunardin und litt ordnungsgemäß an den unausgesprochenen Freiheiten.

Herrlich in Szene gesetzt von Dörte Hansen sind auch die Mitbewohner. Ragnhild Dieffenbach, emanzipiert laute Diplomarchitektin mit der Passion Sichtbeton – nicht nur grob städtebaulich, sondern auch fein prozessiert als Visitenkarte. Ihr Händedruck grenzte an Körperverletzung. Auch für den gescheiterten, aber Ich-gefestigten Studenten Claudius war alles zu klein, weshalb er immer die großen Lösungen suchte. Fenster putze er mit einer generalstabsmäßigen Vorbereitung wie Chirurgen eine Herztransplantation planen. Er machte die Gepflogenheiten seines Elternhauses zur Lebensaufgabe, gehörte fortan zu den regelmäßigen Siegern der Kieler Woche und baute Mahagoni-Yachten für den betuchten Freundeskreis. Da wirkte Ingwers ländliche Gasthaus-Prägung immer etwas arg verweht. Und dennoch mochten sie sich aufrichtig.

Als Vadder und Mudder mit dem Alter entglitten, verbrachte Ingwer ein Sabbatical-Jahr daheim. Es war ein weiterer rührender Abschnitt in der Brinkebüller Chronik. Mit unendlicher Nachsicht begleitete der inzwischen 48-Jährige die Senioren in einem neu definierten Vater-Mutter-Kind-Format. Als Erziehungsberechtigter erduldete er mit olympischer Geduld Sönkes Gutsherrengedöns ebenso wie Ellas bizarre Demenzeskapaden. Da nur Ellas Gliedmaßen, nicht aber der Kopf noch guttaten, ließ Ingwer der Motorik jeden erdenklichen Freiraum. Beim täglichen Abwaschritual schlug Ella so lange auf das angenehm warme Spülwasser ein, bis es vollständig auf dem Küchenboden verteilt war. Wie jeden Morgen nutzte Ingwer die Zeit zum Putzen, die Ella für das folgende Broteschmieren benötigte. Dies dauerte hinreichend lange, seitdem sie das Brot wegließ, die Butter direkt auf Teller oder Küchentisch auftrug und dann länger brauchte, um den Honig großflächig zu verteilen. Ingwer schätzte die ausgeglichene Stimmung dieser Stunden. Schön auch, dass das gleiche Programm am nächsten Tag erneut Freude bereitete.

Der schwächelnde Vadder Sönke beschleunigte noch einmal auf der Zielgeraden und beschloss, den 70. Hochzeitstag mit Ella überschäumend zu feiern. Monate vorher wurden Einladungen verschickt. Getränkefolge, Begleitmusik und Garderobe waren längst beschlossen, als er eine Woche vorher in seinem Sessel entschlief. Es war ein schöner Umstand. Begraben wurde er am Tag der Gnadenhochzeit.

Der Gasthof wurde Heiko Ketelsen übertragen, der einen Westernsaloon daraus machte. Er holte seine verlorene Jugend nach, die ihm sein jähzorniger Vater zerprügelt hatte. Nicht von ungefähr trug er den Spitznamen Jaulnich. Auf Jaulnich hatte auch Lehrer Steensen eingeschlagen. Er mochte keine Dummheit. Und von dieser vermutete er bei Heiko Ketelsen ein Übermaß. Bei der überaus störrischen Gönke Boysen hingegen durchschaute er schnell, dass ihre Absonderheit Ausdruck größtmöglicher Einsamkeit war. Dahinter vermutete er verschüttete Intellektualität. Entsprechend förderte er sie gegen den Widerstand der Eltern, so dass sie das erste und einzige Brinkebüller Mädchen wurde, das je studierte. Was wusste man nicht genau, aber es war irgendetwas mit –istik.

Für Ingwer Fedddersen war die Rückkehr eine Einkehr, ein letztes notwendiges Atmen sinngebender Gerüche, ein Aufnehmen erinnerungsträchtiger Geräusche, ein Beleben verschütteter Abläufe, ein Kontrastieren verschwommener Umrisse. Auch wenn die Dorfstraße schon begradigt war, und die Bäume schon gefällt waren. Das Album ist vollendet. Schönes, Beschämendes, Ungewöhnliches, Empörendes, Rührendes, Ermutigendes. Ingwer hat verstanden. Die Eiszeiten kommen und gehen. Und das ist gut so. Jetzt kann auch er gehen, angefüllt aber ohne Wehmut.

Mit beeindruckender Treffsicherheit zielt Dörte Hansen in die Weichstellen sozialer Physiognomie und legt in friesischer Nüchternheit endemische Phänotypen des Homo Geesticus frei. Dass sie dabei ohne verspielte Gefühlsromantik sondern mit trockenem Humor in schicksalhafte Seelentiefen vordringt, macht die Mittagsstunde zum Lesegenuss. Vielleicht darf das Werk auch als Hommage an ihren verstorbenen Geistesnachbarn Siegfried Lenz verstanden werden, der mit ganz ähnlichem Gestus in „Der Geist der Mirabelle“ die herrlichen Besonderheiten der Geestbewohner skizzierte. Zwar taufte Lenz seinen literarischen Ort Bollerup, all ihre Bewohner aber trugen den Namen Feddersen. Ihre Welt war nicht minder bemerkenswert wie die des Brinkebüller Bäckers, der immer nur Schwarz-, Grau und Rosinenbrot backen durfte. Nur in der Weihnachtszeit scherte er aus, wurde zum geächteten und nur von wenigen geachteten Konditor, wenn er für die Weihnachtskrippe Marzipan-Hanomags bastelte. Erst als er sich nach Neujahr wieder auf Schwarz-, Grau- und Rosinenbrot beschränkte, kam seine besorgte Frau zur Ruhe.   Note:  1 (ur) <<

 

>> Kann ein Roman über die eigenbrötlerischen Bewohner eines nordfriesischen Dorfes namens Brinkebüll, die dazu noch platt snaken, ein Erfolg werden? Kann es, wenn einem eine so großartige detailgenaue, kenntnisreiche Sprache zur Verfügung steht, wie Dörte Hansen! Mit wenigen Skizzen kann sie auch Nebenfiguren, wie etwa das wilde Kind Gönke Boysen, das zur Disziplinierung in einen Hundezwinger gesperrt wird, großartig zeichnen. Im Zentrum aber stehen Ella und Sönke Feddersen, die Tochter Marret, das rätselhafte, verdrehte Kuckuckskind, das „angeschlossen war an etwas Großes, Heimliches, von dem die anderen nichts wussten“, Ingwer Feddersen, der Sohn von Marret, der seine Mutter lange für seine Schwester und Sönke für seinen Vater hält,  der eine Schuld abzutragen hat bei Sönke und Ella. Auch Sönke meint, dass er eine Schuld abzutragen hat, nachdem er aus dem Krieg heimgekehrt war und spürte, dass er zu spät war und dass Dinge ihren Lauf genommen hatte. Allein diese einfühlsame Passage ist schon die Lektüre wert. Auch Lehrer Steensen, der eine nicht unerhebliche Rolle im sozialen Gefüge des Dorfes spielt und dem auch im Roman mehr als eine Nebenrolle zukommt, ist grandios und mit viel hintergründigen Humor gezeichnet. Die Veränderungen im Dorf kommen in den späten 60-er Jahren mit der Flurbereinigung, die Straßen werden begradigt und die Hofeinfahrten, manche Höfe werden größer, andere gehen zu Grunde, Gasthöfe sterben, manche Bauern sehen keine Zukunft mehr. Auch die „Mittagstunde“, die früher den Tag strukturierte und den Dörflern heilig war, gibt es nicht mehr.

„Mittagsstunde“ ist große Literatur, spannend, witzig, liebevoll und sprachlich brillant. Note: 1 ( ün)<<

 

>>„De Welt geiht ünner“, sagt uns Marret Feddersen gleich auf der ersten Seite. Nicht die ganze Welt, ihre Welt, die Welt des Dorfes, sie geht unter und der Untergang spiegelt sich nicht nur im Sterben der Ulmen. Die über fünf Jahrzehnte beschriebenen Veränderungen des Dorfkosmos würden Soziologen schlicht als Strukturwandel bezeichnen. Bezogen auf das Buch wäre das fast zu platt. Natürlich nicht im Sinne von Platt-oder Niederdeutsch, ein Idiom, das das Buch auch prägt.

Dörte Hansen ist ein ergreifender Roman gelungen. Das liegt an ihrer lakonischen, manchmal boshaften, aber insgesamt genialen Erzählweise. Besonders deutlich wird dies bei der Schilderung menschlicher „Extremsituationen“ zwischen Leben oder Tod. Für Marrets Schwängerung reicht ihr ein Satz:“Gar nichts Weltbewegendes, nur eine kleine uralte Geschichte, aber Marret kannte sie noch nicht.“ Oder als der Sohn den gerade verstorbenen Vater findet:“Ganz still. Ingwer stand ein paar Sekunden in der Tür, bevor er es verstand.“ Hansen beherrscht auch die hohe Kunst der Ironie. Im Zusammenhang mit dem Antrag für eine DFG-Projekt liest man:“ Drapieren, tarnen, mauscheln, blenden. Es war die Pest.“ Köstlich.
Die Portionierung in 22 übersichtliche Kapitel empfand ich als äußerst leserfreundlich. Insgesamt wird im Roman wie gesagt viel Plattdeutsch gesprochen. Klar, das macht das Buch authentischer. Würde ein Roman, in dem die Bewohner eines Albdorfes originales Schwäbisch reden würden, auch in Hamburg Leser finden?

