Penguin Verlag 2018 | 320 S.
>> Ohne Ingwer Feddersens Sabbatical wäre Brinkebüll in Vergessenheit geraten. Lehrer Steensen und dem namenlosen Landvermesser sei Dank. Dörte Hansen gelingt mit ihren großartigen Figuren ein Meisterwerk eines sich auflösenden dörflichen Mikrokosmos. Kein Satz zu viel, Lebensgeschichten auf den Punkt gebracht. „Der erste Akt vorbei, die Plätze alle schon besetzt“ , das genügt. Die Rückkehr aus der gleichfalls treffend beschriebenen Kieler Gegenwelt ist letzten Endes eine Liebeserklärung an einen Generationenabschied, den man einfühlsamer und liebevoller nicht beschreiben kann. De Ole und Ella haben ihn verdient. Note: 1 ( ai) <<
>>Die Saaleeiszeit hatte kein Nachsehen mit Blick auf das nordfriesische Brinkebüll. Auf unfruchtbarer Geest platziert, den polar-verdächtigen Nordseewinden ausgesetzt und seit Menschengedenken von Weltströmungen abgeschnitten, konnte sich hier nur ein stures Geschlecht behaupten. Eben Brinkebüller. Doch am Ende des zweiten Jahrtausends werden die Sommer wärmer, Gemüter tauen auf, während andere verdorren. Mittagsstunde ist der Wendepunkt, an dem manche Familiengeschichte einen unerwarteten Verlauf nimmt, persönliche Höhepunkte überschritten werden, und soziale Gefüge dem Abend entgegenreifen. Mittagsstunde ist die Anamnese eines Soziotops, einer Dorfgemeinschaft, in der physiologische Phänomene und pathophysiologische Symptome um das Normative ringen. Irgendwie scheint irgendwo alles irgendwann einmal normal. Auch wenn es abwegig anmutet. Mittagsstunde ist aber vor allem die Zeit von Ingwer Feddersen, universitärer Frühgeschichtler, Allzeitachtundsechziger, Erbschaftsverweigerer und Heimatgebundener, dem wir durch die erdigen Gassen folgen. Mal durch sein Glas, mal am Kaleidoskop vorbei schauend auf die Urgewächse seiner Familie und die knorrige Nachbarschaft. Mittagsstunde behandelt den Wandel, Verluste und das Ende, Aufbrüche, Versuche und Durchbrüche. Und dies erstaunlich sympathisch, einfühlsam und unaufgeregt, bizarr, bunt und unterhaltend. Nicht ohne der Tragik gebührenden Respekt zu zollen. Die Eiszeit hätte es nicht anders gemacht.
Familie Feddersen betrieb seit Generationen den Gasthof: Stammtische, Psychotherapiebesinnungen, Trunkenboldpsychopathen, Jubiläumsrituale, musikalische Heiterkeiten, Unterkunft und Verpflegung. Der Saal war meist belebt, der Boden musste allmorgendlich von den gröbsten Spuren befreit werden. Es war ein gutes Zeichen. Heute kann man schon mal `ne Woche aussetzen. Jahrzehnte beanspruchte der alte Sönke Feddersen die Thekenhoheit. Seine stille Frau Ella war der verlässliche Diesel im Küchengetriebe. Sie sprach ausgesprochen wenig, was keiner merkte, weil sie aufmerksam zuhörte – man fühlte sich endlich einmal verstanden. Das Paar war schon ewig ein Paar, auch wenn die Anfänge umstritten blieben. Sie war die Schönste im Umland, und nicht nur von Westwinden umweht. Sönke war der Glückliche, musste jedoch in den Krieg. Nach seiner Rückkehr kam Tochter Marret zur Welt. Schon mit geringer Rechenerfahrung war zu erkennen: eine Geburt nach erstaunlich kurzer Schwangerschaft. In der Tat war da noch ein stiller Anderer (Lehrer Steensen). Ella war nicht untreu. Ganz im Gegenteil, sie blieb beiden Männern treu. Ein ganzes Leben lang. Sönke tröstete sich damit, dass Marret misslungen war. Und von ihm hatte sie es ja nicht. Zur Familie gehörte auch der deutlich jüngere Ingwer, für den Sönke und Ella ebenso Vadder und Mudder waren. Erst viel später sollte sich das als tragischer Irrtum herausstellen.