Abschließend ein lobendes Haiku auf den Roman, kontrapunktisch in der hiesigen Mundart:
S‘Dorf got onder, weh
Dörte Hansen schreibt‘s genial
Heula kennt mer do.

Note: 1– (ax)<<

Der Sommer meiner Mutter – Ulrich Woelk

C.H.Beck 2019 | 189 S.

>>Es ist durchaus positiv gemeint, wenn ich gleich sage, dass das Buch „leicht“ zu lesen war. Auch wenn man schon im ersten Satz erfährt, dass die Mutter des Erzählers im Sommer 1969 Selbstmord beging. Sommer 1969, viele Siebzigjährige erinnern sich da schnell an die erste bemannte Mondlandung, die das Romangeschehen durchgängig begleitet. Zwei recht unterschiedliche Familien lernen sich kennen. Katholiken und Kommunisten werden Nachbarn, interessieren sich für einander, lernen sich schätzen. Don Camillo und Peppone, aber anders. Und zwei Einzelkinder finden zueinander. Der elfjährige (!) Tobias hat das Glück, von der nur zwei Jahre älteren Rosa initiiert zu werden. Mit sicherer Hand weist sie ihn in die Anatomie des weiblichen Körpers ein. Seine Verwirrung ist so groß wie seine Neugierde.

30 Jahre später ist Rosa eine erfolgreiche Autorin. Sexualität spielt in ihren Büchern eine zentrale Rolle. Sie erkennt Tobias nicht. Die Dialoge sind so wie Alltagsgespräche häufig sind. Tendenziell eher banal. Kann ja auch ein Stilmittel sein. Dies gilt nicht für das Mutter-Sohn-Gespräch nach der Trennung der Eltern im Schlussteil des Romans. Am Verhalten der Mutter spürt der Junge, wie viel Macht er über sie hat. Er will ihr wehtun und weist sie zurück. Dieses Gespräch dürfte der Schlüssel für den Suizid der Mutter sein.

Von einer Inhaltsangabe möchte ich absehen, da diese von meinen drei Lesefreunden sicherlich detailreich und optimal geliefert werden wird.

Unterm Strich: Ganz anders als Tobias hat mich die Mondlandung damals nicht vom Sockel gerissen. Auch 50 Jahre später nicht. Aber beim Lesen habe ich mich nicht gelangweilt. Ob das ein Kriterium für  literarische Wertung ist? Leo Spitzer kann man nicht mehr fragen. Note: 2/3 (ax) <<

 

>> Der Eingangssatz offenbart: Die bürgerlich-spießige Einfamilienhausatmosphäre im Hause Ahrens trügt und mit dem Auftritt der vermeintlich flotten 68er Familie Leinhard gerät so manches aus den Fugen. So wird ein Satz der 13jährigen frühreifen Rosa gegenüber dem 11jährigen Ich-Erzähler Tobi, dass hinter den Fernstern der Nachbarn mehr geschieht als auf dem Mond im Nachhinein zum Schlüsselsatz des Romans. Die wirklichen Entdeckungen liefert der Mikrokosmos und mit ihnen auch die Brüche von Rollenmustern, Weltbildern und Ideologien. Das wird aus der Perspektive des sich seiner Kindheit erinnernden Ich-Erzählers authentisch ohne hohen literarischen Anspruch erzählt. Es sind Momentaufnahmen, die sich zu einem stimmigen Mosaik zusammenfügen und die die Welt des 11jährigen zunehmend verwirren. Die erste Jeans von Tobi ist zugleich der erste noch unterdrückte Emanzipationsversuch der Mutter. Ein zufällig belauschter Streit der Eltern über „jenes Es“ offenbart Abgründe, die Tobi zunächst nur sehr diffus wahrzunehmen vermag. Dass Tobias im Schlafzimmer Rosas wenig später seine erotische Initiation erfährt mit der er wesentlich unbeholfener umzugehen weiß als mit der bevorstehenden Apollomission zeigt einmal mehr, welch Unsicherheiten sich bei der Entdeckung des eigenen Körpers auftun. Geradezu tragisch verhält es sich mit dem coming out Evas und Uschis, dessen Zeuge Tobi gerade in dem Augenblick wird, wo er sich aus Rosas Schlafzimmer davonschleicht, -im Zweifel ob „es“ denn ihr gefallen hat, um doch noch nächtens die Landung auf dem Mond zu verfolgen. Die Apollomission glückt, irdische Beziehungen werden zerrissen. Weder der katholische Vater Walter Ahrens noch der vermeintlich libertinäre „Kommunist“ Wolf Leinhard sind den veränderten Umständen gewachsen. Moralische Verurteilung (sie war „anders“, „als Mutter und Ehefrau versagt“), gesellschaftliche Isolation (es hatte sich herumgesprochen „was für eine“ sie war), Isolation der Mutter (Liebesentzug auch durch Tobias), vom Vater geforderte Scheidung, das ist der eine Weg, er endet für Eva im Suizid. Pseudointellektueller Diskurs der Verletztheit überspielt, Ehemann als Revolutionär betrogen, weil Uschi sich zur Ehe statt zur lesbischen Liebe bekannt hat, Trennung ob vorübergehend oder endgültig bleibt offen, belegt aber durch Wikipediaeintrag Wolf Leinhards Karriere in Oxford , das ist der andere Weg. Woelk erzählt eine tragische Emanzipationsgeschichte und eine berührende Adoleszenzgeschichte und übernimmt dabei überwiegend stimmig die Perspektive des 11jährigen Tobias. Das ist eine Gradwanderung, die mit dem Rosetta Schlußkapitel und einer späten Rosa Begegnung des jetzt 49jährge Erzähler nochmals eine neue auch erzählerische Dimension erhält. Im Roman völlig entbehrlich Geplauder bei Onkel und Tanten samt Kriegsgeschichten und Krocketspielchen. Note: 2/3 (ai)<<

>> Dem ersten Satz eines Romans gehört immer die besondere Aufmerksamkeit des Autors und auch des Lesers. Ulrich Woelk zieht in diesem Roman offensichtlich das Herz Ass aus der Anleitung zum Creativ Writing: Er kündigt im ersten Satz nichts weniger als den Selbstmord der Mutter des Ich-Erzählers an.  Das erzeugt Spannung, die bis zum Ende anhalten soll. Eigentlich nichts Verwerfliches, wenn die literarische Qualität des Romans mit diesem Aufschlags-Ass mithalten könnte. Inhaltlich geht es (wieder einmal) um das coming of age eines 11-jährigen Ich Erzählers, Tobias, der durch die neu in die Nachbarschaft gezogene 12-jährige, sehr frühreife Rosa, eine kundige Einführung in die Sexualität erfährt. All dies auf dem Hintergrund der Apollo Mission 1969 und den gesellschaftlichen Umbrüchen, die sich an der Familie des Jungen einerseits und an der Familie von Rosa widerspiegeln sollen.

Im ersten Kapitel gelingt es Woelk noch ganz gut, die zarten Emanzipationsversuche von Tobis Mutter in einem Jeansladen zu schildern. Aber schon im zweiten Kapitel passiert, das, was sich leider durch den Rest des Romans zieht:  Sehr schlechte, unglaubwürdige Dialoge, die sich dazuhin noch viel zu oft durch kursiv Schreibungen aufladen müssen. Was Rosa da teilweise zum Besten gibt, ist auch für eine frühreife 12-jährige Ende der 60 er Jahre vollkommen daneben. („Ich möchte nicht, dass du den Mond verlierst, den Mond in dir, nicht den da draußen“). („Du findest es lustig, aber es ist die bittere Wahrheit, die Küche ist für Frauen ein Gefängnis“).  Auch die Dialoge des 11-jährigen sind oft kaum erträglich. (Zitate erspare ich mir). Die im Fernsehen verfolgte Mondlandung erscheint als platte Metapher („Fly me to the moon“) für die erfolgreiche Landung von Tobias auf dem für ihn neuen Planeten der Sexualität und dann- Überraschung – auch noch für die Mutter von Tobias, die er zufällig mit der Mutter von Rosa in einer erotischen Punktlandung erwischt. Dies letztendlich auch der Grund für deren Selbstmord, da der Junge ihr dies kurzfristig nicht verzeihen mag und zu seinem Vater ziehen möchte, der seine Mutter auch verlassen hat. Das schwappt dann doch allzu oft über die Kitschgrenze.  Als der Vater von Rosa seine Frau nach dem Seitensprung ebenfalls verlässt mit der Begründung, sie habe ihn als Revolutionär enttäuscht, schlicht eine Lachnummer. Dass das Ganze noch sehr stereotyp und etwas penetrant mit den Accesoires der Sechziger Jahre ausgestattet wird, wie 2 CV, Gitanes, Volvo, Nordmende Fernseher, Bloch, Adorno, Janis Joplin, The Doors, ..wirkt auf Dauer zu gewollt und letztlich auch ermüdend. Note. 5+ (ün)<<

>>Der Sommer 1969 ist einer jener Zeitpunkte, der auch dort nach Veränderung drängt, wo die Zeit noch nicht reif ist. Und weil sie noch nicht reif ist, ebnen Katastrophen sich ihren Weg. Ulrich Woelks Ich-Erzähler Tobias ist zu diesem Zeitpunkt unbefangene elf Jahre alt. Für ihn bewegt sich die Welt in geordneten Bahnen. Auf einer dieser Ellipsen kreist der Erdtrabant – für die Menschheit, die ihn jetzt betreten will. Auch Tobias schaut gebannt auf den Mond. Ein Orientierungspunkt, den er schon am Ende dieses Sommers verlieren wird.
Eine Vorausmission umfliegt den Mond, soll jedoch nicht landen. Erst Apollo 11 wird Neil Armstrong bringen. Tobias wird belehrt, dass im Leben ebenso manche Dinge, denen man schon nahe ist, unberührt bleiben müssen. Wenig später wird seiner Mutter vorgeworfen, diese Regel missachtet zu haben. Sie bestraft sich darauf mit dem Tode. Ein Tod, den alle nähren, weil sie an den hergebrachten Gesetzmäßigkeiten haften wie an astronomischen Grundsätzen.
Wir blicken durch die Augen des Jungen auf ein geordnetes Mittelstandsmilieu, in dem die wohlgelittene Rollenverteilung Mutter Eva Küche und Kind zuweist, während Vater Walter als Ingenieur das Einkommen herbeischafft. Mit seiner geschätzten Mutter erlebt Tobias die Welt, sein bewunderter Vater erklärt ihm wie sie funktioniert. Erst als neue Nachbarn neue Weltsichten in ihren Kosmos tragen, werden unumstößlich geglaubte Gravitationsfelder umgepolt.
Die Nachbarn sind sympathisch, offen und überzeugte Kommunisten. Er (Wolf Leinhard) Hochschuldozent im Geiste Adornos, Philosoph und Grenzgänger zwischen Marxismus und Psychoanalyse. Sie (Uschi) Übersetzerin amerikanischer Kriminalromane. Die frühreife Tochter (Rosa, 12) benannt nach Rosa Luxemburg. Trotz gegensätzlicher Anschauungen finden die Nachbarn Gefallen aneinander. Bei Gartenfesten bilden sich ungezwungen gemischte Paare, deren untergründige Erotik die Tochter beunruhigen, wohingegen Tobias in kindlicher Schlichtheit lediglich die zugewandten Nettigkeiten der Erwachsenen wahrnimmt.
Uschi überzeugt Eva, die Urmutter, der Selbstverwirklichung Raum zu geben und ebenso mit Romanübersetzungen etwas für das eigene Selbstwertgefühl zu tun. Ihr Gatte Walter reagiert mit Unverständnis und befürchtet Nachlässigkeiten im Haushalt. Dennoch hält seine Ablehnung sie nicht auf. Evas Wandlung spiegelt bereits die Entfremdung der Eheleute. Als die Nacht der Mondlandung auch mit der Annäherung der beiden Mütter überrascht, kollabieren die Umlaufbahnen der Familien. Tobias gerät zufällig in das erotische Spiel der beiden angetrunkenen Frauen. Unter der Schwerkraft seiner einstürzenden Wertewelt verliert er den Halt. Als die Affäre der Mütter publik wird, kündigen beide Ehemänner das Familienleben auf. Die Begründungen des bürgerlich-katholischen und des revolutionär-marxistischen Ehegatten fallen unterschiedlich aus, der emotionale Ausgangspunkt scheint der gleiche.

Evas Versuche, sich in der einsetzenden Isolierung zu behaupten, scheitern durchweg an den sie ablehnenden Reaktionen ihrer Umgebung. Der Gatte zieht augenblicklich aus. Die angedrohte Scheidung soll ihr das Sorgerecht entziehen. Die Verwandtschaft ächtet sie. Der erbetene Arbeitsplatz zur Selbstversorgung wird ihr aus moralischen Gründen verweigert. Die Leinhards und damit auch Uschi verlassen den Ort. Als letztlich ihr Sohn sich von ihr abwendet, greift sie zu E605, das so zuverlässig Schädlinge abtötet. Begleitet vom sich anbahnenden Coming-out der Mutter erlebt auch Tobias seine Initiation. Die äußerst aufgeweckte Rosa definiert beim Anblick seines amerikanischen Raketenmodells nicht nur die politische Schuld im Vietnamkrieg, sondern entwirft auf ihrem feuchten Körper auch Bundstiftwelten für den verwunderten Buben. Tastexpeditionen entlang erogener Zonen vermitteln Tobias eine bisher unbekannte Gefühlstopographie. Mit geschlossenen Augen lässt er sich leiten, wobei Rosas entschlossene Behutsamkeit Tobias´ pubertäre Schuldempfindung verdrängt. Während sich hier also die zunächst als unangemessen empfundene Sexualität ihren Weg bahnt, kann Tobias die erotischen Neigungen seiner Mutter weder einordnen noch verkraften. Als er sie in kindlicher Einfachheit verurteilt, treibt die einsame Verzweiflung Eva in den Suizid. Eine offensichtliche Kausalität, die Tobias fortan verfolgen wird.

Der Sommer meiner Mutter ist beides: der sich verdunkelnde, eingangs helle Seelensommer des elfjährigen Tobias und vor allem das psychosoziale Drama seiner Mutter, der dieser das Leben kostet. Uschis Ehegatte hatte zuvor philosophiert: Finde dich selbst und trage die Folgen. Nicht das Glücklich- sein ist das Ziel, sondern wahrhaftig zu sein.

Am Ende des Romans lässt Woelk den erwachsenen Tobias Rosa als inzwischen avancierte Schriftstellerin begegnen. In ihren Romanen verirren sich die Protagonisten auf der hoffnungslosen Suche nach emotionalem und erotischem Halt – und dies, obwohl die gesellschaftliche Entwicklung erkennbar vorangeschritten ist. Vielleicht ein Ausdruck der eigenen widerstreitenden Sozialisation. Für Tobias schließt sich ein anderer Kreis. Als Wissenschaftler des europäischen Raumfahrtprogramms ist es auch sein Verdienst, dass 2016 die Raumsonde Rosetta nach zehn Jahren Flug erfolgreich auf den Kometen Tschuri trifft. Dass die Landung letztlich missglückt, bleibt fast nebensächlich, denn der Weg dorthin war bereits erkenntnisreich.
Woelks Werk ist feinfühlig und gradlinig in der Darstellung, Sprach- und Gedankenwelten des Jungen sind überzeugend getroffen, die Unbedarftheiten und treibenden Gefühle am Anfang seiner Pubertät glänzend eingefangen wie etwa in seiner Beobachtung von Rosas orgastischer Erregung: „Irgendetwas war geschehen – möglicherweise das Richtige“. Die literarische Kunst der glasklaren Unschärfe. Der kindliche Blickwinkel auf einen widersprüchlichen Gesellschaftsmoment, in dem moralische Tradition und emanzipatorische Zukunft kollidieren, fügt sich in das Bühnenbild eines technologischen Zukunftssprungs. Note: 2 (ur)<<

Sechs Koffer – Maxim Biller

Kiepenheuer & Witsch 2018 |  198 Seiten.

>> Lässt sich die eigene Position im Familiengeflecht über die Schuld anderer verorten? Wenn es eine Schuld mit Hinrichtung und langjähriger Haft in den Kerkern eines autoritären Regimes ist, wiegt der Versuch umso schwerer. Schwierig wird es besonders, wenn der Versuch im Kopf eines Jugendlichen stattfindet – beeinflusst von den Einflüssen der Verwandten, verwirbelt von aufkeimenden Begierden eines Pubertierenden und verwischt von der Zerrissenheit einer in alle Herrenländer emigrierten Verwandtschaft. Maxim Biller ist in dem autobiographischen Roman Sechs Koffer erst fünfzehn als er seinen Onkel Dima in Zürich aufsucht. Seine Frage lautet, ob dieser seinen eigenen, Schwarzhandel-treibenden Vater, Billers Großvater Tate, an den sowjetischen Geheimdienst verriet. Ebenso könnte es seine unzufriedene Tante Natalia oder Dimas Bruder Lev gewesen sein. Selbst der in Brasilien lebende Bruder Wladimir hatte handfeste Motive. Und ob Billers Vater Sjoma ohne Verdacht bleiben kann, bleibt ebenso eine offene Frage.