Tochter Marret war sonderbar. Immer wieder versank sie in einem unverstandenen Kokon. Unerreichbar, voller Nebel und mit eigenwilligen Bildern. Man verstand zwar, dass vieles unpassend war, aber man ließ sie gewähren. Man kannte ihre Rückzüge, wusste dass sie stundenlang in einem Schrank oder unter Hecken sitzen konnte. Man ertrug ihre Marotten, wenn sie von Tür zu Tür ging um den drohenden Untergang zu beschwören oder Requisiten verendeter Kleintiere für ihr ganz persönliches Heimatmuseum sammelte. Als Marret 17 war, kamen Landvermesser in die Wirtschaft. Als sie gingen wurde nicht nur die alles verändernde Flurbereinigung Gewissheit, sondern auch Marrets Schwangerschaft. Marret wusste nicht, was die Unruhe in ihrem Unterleib bedeutete, aber eine grenzenlose Furcht beschlich sie. Die Eltern waren umfassend sprachlos. Eines Morgens fand man Marret mit gebrochenen Beinen halberfroren im Schnee. Der Sprung vom Dach war missglückt. Sie lebte noch. Dann kam das Kind zur Welt, dass sie gar nicht wahrnahm. Und so wurde Sönke ein zweites Mal Vadder ohne Vater zu sein. Das uneheliche Kind seines Kuckuckskindes, welches die Scham ins Unerträgliche gesteigert hatte, wurde schlagartig seine Herzensangelegenheit als man beschloss, ihm den Namen seines Vaters zu geben: Ingwer. Er trug das Neugeborene monatelang unter dem verschwitzten Hemd auf der nackten Haut. So wurden Marret und Ingwer Geschwister. Erst Jahre später sollte Ingwer realisieren, dass seine vermeintliche Schwester seine Mutter war, und dass sein Vater unbekannt blieb. Marret lebte weiter ihre absonderliche Abgeschiedenheit. Als nach der Aufgabe des Gasthofs ihr kleiner Museumsschuppen abgerissen wurde, verlor sie ihre wahre Welt und jeden Halt. Man konnte sie in keinem Schrank mehr finden. Sie blieb verschollen. Selbst einen leblosen Frauenkörper fand man nie.
Für Ingwer blieb Marret die verschwommene, entrückte Schwester. Er dagegen überraschte mit erkennbar mehr als Bauernschläue. Dies wurde Dorfschullehrer Steensen sofort klar, als der kleine Bub, sein Enkelkind, sich für sein Steckenpferd frühgeschichtliche Bodenkunde zu interessieren begann. Studiert, promoviert, aber immer fremd geblieben im universitären Milieu, zu dem sein Geestwesen nicht so recht passen mochte. Er blieb unangepasst, wohnte seit über zwei Jahrzehnten in derselben Kieler Dreier-WG, teilte sich mit dem männlichen Mitkommunarden dieselbe weibliche Mitkommunardin und litt ordnungsgemäß an den unausgesprochenen Freiheiten.
Herrlich in Szene gesetzt von Dörte Hansen sind auch die Mitbewohner. Ragnhild Dieffenbach, emanzipiert laute Diplomarchitektin mit der Passion Sichtbeton – nicht nur grob städtebaulich, sondern auch fein prozessiert als Visitenkarte. Ihr Händedruck grenzte an Körperverletzung. Auch für den gescheiterten, aber Ich-gefestigten Studenten Claudius war alles zu klein, weshalb er immer die großen Lösungen suchte. Fenster putze er mit einer generalstabsmäßigen Vorbereitung wie Chirurgen eine Herztransplantation planen. Er machte die Gepflogenheiten seines Elternhauses zur Lebensaufgabe, gehörte fortan zu den regelmäßigen Siegern der Kieler Woche und baute Mahagoni-Yachten für den betuchten Freundeskreis. Da wirkte Ingwers ländliche Gasthaus-Prägung immer etwas arg verweht. Und dennoch mochten sie sich aufrichtig.