Die bubenhafte Suche nach dem Täter ist jedoch nur der äußere Rahmen des Romans. Im Inneren und im Vordergrund dieses Werks stehen die Eigenarten der Verwandten, ihre Vorlieben, ihre Missverständnisse, ihre entdeckten Geheimnisse, ihre heilvollen und unheiligen Verflechtungen, ihre Prinzipien, ihre Eifersuchten, Chancen und Lebensenttäuschungen. Und entfernt und meist unausgesprochen lässt sich in diesem Geflecht die Positionierung des Autors vermuten. Wie stark der Drang nach Einordnung und Quellbestimmung in diesem Strudel ist, kann der Leser nur erahnen. Vermutlich erheblich, denn Sechs Koffer ist nach Der gebrauchte Jude nicht Billers erster Versuch, seinen jüdisch-russischen Ursprung aufzuarbeiten. Damit folgt er einer Familientradition, da sowohl Mutter Rada Biller wie auch seine Schwester Elena Lappin die Verwandtschaft wiederholt zum Gegenstand literarischer Abhandlungen machten. Für den Autor ist es auch der Kampf gegen das infektiöse Verschweigen im Familienkreis. Dass er dabei nicht derart vernichtend wie in seiner legendären TEMPO Kolumne „Hundert Zeilen Hass“ vorgeht, darf man ihm zugutehalten.

Sechs Koffer sind das Gepäck, welches die Roman-Protagonisten schleppen oder sind symbolhaft die Beteiligten selbst. Sechs Kofferinhalte, sechs Erinnerungsansätze, sechs Sichtweisen einer Gegenwart, die für jeden andersdeutig und wertverschieden ist.

Beim Aufbau des Romangerüstes erlaubt sich Maxim Biller fortlaufend Betrachtungssprünge. Zum einen berichtet er als Ich-Erzähler. Zum anderen gehen Texte fließend in Perspektiven eines übergeordneten Erzählers über und beschreiben Einzelheiten, die der fünfzehnjährige Junge nicht wissen kann. Damit werden subjektive Verfremdung und objektive Faktenlage verwischt. Ölfarben mischen sich in das Aquarell, was durchaus zur Bereicherung des Werkes beiträgt. Fiktion und Tatsachen verschmelzen.

Der Tate war der familiäre Großfürst. Wer wo ihm zur Hand gehen durfte oder musste, war im Verwandtschaftskreis still geregelt. Auch unter seinen vier Söhnen: Billers patenter Vater Sjoma, der finanzgewandte Wladimir, der Chemiker Lev und der tollpatschige Dima. Die offensichtlich einflussreiche jüdische Familie lebt zu dieser Zeit im kommunistischen Russland, später in der gemäßigteren Tschechoslowakei. Handel und Schwarzhandel sind wirtschaftliche Grundlage und Expertise der Billers. Der Großvater hortet die Überschüsse in einer abgelegenen Datscha. Als Wladimir offiziell nach Brasilien und Lev als Wirtschaftsattaché nach Berlin entsandt werden um im Tausch für äthiopischen Kaffee harte Devisen in die verarmte Tschechoslowakei zu schleusen, nutzen sie die Gelegenheit zur Republikflucht.

Zweimal 40.000 Dollar gibt der Tate den flüchtenden Söhnen mit auf den Weg. Die beiden zurückbleibenden Söhne sollen indirekt von dem Kapital profitieren, indem sie teure Westwaren, die ihnen die Brüder schicken, noch teurer in der ausgemergelten Tschechoslowakei absetzen. Der Tate wird entlarvt und nach der zweiten Verhaftung hingerichtet. Wurde er verraten? War es Wladimir oder Lev, um die heimliche Transferverpflichtung in Vergessenheit geraten zu lassen? Die Vermutung keimt erneut auf, als auch ihr Bruder Dima, der von den Wertrückführungen hätte profitieren sollen, beim Fluchtversuch verhaftet wird. Vielleicht war Dima aber selbst an seiner Verhaftung schuld, da halb Prag in seinen Plan eingeweiht war. Fünf Jahre Haft in Pankrác sind die Folge, die zu guter Letzt auch ihn in Verdacht bringen. Denkbar scheint, dass er unter dem Druck der Sicherheitsbehörden seinen Vater verriet und dessen zweite, katastrophale Verhaftung provozierte.

Ein anhaltender Verdacht bleibt an Lev haften, da er jeglichen Kontakt mit allen Familienmitglieder meidet. Hat er eine schwerwiegende Schuld zu verbergen oder ist es die Tatsache, dass ihn sein Bruder Dima in der Aktion „Bruder“ als Republikflüchtling in die DDR locken sollte und wollte, damit sich der Staatssicherheitsdienst seiner bemächtigten konnte. Nur weil ihn ein Sekretär des Innenministeriums warnte, konnte Lev der Verhaftung entgehen. In einer späteren Plauderei erwähnt er dem Beamten und ehemaligen Weggefährten gegenüber beiläufig die illegalen Aktivitäten seines Vaters. Wahrscheinlich trug dies zu dessen Verderben bei. Aber dies wird nie publik.

Billers Vater Smoja hingegen verdächtigt wiederholt seine ehemalige Geliebte und jetzige Schwägerin Natalia, dem Tate den Tod gebracht zu haben. Vielleicht dient die maximale Schuldzuweisung jedoch dazu, ihre unumstößliche Liebe zu ihm nicht beantworten zu müssen. Die attraktive Schwägerin arbeitete sich mit eingeschränkten Fähigkeiten, aber einflussreicher Teilhabe an ihrer Nachtstatt bei politischen Entscheidungsträgern in die Rolle der Chefin der Filmakademie hoch. Filme wollte man von ihr allerdings kaum fördern. Ihre Liebe zu Sjoma bleibt unverwüstlich. Und weil es eine unerfüllte Liebe ist, ätzt sie sich schmerzhaft in den Herzbeutel. Lange Zeit versucht sie sich durch die Heirat mit seinem mittelmäßigen Bruder Dima zu trösten. Am Ende bleibt jedoch nicht mehr als ein pulverisiertes Selbstwertgefühl, dass sie mit einem Sprung vor einen Lastwagen schließlich auslöscht. Ihr Koffer war zu schwer. Aber hatte sie ihn durch Verrat erleichtern wollen?

Als Biller seinen Onkel Dima in Zürich aufsucht, ist sein Täterbild gefestigt. Als er ihn verlässt, hat er einen ewigen Verlierer kennengelernt, der alles im Leben bekam, was er nicht wollte. Der Vater war vermutlich nicht sein Opfer, sein Bruder Lev hätte es aber werden sollen und er selbst war es.

Das Buch ist bemerkenswert, weil es Biller immer wieder gelingt, durch unscheinbare Requisiten der Erinnerung Tore zu großen Entwicklungssträngen zu öffnen. Bemerkenswert auch der Schluss, in dem seine Schwester Jelena Lappin über ein Buchprojekt berichtet – mit dem gleichen verwandtschaftlichen Frachtgut aber in anderen Koffern. (Dieses Buch wurde tatsächlich zwei Jahre vor diesem mit dem Titel In welcher Sprache träume ich? veröffentlicht.)  Note: 1– ( ur) <<

 

>>„ – aber dann hatte ich endgültig genug von diesem ganzen Familienirrsinn.“     denkt der junge Erzähler auf Seite 135 des Romans, der ein Familien-, Schelmen- oder Briefroman sein könnte. Ich hatte schon  nach 99 Seiten genug.

Die Frage, wer am Tod Tates schuldig ist, wird von allen Protagonisten des  Buches bearbeitet. Auf unterschiedliche Weise zwar, trotzdem bleiben Wiederholungen nicht aus. Sie langweilen. Am ehesten wecken die zeitgeschichtlichen Informationen das Interesse des Lesers. Man erfährt viel über Krieg, Diktaturen, Antisemitismus und Migration. Und auch über menschliche Grundbefindlichkeiten: Hass, Misstrauen und Missgunst, Vertrauen und Verrat. Die Sprache lässt zu wünschen übrig. So sind die Dialoge häufig von ausgesuchter Alltäglichkeit und Banalität. Ein überlanger Brief von elf Seiten, eine Zumutung.
„Bettelnde Dritte-Welt-Kinder“ mit Eichhörnchen zu vergleichen finde ich degoutant (Seite 135). Den Mund einer Frau als „ziemlich deutschen Mund“ (Seite 197) zu beschreiben ist genau so daneben,  wie wenn ich von einer „ziemlich jüdischen Nase“ schreiben würde.
Unterm Strich: Kein Leservergnügen.  Note: 4 ( ax) <<

 

>> Da macht sich ein Autor auf die Suche nach seiner Identität und gerät in die Abgründe eines jüdisch-russischen Familienlebens, eines wahren „Familienirrsinns“, der sein eigentliches Geheimnis bis zum Schluss glücklicherweise nicht freigibt. Wer hat denn nun wirklich Schuld an der Hinrichtung unseres Großvater? – weder der autobiographische Erzähler noch seine Schwester Jelena lassen uns wissen, „wie es wirklich gewesen war“. Was der sich erinnernde Autor an Mosaiksteinchen von 1960 als 6jähriger bis zum Romanverfasser als 58jähriger zusammenträgt, führt uns in ein komplexes Beziehungsgeflecht von drei Generationen, bei dem sich Privates und Politisches mischt.  Ob bei Schwarzmarkt- und Devisengeschäften des Moskauer Großvaters, ob in der Biographie des Vaters Semjon oder der der  beiden Onkel des Erzählers Lev und Wladimir, ja selbst bei den beiden weiblichen Protagonistinnen Rada und Natalja, geheimdienstliche Berührungspunkte haben sie alle, und so verwundert es nicht, dass Misstrauen und Verdacht diese Familiengeschichte prägen. Liebe und Eifersucht (Rada, Natalia) tun ein Übriges die Brüche zu verschärfen.  Zugleich spiegelt sich in dieser Individualgeschichte auch ein Stück exemplarischer osteuropäisch-jüdischer Geschichte: Emigration (Entfremdung, Ortswechsel ), Widerstand gegen den Faschismus (Lev-Wladimir), KZ-Traumatisierung (Natalia), stalinistische Schauprozesse (Gottwald ,„Bruder-Akte“), offener und verdeckter Antisemitismus (generationen- und länderübergreifend, SU,CSSR,BRD). Max Biller erzählt dies aus der Perspektive der verschiedenen Familienmitglieder, wobei ihm eine frühe Begegnung mit Onkel Dima in Zürich als wesentliche Quelle dient. Diese Schweizer Episode ist zugleich ein brillantes Stück einer Adoleszenzgeschichte  des Erzählers. Eigentlich spürt man nur da etwas vom Wärmestrom, ansonsten herrscht Beziehungskälte im Hause Biller, die an keiner Stelle so treffend beschrieben wird wie in dem Satz über Onkel und Tante:„ Dima und Natalia waren schon geschieden, aber sie gingen trotzdem so schlecht miteinander um, als wären sie immer noch verheiratet“.
Note: 1 – (ai) <<

<< Maxim Biller hat sich als zeitweises Mitglied im literarischen TV Quartett nicht gerade als Sympathiebolzen, sondern oft als knallharter, schonungsloser und humorfreier Kritiker gezeigt. Einschränkung:Sein  Ton im Umgang mit  Christine Westermann war uncharmant, aber oft nachvollziehbar. Umso gespannter durfte man auf einen Roman aus einer Feder sein.
In „Sechs Koffer“ erzählt er seine Familiengeschichte aus verschiedenen Perspektiven. Literarisch raffiniert, seine Familie nicht schonend, historisch interessant, unangepasst, humorvoll.
Lesenswert. Note 2+ (ün)<<

 

Kaffee und Zigaretten- Ferdinand von Schirach

Luchterhand 2019 | 191  Seiten.

>>Warum ist dieses Büchlein so erfolgreich? Diese Frage stand am Anfang und machte neugierig. Schirach ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller dieser Tage. Der SPIEGEL urteilt: „Ferdinand von Schirach ist ein großartiger Erzähler“. Er ist ein gerngesehener Interviewgast, ein Meister der Anekdote, ein Antimacho, mit nachdenklichem, sanftem und abwägendem Auftritt. Inhaltlich allerdings häufig nicht weit weg von Plattitüden. „Es gibt ein einziges Kriterium in der Literatur: Berührt es mich oder nicht“. 
Angeblich zum ersten Mal erzählt von Schirach in Kaffee und Zigaretten von sich selbst. „Man muss wahrhaftig sein, sonst ist das nichts“ begründet er den Schritt zum Autobiographischen. Die erste und die letzte von insgesamt 48 Szenen – Geschichten kann man diese kaum nennen – fungieren quasi als Klammer und beleuchten jeweils eine sehr schwierige Phase in seinem Leben, beides Mal mit Selbstmordgedanken und in erzählerischer „er“ Perspektive. Einmal ganz explizit als 15-jähriger nach dem Tod seines Vaters und dann nochmals sehr viel später, als er einen Oldtimer in Süddeutschland kauft und vorhat, eine lange Reise durch das gerade zerfallende Europa zu machen. Die düsteren Gedanken, die ihn begleiten werden angedeutet durch Literaturzitate wie „Geh nicht gelassen durch die gute Nacht. Im Sterbebett sei doppelt zornentfacht“ oder durch Zeilen wie: „Er ist sich sicher, sein Leben vertan zu haben“ oder „Es gibt keine Pflicht zu leben, jeder scheitert auf seine eigene Weise.“. Nur eine Momentaufnahme von beobachtetem Glück rettet ihn. Diese beiden Szenen sind die besten des Buches. Sein schriftstellerisches Talent, in einfacher Prosa mit etwas distanzierter Beobachtungsgabe einfühlsam und sehr berührend zu schreiben, wird sichtbar.

Der Rest ist leider sehr enttäuschend und zum Teil auch etwas ärgerlich, oder „unangenehm“, um es mit einer Lieblingsvokabel Schirachs zu sagen. In einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen sagte er, das erste und das letzte Kapitel müsse sein, um die anderen zu verstehen. Für mich erschließt sich das nicht, außer man liest einen etwas depressiven oder morbiden Grundton heraus. Ansonsten sind es kurze Skizzen, Anekdoten, Meldungen, Erinnerungen an Begegnungen, die allzu durchschaubar und häufig nach gleichem Muster gestrickt sind und manchmal allzu frisiert daherkommen. Nach der dritten unverhofften Begegnung mit einem alten Weggefährten nach 30 Jahren weiß man schon was kommt: Nichts Gutes. Note: 4 (ün)<<


>>Ein Strickmuster wird sichtbar. Ausgangspunkt zuweilen eine Zeitungsnotiz oder Nachricht, bevorzugt aber Begegnungen mit Mandanten oder ehemaligen Bekannten. „Ich“ weist auf authentisch, aber Verdacht auf einen Schuss Münchhausen. Thematik von banal bis letzte Fragen der Menschheit Schuld, Tod , warum sind wir wie wir sind. Auch Skurriles. Die Botschaft aller Beobachtungen : „Es ist immer der gleiche Mensch, dieser strahlende, verzweifelte, geschundene Mensch“. Meist eine „Überhöhung“, eine Sentenz, von Epiktet über Marc Aurel bis zum Haiku und Ringelnatz. Der Autor belesen, der Verlag ein guter Vermarkter. Was bleibt, ist der Reiz eines Lesers zur 49. Notiz von „Kaffee und Zigaretten“. Ein Read(y)made, also nach dem Lesen gemacht. Die Auflage ist klein, nur hier: ein-malig.

Neunundvierzig

Seit über 250 Wochen stehen sie da. Jeden Samstag, immer zwischen 11 und 12 Uhr. 8 Stufen hat die Stiftskirchentreppe. Die Kirche neugotisch unter dem Grafen Eberhard im Bart 1470 erbaut. Das Grab Mechthilds von der Pfalz im Chorraum beeindruckend. Eine ortbekannte Buchhandlung ein Gemüsestand, ein Optikergeschäft, in einem der Häuser ging Hermann Hesse zur Lehre,  Publikumsverkehr. Ein schlichtes Transparent, weißes Leintuch, handgeschrieben „Free Raif Badawi“. Männer und Frauen, stumm,  einige mit Plakaten. Ein saudi-arabischer Blogger vor 5 Jahren zu 1000 Peitschenhieben, 1o Jahren Haft und einer hohen Geldstrafe verurteilt. Sein Vergehen: Er forderte Meinungsfreiheit. Die Frau, erfahre ich, während ich auf Klaus einen alten Studienfreund warte, lebe in Canada, zunächst Asyl, jetzt mit den Kindern als Staatsbürgerin. Ich unterschreibe eine Unterschriftenliste. Was man inzwischen erreicht habe, frage ich. Man spricht davon, man lasse nicht locker, steter Tropfen höhle den Stein, stille Diplomatie,  Politik heiße mache Geschäfte vor Menschenrechten, der Mord an Kashoggi, auch dieses Verbrechen trage einen Namen Kronprinz Mohammed bin Salman.
Der Spaziergang mit Klaus führt hinaus in einen Biergarten in Halbhöhenlage, zwei Pfauenräder empfangen uns, unterhalb ein Erdbeerfeld, die Speisekarte deftig, am Nachbartisch  Disput über den fehlenden Salat. Der Abend wird lang man hat sich Jahre nicht gesehen und zurück zum Hotel ist die  Stiftskirchentreppe eine kleine Partymeile, mediterranes Flair, an der Ecke ein mittelmäßiger Saxophonist. Noch bevor ich im Hotelzimmer wie immer meine Emails lese, ich erwarte dringend nähere Informationen zu meiner nächsten Lesung in München, lässt mich die Vormittagsbegegnung mit dem Begriff Peitschenhieb nicht mehr los und nach Worterklärung und Etymologie bietet mein Handy folgende Seite. „Die besten Peitschen-Apps für iPhone und Android. Mit einer Peitschen-App macht ihr euer iOS- oder Android-Smartphone zu einer waschechten Peitsche – natürlich auch mit dem passenden Sound. Inzwischen gibt es einige der witzigen Apps, die einen Peitschenhieb simulieren. Welche soll man da nehmen? Wir haben uns den Appstore und den Google Play Store einmal genauer angeschaut und stellen euch hier die besten Peitschen-Apps vor.“
Raif Badawi erhielt am 21. Januar 2015 während einer öffentlichen Auspeitschung die ersten 50 Peitschenhiebe. Danach brach er zusammen. 950 Peitschenhiebe warten noch. Iphone und Android waren dabei. Die Handys des umstehenden Publikums hielten die Szene fest.