Als Vadder und Mudder mit dem Alter entglitten, verbrachte Ingwer ein Sabbatical-Jahr daheim. Es war ein weiterer rührender Abschnitt in der Brinkebüller Chronik. Mit unendlicher Nachsicht begleitete der inzwischen 48-Jährige die Senioren in einem neu definierten Vater-Mutter-Kind-Format. Als Erziehungsberechtigter erduldete er mit olympischer Geduld Sönkes Gutsherrengedöns ebenso wie Ellas bizarre Demenzeskapaden. Da nur Ellas Gliedmaßen, nicht aber der Kopf noch guttaten, ließ Ingwer der Motorik jeden erdenklichen Freiraum. Beim täglichen Abwaschritual schlug Ella so lange auf das angenehm warme Spülwasser ein, bis es vollständig auf dem Küchenboden verteilt war. Wie jeden Morgen nutzte Ingwer die Zeit zum Putzen, die Ella für das folgende Broteschmieren benötigte. Dies dauerte hinreichend lange, seitdem sie das Brot wegließ, die Butter direkt auf Teller oder Küchentisch auftrug und dann länger brauchte, um den Honig großflächig zu verteilen. Ingwer schätzte die ausgeglichene Stimmung dieser Stunden. Schön auch, dass das gleiche Programm am nächsten Tag erneut Freude bereitete.
Der schwächelnde Vadder Sönke beschleunigte noch einmal auf der Zielgeraden und beschloss, den 70. Hochzeitstag mit Ella überschäumend zu feiern. Monate vorher wurden Einladungen verschickt. Getränkefolge, Begleitmusik und Garderobe waren längst beschlossen, als er eine Woche vorher in seinem Sessel entschlief. Es war ein schöner Umstand. Begraben wurde er am Tag der Gnadenhochzeit.
Der Gasthof wurde Heiko Ketelsen übertragen, der einen Westernsaloon daraus machte. Er holte seine verlorene Jugend nach, die ihm sein jähzorniger Vater zerprügelt hatte. Nicht von ungefähr trug er den Spitznamen Jaulnich. Auf Jaulnich hatte auch Lehrer Steensen eingeschlagen. Er mochte keine Dummheit. Und von dieser vermutete er bei Heiko Ketelsen ein Übermaß. Bei der überaus störrischen Gönke Boysen hingegen durchschaute er schnell, dass ihre Absonderheit Ausdruck größtmöglicher Einsamkeit war. Dahinter vermutete er verschüttete Intellektualität. Entsprechend förderte er sie gegen den Widerstand der Eltern, so dass sie das erste und einzige Brinkebüller Mädchen wurde, das je studierte. Was wusste man nicht genau, aber es war irgendetwas mit –istik.
Für Ingwer Fedddersen war die Rückkehr eine Einkehr, ein letztes notwendiges Atmen sinngebender Gerüche, ein Aufnehmen erinnerungsträchtiger Geräusche, ein Beleben verschütteter Abläufe, ein Kontrastieren verschwommener Umrisse. Auch wenn die Dorfstraße schon begradigt war, und die Bäume schon gefällt waren. Das Album ist vollendet. Schönes, Beschämendes, Ungewöhnliches, Empörendes, Rührendes, Ermutigendes. Ingwer hat verstanden. Die Eiszeiten kommen und gehen. Und das ist gut so. Jetzt kann auch er gehen, angefüllt aber ohne Wehmut.