Schon Schahrasad benötigte tausendundeine Nacht um am Leben zu bleiben und um den König mit ihren Geschichten zu besänftigen.

Note: 4 (ai)<<


>> Achtundvierzig Sentenzen, Episoden, Augenblicke. Menschen am Rande, Momente der Besonderheit, Alben der Widersprüche. Sinnsuche, juristische Ausflüge, Kuriositäten. Temperierte Lektüre für Minuten – einen Kaffee lang. Wieder eine Schirach-Sammlung, wenn auch anders: rauchiger, manchmal anrührend, vermutlich auch Liegengebliebenes. Viele Geschichten folgen einem Muster: die hingestreuten Detailimpressionen, die belesenen Zitatfunken, der geschlossene Mittelteil, und schließlich die Rückkehr zum Anfang mit überraschender Nachdenklichkeit. Seien wir ehrlich: auch wenn es durchschaubar ist, eingängig bleibt es trotz alledem. Etliche Abschnitte haben keinen Ich-Erzähler. Wenn er dann doch auftritt, darf vermutet werden, dass Schirach Autobiografisches verewigt. In diesen Passagen entblättern sich nominierte Nobelpreisträger, Massenmörder, Multimilliardäre und Zeitzeugen aller Zeiten um literarisches Material zu liefern. Frau/man möchte dem Autor dann doch dosiertes Kokettieren mit der Macht und seiner Bedeutsamkeit unterstellen. Nichtsdestotrotz bleibt es lesenswert.

Da sind Anekdoten wie der Kinoabend des „ich“ als Sprachschüler in London. Im Publikum auch Mick Jagger, der lauthals die Wiederholung des Nachtfilms verlangt. Oder ein Hausmeister, der Kunstwerke wie Beuys Fettecke entsorgt. Oder die Kassiererin der Krankenhauskantine, die dem Pantoffel-tragenden Arzt den Rabatt verweigert, weil sie ihn für einen Psychiatriepatienten hält. Oder der Extremkünstler, der in einem Plexiglaskasten drei Wochen lang Hühnereier ausbrütet.

Daneben gibt es Notizen, die Ungleichheiten ausleuchten. Als der Tochter aus mittelloser Familie endlich der Karrieredurchbruch als Opernsängerin glückt, möchte der Vater die Premiere auf einen anderen Wochentag verschieben lassen, weil dann weniger Parkprobleme zu befürchten sind. Manchmal führt das Akzeptieren von Absonderlichkeiten sogar zur Normalität: der Ehemann konnte seine Frau nur begehren, wenn sie Perücken trug. Die ersten fünf Ehejahre waren von 72 Perücken und zwei erfolgreich gezeugten Kindern geprägt.

In anderen Kapiteln werden Charakterdenkmäler freigelegt wie das arrogante Ausatmen des qualmenden Kanzlers Helmut Schmidt, die grenzenlose Eitelkeit eines Donald Trump, der bei Paraden einen Schritt vor Queen Elisabeth laufen will, die kultivierte Greisin, die mit bedingungsloser Hingabe einem  imposanten Boxer verfallen war. Verzeihen konnte sie ihm allerdings nie, dass er an einem banalen Wespenstich beim Picknick starb. Oder der Bankmagnat, der seine nackte Gattin Kirschkerne in einen Bottich spucken lässt. Mit dem ständig wiederholten Beifall „Sehr brav, meine kleine Mrs. Margaret Thatcher“ zelebriert er vermutlich seine erfolgreiche Lobbyarbeit in höchsten Regierungskreisen.

Zahlreiche Schriften lassen den Widerhall von weiser, betont banaler oder tragisch verfehlten Verknüpfung erkennen. Auf die törichte Tat des Internatsschüler Schirach, ein junges Reh in einer Eisenfalle schwer verletzt zu fangen, reagiert der Internatspater mit Besonnenheit: ein Mann muss mutig vorangehen, aber auch tapfer das Scheitern ertragen. Bei Erinnerungen an Bilder führt Schirach aus, dass wir nur unsere Erinnerungen sind. Das Vergangene sei nicht tot, es sei nicht einmal vergangen wie William Faulkner schrieb. Oder dies: Epiktets griechische Weisheiten könne man nur leben, wenn gerade nichts passiert. Dazu gehört auch, das zu ändern, was zu ändern ist und das andere schlicht zu akzeptieren. Tiefsinniger sind dann schon die Überlegungen zur Menschwerdung, deren markantes Merkmal, die Ausbildung einer wenn auch labilen Ethik ist. Teil dieser Ethik ist die Anerkennung der menschlichen Würde. Dieser Sieg über die Natur wird jedoch immer wieder herausgefordert. Schirachs eigener Großvater selbst war es, der als Reichsgauleiter die Vernichtung Wiener Juden organisierte. Mit dem Verweis auf die japanische Gedichtform Haiku versucht Schirach die unumstößliche Ambivalenz des Menschen zu beschreiben: er ist wie er ist. Es sei sinnlos danach zu fragen, ob der Mensch gut oder böse ist. Er ist es einfach. Er trägt das Gute wie das Hässliche in sich. Gerade deshalb ist es unverzichtbar, dass er sich eine Ordnung gibt. Ein juristisches System ist die gesellschaftliche Norm dieser Ordnung. Interessant bleibt dann für den Leser die ganz persönliche Frage, warum Schirach lange Jahre die selbst gestellte Aufgabe des Strafverteidigers ganz besonders faszinierte, wenn es doch nicht um das Begreifen der Taten ging.

Wie in früheren Werken, greift Schirach auch in diesem Buch juristische Fälle auf, die eine humanitäre Luft atmen. Alle Menschen haben eine Würde, egal ob Täter oder Opfer. Entsprechend zitiert er einen Schweizer Richter, der prinzipiell die Todesstrafe ablehnt, auch weil Fehlurteile gefällt werden. Einem dieser Fehlurteile konnte ein Häftling durch Flucht im letzten Moment entkommen und am Ende sogar sämtliche Geschworenen um vier Tage überleben. Beklemmend dagegen die Selbstaufgabe der Landespolitikerin, die nach endlosen Anfeindungen zusammenbrach, nur weil sie forderte, auch Kinderschänder eine Chance zur Rehabilitation zu geben. Schirach nimmt hier die Position ein, dass vor dem Gesetz alle gleich sind. Überraschend bleibt allerdings, wenn er in einem Interview die Verteidigung ausgewählter Fälle von Pädophilen ablehnt. Vielleicht wirft seine Zeit im Jesuiteninternat im Schwarzwälder St. Blasien späte Schatten?

Ein sehr persönlicher Bezug darf in mehreren Geschichten vermutet werden, die sich mit der Verbundensein zum Leben bzw. der Bereitschaft zum Tod befassen. Als Jugendlicher stand Schirach selbst dem Suizid nahe. Die Aussage, dass es auch ohne die Begabung glücklich zu sein, die Pflicht gäbe, zu leben, vermittelt in beide Richtungen etwas sehr Trauriges. Auch der Autor dürfte dies in sich tragen. Der KZ-Überlebende Imre Kertész hatte mehrere Tode überlebt. Nicht überlebt hatte seine Liebe zu sich selbst. Halt bietet dann nur noch die Form. Und so deckt er jeden Abend gesittet den Tisch und nimmt in seiner Einsamkeit seit Jahren Platz.  Note: 2– (ur)<<


>>Eine bunte Geschichtenmelange. Mal geht es um Schuld und Moral, mal wird eher locker abgeplaudert.  Aber was heißt da ab, es sollte eher hoch heißen. Hochgeplappert auf Platz 1 Spiegel Besten-Liste.  Nicht immer weiß man, wo  Authentisches endet und  dichterische Ummantelung beginnt.

Um es gleich zu sagen, kalten Kaffee serviert uns Ferdinand von Schirach nur in einigen seiner Stories,  aber Instant ist eine Menge mit dabei. Ein positiver Höhepunkt die autobiographische Nummer eins. Dann geht es auf und ab. Beliebigkeit dominiert.

Der Stil fast durchgängig  lakonisch melancholisch. Tod und Trauer mit Einschränkungen leitmotivisch. Dazu eine gewisse Bildungsbeflissenheit bis hin zur Selbstbeweihräucherung. Manchmal Pseudotiefgang. Der Verdacht, es könne sich bei dem Buch um eine Restverwertung handeln, scheint nicht ganz abwegig.

Das Thema Rauchen taucht relativ oft auf. Noch mehr in seinen Fernsehauftritten. Ich habe Herrn von Schirach gefragt, ob er sich schon mal mit Passivrauchen beschäftigt habe. Falls er wider Erwarten antworten sollte, Aktuelles dazu an dieser Stelle.
Note: 4+(ax)<<

 

 

 

Troll – Michael Hvorecky

Tropen 2018 | 213  Seiten.

>>Trolle verbreiten als virtuelle Medienidentitäten unter vorgetäuschten Profilen Falschmeldungen im Netz, um gezielt öffentliche Stimmungen zu manipulieren. Trolle arbeiten vereinzelt oder organisiert – auch als regimegesteuerte Machtinstrumente. Der Schauplatz des Romans darf in einem diktatorisch geführten Ostblockland verortet werden, in dem Falschnachrichten und Wahrheiten untrennbar miteinander verschmolzen werden. Vielleicht ist es die Zukunft der slowakischen Heimat des Autors. Technisch ist es jedoch die staatenlose Gegenwart. Im Mittelpunkt steht der Ich-Erzähler, dessen Ambition es ist, die manipulativen Lügenmaschinen des Internets zu entlarven. Das politisch anmutende Ziel trägt auch Vergeltungszüge und wird ebenso aus persönlichen Verlustmotiven der beiden Hauptfiguren gespeist.
Der Erzähler ist Sohn einer wohlhabenden Familie, die zu den wenigen Gewinnern des Regimes nach einem Hybridkrieg in der Post-EU-Phase gehört. Die Eltern entfremden sich. Der Vater flüchtet mit dem älteren Bruder des Ich-Erzählers in den europäischen Westen, worauf Ehefrau und zurückgelassener Sohn in eine anhaltende Krise stürzen. Eine fehlende Masernimpfung lässt den übergewichtigen, hässlichen Jungen schwer erkranken und fünf Jahre in maroden Krankenhäusern dahinvegetieren. Das politische System hat die Gesundheitsversorgung zusammenbrechen lassen. Während dieser Zeit lernt er die drogenabhängige Johanna kennen, der mit Willensstärke ein Selbstentzug gelingt. Beide Schicksalsverlierer schließen sich zusammen und planen, die Lügen des Systems und seine Manipulationsmaschinerie ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Johanna ist die versierte Treiberin. Zutiefst renitent und intelligent entwickelt sie Strategien, verteilt die Rollen und wird zur einzigen Freundin im isolierten Leben des Jungen. Es ist eine Symbiose, in der beide Aussätzige sich gegenseitig Halt in einer haltlosen Situation geben.
Das erste der beiden Buchkapitel zeichnet die Persönlichkeitsbilder der beiden Hauptfiguren in den erbärmlichen Niederungen einer in sich zusammengebrochenen Gesellschaft. Willkür und Gewalt, Armut und Chaos bestimmen das Dasein. Auch der aufgedunsene Junge entwickelt niederträchtige Züge begleitet von einer Fresssucht, zu deren Befriedigung er den anderen Heimgenossen die letzten Krumen stiehlt. Bizarre Sanatoriumsrituale absurder Patientengruppen vermitteln den Eindruck eines bösen Märchens. Es ist ein Milieu, in dem die beiden Protagonisten nur mühsam zu Helden der Moderne reifen.

Das zweite Kapitel beschreibt den Widerstandskampf in der De-Informationszentrale des Internetagitators Valys. Die geläuterte Johanna und der inzwischen 20-jährige Junge haben sich nicht nur intensiv fortgebildet und ausgefeilte IT-Kenntnisse angeeignet, sie beherrschen auch Fremdsprachen und verfügen über umfangreiche Sachkenntnisse, um in gesellschaftlichen Debatten Paroli bieten zu können. Mit diesen Kompetenzen gelingt es ihnen eine Anstellung in Valys berüchtigter Troll-Fabrik  zu erhalten.
Täglich werden Scheinkonflikte definiert wie die vermeintliche gemeinschädliche Ausbeutung des nationalen Gesundheitssystems durch angeblich parasitäre Roma-Horden. Die öffentliche Diskussion beginnt typischerweise mit einer schlichten Sachdebatte, die zunehmend mit tendenziösen Stellungnahmen fortgesetzt wird, um dann in persönliche Angriffe gegen beteiligte Blog-Diskutanten überzuleiten bis schließlich ein von Hass bestimmter Erregungszustand erreicht wird, in dem sich ohne weiteres Zutun die wachsende Zahl der Blog-Follower gegenseitig zerfleischen. Das immer wieder zelebrierte Chaos liefert letztlich Vorschub für den Ruf nach einer autoritär ordnenden Führung. Um den anfänglichen Diskurs unauffällig zu gestalten, werden in der Troll-Fabrik Pro- und Contra-Rollen verschiedenen Mitarbeitern zugeordnet bis schließlich externe Webteilnehmer auf die Kontroverse aufmerksam werden und die Auseinandersetzung selbstständig verschärfen. Die Aktivitäten der Troll-Fabrik wirken umso glaubwürdiger, da die Troll-Diskutanten mit nachvollziehbaren Profilen auftreten. Zu diesem Zweck gibt sich ein Troll-Mitarbeiter je nach Kompetenz ein bis 30 Identitäten von der einsamen Witwe, die in ihrem Leben nach Gewissheit sucht oder dem älteren Herren, der mit versöhnlicher Nonchalance die Welt beurteilt bis hin zum nassforschen BWL-Studenten, gestählt im eigenen Reihenhaus-Fitnesskeller, mit authentischem Fremdenhass und tätowierter Freundin. Alles über Monate im Netz sorgsam vorbereitet und auf öffentlichen Servern mit umfassendem Bildmaterial hinterlegt.

Der Ich-Troll entwickelt sich zum Vorzeigeaggressor, der sich durch eine besonders große Zahl und Vielfalt von Pseudoprofilen eine unumstößliche Spitzenposition in der Fabrik erarbeitet. In der naiven Öffentlichkeit wird er zum Blogger mit den meisten Hates. Die legendären Hasstiraden treiben schließlich aufgebrachte Menschenmassen auf die Straßen. Puppen mit seinem allseits bekannten Erscheinungsbild werden verbrannt. Hysterische Rufe ihn zu lynchen schallen durch die Häuserschluchten. Es gibt die aufgeklärte Öffentlichkeit also doch, auch wenn sie gefährdet ist. Verbunden mit einer Empörungskultur scheint sie für wahre wie für unwahre Nachrichten gleichermaßen empfänglich. Unbeirrt entwickelt er immer einflussreichere Kampagnen, die am Ende noch nicht einmal das offene Auftreten der Agitatoren in der Öffentlichkeit scheuen. Eine legendäre Roadshow soll die Überzeugungsarbeit der Agitatoren vertiefen.

Als verfeindete Gruppen auch die Troll-Fabrik ins Visier nehmen, verdächtigt der Ich-Erzähler Johanna als Urheberin, worauf sie verhaftet wird. Er hingegen wird als unumstößlich loyal gefeiert. Das Geschwür des Trolling hat seinen Organismus überwuchert. Johanna hatte dies als Notwendigkeit vorausgesagt, auch wenn unklar blieb, wie dadurch das Lügensystem entlarvt werden sollte. Die Lawine der Denunzierungen und öffentlichen Anfeindungen lässt schließlich die Troll-Fabrik kollabieren. Die Wirkung ist deshalb so umfassend, weil Johanna in weiser Voraussicht Verleumdungsnachrichten über ihre Person mit einem Fälschungshinweis im Auto-Publishing-Modus selbst ins Netz gestellt hatte. Als die Troll-Beschuldigungen über ihren Verrat erscheinen, ist die Blog-Gemeinde bereits gewarnt. Der öffentliche Zorn kehrt sich um und richtet sich fortan gegen den wahren Troll-Apparat.

Entsetzt von der eigenen Niedertracht und um der schuldbeladenen Vergangenheit zu entkommen, lässt der Ich-Erzähler an sich einen körperlichen Gestaltwandel vollziehen. Chirurgische Eingriffe entstellen ihn bis zur Unkenntlichkeit, verfremden seine Stimme und verfälschen seine Fingerabdrücke. Die konsequente Verstümmelung ist auch ein Schuldbekenntnis. Er kehrt das ursprünglich innere in ein äußeres Monster. Währenddessen kommt es zum Systemumsturz. Zu guter Letzt führt der Autor das Monster und die befreite Johanna wieder zusammen. Ihre neue, selbst gestellte Aufgabe lautet: Valys Desinformationsfabrik in eine Anti-Troll-Einrichtung umzugestalten. Das aufklärerische Happyend mit moralisierender Deklaration samt eingestreutem Vaclav Havel-Zitat wirkt jedoch etwas bemüht.