Mit beeindruckender Treffsicherheit zielt Dörte Hansen in die Weichstellen sozialer Physiognomie und legt in friesischer Nüchternheit endemische Phänotypen des Homo Geesticus frei. Dass sie dabei ohne verspielte Gefühlsromantik sondern mit trockenem Humor in schicksalhafte Seelentiefen vordringt, macht die Mittagsstunde zum Lesegenuss. Vielleicht darf das Werk auch als Hommage an ihren verstorbenen Geistesnachbarn Siegfried Lenz verstanden werden, der mit ganz ähnlichem Gestus in „Der Geist der Mirabelle“ die herrlichen Besonderheiten der Geestbewohner skizzierte. Zwar taufte Lenz seinen literarischen Ort Bollerup, all ihre Bewohner aber trugen den Namen Feddersen. Ihre Welt war nicht minder bemerkenswert wie die des Brinkebüller Bäckers, der immer nur Schwarz-, Grau und Rosinenbrot backen durfte. Nur in der Weihnachtszeit scherte er aus, wurde zum geächteten und nur von wenigen geachteten Konditor, wenn er für die Weihnachtskrippe Marzipan-Hanomags bastelte. Erst als er sich nach Neujahr wieder auf Schwarz-, Grau- und Rosinenbrot beschränkte, kam seine besorgte Frau zur Ruhe. Note: 1 (ur) <<
>> Kann ein Roman über die eigenbrötlerischen Bewohner eines nordfriesischen Dorfes namens Brinkebüll, die dazu noch platt snaken, ein Erfolg werden? Kann es, wenn einem eine so großartige detailgenaue, kenntnisreiche Sprache zur Verfügung steht, wie Dörte Hansen! Mit wenigen Skizzen kann sie auch Nebenfiguren, wie etwa das wilde Kind Gönke Boysen, das zur Disziplinierung in einen Hundezwinger gesperrt wird, großartig zeichnen. Im Zentrum aber stehen Ella und Sönke Feddersen, die Tochter Marret, das rätselhafte, verdrehte Kuckuckskind, das „angeschlossen war an etwas Großes, Heimliches, von dem die anderen nichts wussten“, Ingwer Feddersen, der Sohn von Marret, der seine Mutter lange für seine Schwester und Sönke für seinen Vater hält, der eine Schuld abzutragen hat bei Sönke und Ella. Auch Sönke meint, dass er eine Schuld abzutragen hat, nachdem er aus dem Krieg heimgekehrt war und spürte, dass er zu spät war und dass Dinge ihren Lauf genommen hatte. Allein diese einfühlsame Passage ist schon die Lektüre wert. Auch Lehrer Steensen, der eine nicht unerhebliche Rolle im sozialen Gefüge des Dorfes spielt und dem auch im Roman mehr als eine Nebenrolle zukommt, ist grandios und mit viel hintergründigen Humor gezeichnet. Die Veränderungen im Dorf kommen in den späten 60-er Jahren mit der Flurbereinigung, die Straßen werden begradigt und die Hofeinfahrten, manche Höfe werden größer, andere gehen zu Grunde, Gasthöfe sterben, manche Bauern sehen keine Zukunft mehr. Auch die „Mittagstunde“, die früher den Tag strukturierte und den Dörflern heilig war, gibt es nicht mehr.
„Mittagsstunde“ ist große Literatur, spannend, witzig, liebevoll und sprachlich brillant. Note: 1 ( ün)<<
>>„De Welt geiht ünner“, sagt uns Marret Feddersen gleich auf der ersten Seite. Nicht die ganze Welt, ihre Welt, die Welt des Dorfes, sie geht unter und der Untergang spiegelt sich nicht nur im Sterben der Ulmen. Die über fünf Jahrzehnte beschriebenen Veränderungen des Dorfkosmos würden Soziologen schlicht als Strukturwandel bezeichnen. Bezogen auf das Buch wäre das fast zu platt. Natürlich nicht im Sinne von Platt-oder Niederdeutsch, ein Idiom, das das Buch auch prägt.
Dörte Hansen ist ein ergreifender Roman gelungen. Das liegt an ihrer lakonischen, manchmal boshaften, aber insgesamt genialen Erzählweise. Besonders deutlich wird dies bei der Schilderung menschlicher „Extremsituationen“ zwischen Leben oder Tod. Für Marrets Schwängerung reicht ihr ein Satz:“Gar nichts Weltbewegendes, nur eine kleine uralte Geschichte, aber Marret kannte sie noch nicht.“ Oder als der Sohn den gerade verstorbenen Vater findet:“Ganz still. Ingwer stand ein paar Sekunden in der Tür, bevor er es verstand.“ Hansen beherrscht auch die hohe Kunst der Ironie. Im Zusammenhang mit dem Antrag für eine DFG-Projekt liest man:“ Drapieren, tarnen, mauscheln, blenden. Es war die Pest.“ Köstlich.
Die Portionierung in 22 übersichtliche Kapitel empfand ich als äußerst leserfreundlich. Insgesamt wird im Roman wie gesagt viel Plattdeutsch gesprochen. Klar, das macht das Buch authentischer. Würde ein Roman, in dem die Bewohner eines Albdorfes originales Schwäbisch reden würden, auch in Hamburg Leser finden?
Abschließend ein lobendes Haiku auf den Roman, kontrapunktisch in der hiesigen Mundart:
S‘Dorf got onder, weh
Dörte Hansen schreibt‘s genial
Heula kennt mer do.
Note: 1– (ax)<<