In jedem Fall erhellend bleiben die Systembeschreibungen der demagogischen Fake News- Produktion, die trotz der literarischen Ausmalung überzeugend realistisch sind. Erhellend auch die Darstellung des Suchtpotentials für die individuellen Trolle, das vom Machterleben suggestiver Meinungsmanipulation ausgeht. Ein mittelprächtiger schriftstellerischer Wurf im Duktus eines gut-gemeinten Gegenwartmärchens.
Note: 2/3 (ur) <<


>>Das Buch beginnt mit dem Ende. Das Tableau – eine Welt ohne Fakten „Echte Anarchy in the UK. In Europa, in den USA“ –Desinformationskrieg in Osteuropa unter der Herrschaft eines „Systems“. Der Protagonist der Geschichte ist nach der vermeintlich heldenhaften Zerschlagung des „Systems“ zur öffentlichen Hinrichtung ausgeschrieben. Alles bleibt diffus aber man vermutet das „System“ hat überlebt. Einzig Rekonstruktionsmedizin und die Künste der Dysphonie scheinen den Maskenmann vor einem grotesken Lynchprozessionszug zu retten. Da fährt der Autor alles auf, was diese Gesellschaft zu bieten hat und was ihm nicht passt: Vereint sind Linke und Rechte, Reichsbürger, Priester in Kutten, Naturheiler, Homöopathen, Veteranen des vergangenen Krieges, natürlich zusammengerufen durch Google und Facebook begleitet von der Melodie eines widerlichen Killerraps gegen den Troll. Es taucht ein Name auf Johanna, nebulös, der Kontext bleibt verborgen. Es folgt bis zum Ende des 1.Teils die Entwicklungsgeschichte der beiden Hauptfiguren und der Nebel  des Beginns lichtet sich zunehmend. Der Ich-Erzähler ohne Namen.. Opfer der elterlichen Verblendung sich der Alternativmedizin zu verschreiben statt der Masernimpfung der Pharmaindustrie zu vertrauen. Die Folge 5jähriger Krankenhausaufenthalt als Fettwanst und Jungfrau unter 3.Weltbedingungen bei gleichzeitig gut funktionierendem Internet. Die 2.Hauptfigur – Johanna, Drogenkarriere aber schon in frühen Jahren belesen in russ. Literatur, Eltern gutbürgerliches Milieu (Drogenkarriere der Tochter scheinbar entgangen) dann Drogenentzug und Klinikaufenthalt, der die beiden Loser zusammenführt um schließlich nach nachgeholtem Schulabschluss, IT Kursen und Studium die durch  den Informationskrieg völlig manipulierte Welt zu retten. Der Kampf gegen die Trolle wird zur Mission, nicht weniger als eine „unsichtbare Heldin“ werden, heißt das bei Johanna, um „ein wenig das wiedergutzumachen, was sie im Leben vermasselt hatte“ (– was hatte sie eigentlich vermasselt??) Nein, der Einstieg der beiden zunächst Gescheiterten nach dem Modell David gg Goliath will wenig überzeugen und ist nicht frei vom Superman-Klischeel. Eine Nachricht im Netz, sie betrifft das, womit man die Massen am besten manipulieren kann – das Flüchtlingsthema „Schock in der Apotheke. An ALLE weiterleiten“ bringt die Wende vom Plan zur Tat. In diesem 2. Teil des Romans wird die Horrorwelt eines Systems beschrieben, geleitet von einer zwielichtigen Figur namens Valys, einst Zögling eines einflussreichen Oligarchen, Geheimdienstler, „Gründer der gefürchteten Prague Trolling Factory“, der über sämtliche perfiden und niederträchtigen Techniken der Kommunikationstechnologien verfügt. Wie es den beiden jungen „Helden“ gelingt, sich in dieses System einzuschleichen, sich seiner Methoden zu bedienen, ja sie sogar zu perfektionieren, bis an die Grenze des Verlust der eigenen Identität, die Konstruktion immer neuer Netzidentitäten, das ist die Stärke des Romans. Hier wird eine Apokalypse vorgeführt, die durch zahlreiche Gegenwartsbezüge deutlich macht, wie nahe wir schon in der Zukunft angekommen sind. Ob es allerdings der Komplexität eines global agierenden Netzwerks von Hate-Posters, Troll-Mafiosis, Digital-Faschisten gerecht wird, von „Chef“, „Büro“, „Abteilungsleiter-Meetings“, „Beförderung“ des Ich-Erzählers zum „Chef des Trolling-Teams“ zu sprechen, kann bezweifelt werden. Das entspricht doch eher den Dimensionen eines hierarchisch geführten Einzelunternehmens. Aber vielleicht erfordert die Konzeption des Romans von zwei guten Helden dann doch den personalisierten Bösewicht Valys als Gegenspieler. Am wenigsten überzeugt der Schluss des Romans. War mit  Romanbeginn eher der Sieg des „Systems“ über seine beiden Widersacher zu vermuten, so liefert das Romanende eine andere Lesart. Valys ist „angeblich im Nachbarland“ mit seinem komplett neu erfundenen System unterwegs, Johanna macht auf Medienerziehung, um „im Land das kritische Denken zu entwickeln“ und unser Ich-Erzähler legt auf einer „alten mechanischen Schreibmaschine Zeugnis ab über die Trolle“. Soviel Romantik nach so viel Internethorror, das muss man erst mal aushalten können. Note: 4 ( ai)<<


>>Der Auftakt furios: Der namenlose, maskierte Ich-Erzähler gerät in einen Mob von tausenden hasserfüllten Menschen, die ihn lnychen wollen. Eine alptraumhafte Szenerie, die an ein Endzeitmovie wie Mad Max erinnert. Er wurde als Troll enttarnt, als gefakter Keanu Reaves und 80 weiterer Profile. Er wurde im Netz daraufhin als „chasarischer Zionist, als Nazijude, Vaterlandsverräter, Faschist, Schande für die Welt, Russenfreund, Amifreund, Israeli, Gutmensch, Fettsack“, usw. beschimpft. Die Mechanismen des Netzes, die er selbst jahrelang mitbetrieben hat, wenden sich nun brutal gegen ihn. Wahrheit oder Logik der Post spielen nicht die geringste Rolle. Höhepunkt: Der Rap der Motorradgang Vaterland vor der grölenden Menge:
„Der Troll geht über Leichen für Petroshekel,
Hau weg den Scheiß, uns packt der Ekel,
nicht liken, sondern blocken, dissen!
Die Homobitch soll sich verpissen“,…

Das ist großartig gemacht und man erfährt nun im Rückblick, wie es dazu kam. Der historische Zeitrahmen bleibt unklar, aber es scheint sich in einer nicht allzunahen Zukunft in einem Land in Osteuropa abzuspielen. Das Land gehörte einst zur Europäischen Union, bis diese zerfiel. Das „Reich“, das einen Informationskrieg und auch einen Hybridkrieg angezettelt hat, ist unschwer als Russland zu identifizieren.
Der Ich-Erzähler lernt in seinem jahrelangen Krankenhausaufenthalt die drogenabhängige Johanna kennen. Auf dem Höhepunkt des Informationskrieges, in dem mit tausenden von fake news  Hass verbreitet wird, entschließt sich Johanna, gegen die Trolle anzukämpfen und er schließt sich Johanna an. Sie lassen sich in eine Trollfabrik einschleusen und werden dort erst einmal Teil der Maschinerie. „Eine Weile werden wir sein wie sie, um zu zeigen, dass wir nicht so sind wie sie“.
Hvorecky gelingt es in diesem dystopischen Roman sehr eindringlich und sehr kenntnisreich, zu zeigen, wie eine moderne Gesellschaft durch Desinformation und Leichtgläubigkeit in seinen Grundfesten erschüttert werden kann. Sehr lesenswert. Note 2 (ün)<<


>>„Trolle trinken Trollinger“ gehört zu den missrateneren Slogans der bayrischen Kalauerakademie Pullach. Trolle trinken Bier wie wir, wenn überhaupt. Was ein Troll so ganz genau ist, ist mir auch nach der Lektüre von „Troll“ nicht hundertprozentig klar geworden.

Der Roman kommt erst nach einer langwierigen Eröffnungsphase mit grusligen Einblick in einen eher fiktiven Klinikalltag zum Thema Troll. Der Ich-Erzähler und seine Freundin sind beide beeindruckende Loser, wenn auch auf unterschiedliche Art. Beide steigen sie in eine „Troll-Agentur“ ein, die mit einschlägigen Methoden im Auftrag des „Reiches“, womit wohl Russland gemeint sein dürfte, einen Informationskrieg führt, Menschen diffamiert, pusht und mobbt. Johanna versucht die Agentur von innen heraus lahmzulegen. Am Ende „sprengen“ die beiden das Troll-Institut, werden aber dadurch das Ziel von Lynchattacken.
Der Roman  wirft Zeitebenen durcheinander, Realität und Sciencefiction  wechseln sich ab oder vermischen sich, insgesamt eine Herausforderung für den Leser. Schrille Farbigkeit dominiert. Ist die Situation in Osteuropa auf uns übertragbar? Wir bräuchten eigentlich keine Troll-Agenturen.

Zu Beginn des Jahres beschäftigten Hackerangriffe auf 994 Politiker/innen und Prominente die bundesrepublikanische Öffentlichkeit. Steinmeiers private Handynummer, ja so was. Man mutmaßte über Spuren nach Moskau oder gar Peking. Dann stellte sich aber heraus, dass die Attacke aus dem Kinderzimmer von Johannes S. (Alsfeld) kamen.
Die russischen Twitter-Agitatoren spielen in einer anderen Liga. Die ZEIT  vom 16. Mai 2019 beschreibt die Aktivitäten einer Troll-Fabrik in St. Petersburg.Von daher ist der Roman wohl doch näher an der Realität als uns lieb sein kann.

Der Roman des erfolgreichsten slowakischen Schriftstellers endet optimistisch. Johanna unterrichtet Medienerziehung an Gymnasien. Darum, Ende gut, alles gut. Note: 2/3 (ax)<<