Sils-Maria 2004

Erinnerung an eine Literaturreise

10. Juli 2004 Tübingen
Ein sommerlicher Freitag Spätmittag. Platzeinnahme in einem BMW mit Langzeitkomfort. Wohlwollende Erwartungen in der kleinen Gesellschaft, die noch nie ein gemeinsames Reiseziel ins Auge fasste. Das viele, über die Jahre durchdrungene Papier macht es möglich. Wie schön. Kaum zwei Stunden später: Eingang in das Ausland, die Schweiz grüßt mit alpinen Höhenlagen. Doch – die Lesegruppe wird von einer Reiseschwäche überrascht. Den Fahrer suchen die Folgen einer zu kurzen Nacht derart heftig heim, dass ein Erschöpfungsschlaf unvermeidlich wird. Den auch nicht mehr ganz jugendlichen Restlesern gelingt es, in einer unliterarischen Autobahnraststätte die Zeit und Müdigkeit (wo kommt die eigentlich her?) zu vertreiben. Noch ist Literatur kein Thema.

Am frühen Abend Halt auf der letzten Naturhürde (Julierpass) vor den Tiefen des Inntals, welches als eines der schönsten Hochgebirgstäler gepriesen wird. Bei so viel Lobpreisung ist ein respektvolles Innehalten eine Selbstverständlichkeit. Das Wetter zieht an und will mit der Naturschönheit nicht mithalten. Ankunft im Hotel Edelweiss, 130 Jahre Hotelgeschichte, 110 Jahre unmittelbare Nachbarschaft zum Nietzsche Haus.
**** Hotel mit ebenso vielen Freiheitsgraden im Aufbau. Die Herausforderungen der Gänge, Treppenhäuser und Anbauten dürfte für orientierungsbegeisterte Pfadfinder ein Genuss sein. Dennoch gelingt es der Literaturgruppe, die sich besser in durchnummerierten Buchausgaben zurechtfindet, wiederholt, die Wege von den Zimmern ins Freie zu meistern. Nach kurzer Orientierungslosigkeit folgt freudige Gelassenheit. Die Vierergesellschaft belegt zwei Doppelzimmer (mit Halbpension). Die Aufteilung erfolgt ohne jeden Streit in Geräuschgruppen. Nichtschnarcher bleiben unter sich.

Abendessen. Ein erster Spaziergang vermittelt den Eindruck, wie dunkel das gebirgige Ausland bei Nacht sein kann. Oder ist es das das Gemüt verdunkelnde Weltbild Nietzsches? Sils-Maria ein kleiner, feiner Ort, der für die Rezensenten mit dem großen Thema eine angemessen bedachtvolle Ausströmung hat.

11. Juli 2004 Sils Maria
Schlaf. Frühstück in einem der „schönsten Jugenstilspeisesäale der Schweiz „. Die Männergruppe ist beeindruckt. Eingetrübt wird der morgendliche Glanz von einem Fieberangriff auf den mitgereisten berühmten Literaturkritiker des Klettverlags. Die geplante Bergwanderung steht in Frage, wird dann jedoch wegen des robusten Leistungsstandes des Patienten (Stelios sei Dank) mit Nachsicht begonnen.Die Gruppe nähert sich der Talstation einer Seilbahn. Winterlicher Zugwind provoziert die angeschlagene Gesundheit, wird dann aber mit einer winddichten Überhose abgewehrt.
Der Patient gibt nicht auf. Auf 2312m über dem Meeresspiegel, wenig oberhalb der Mittelstation der Furtschellas Bahn gewinnt der Kritiker dank der gesunden Höhenluft seine volle Leistungsfähigkeit zurück. Es folgt eine allerliebste mehrstündige Wanderung an blühenden Alpenrosen und gurgelnden Wasserfällen vorbei. Die durchbrechende Sonne, der leicht abfallende Weg ohne Steigungen und die gemütliche Gangart verbreiten eine freudige Stimmung, die die Gruppe Herrn Nietzsche allzu gern gegönnt hätte.

In der Nachmittagsstunde hätte sich im kleinen Bergrestaurant im Fextal eigentlich Rüblitorte aufdrängen sollen, doch passt die hitzige Skiatmosphäre des Restaurants so gar nicht in die sommerlich warme Grundstimmung. Die Wandergruppe, die durch die bereits gemeisterten Halbabenteuer enorm an Selbstvertrauen gewonnen hat, entschließt sich, ohne Unterbrechung weitere Kilometer auf sich zu nehmen. Gesucht wird ein romantisches Bergcafe mit Freiterrasse und bodenständigem Kuchenangebot. Eine Dreiviertelstunde später wird die Mannschaft in den Alpen fündig. Darauf folgt der Abstieg nach Sils-Maria. Zu diesem Zeitpunkt zeigt die Mehrzahl der Teilnehmer unübersehbare Zeichen der Erschöpfung. Der geplante Besuch des Nietzsche Hauses muss deshalb stillschweigend einer Bettruhe weichen.

Rechtzeitig vor dem **** Abendmenü gelingt es allen Teilnehmer doch noch, sich in das Gästebuch des Nietzsche Museum einzutragen und damit die letzte Vorbereitung für den bevorstehenden Diskussionsabend abzuschließen. Der Fahrer des BMW regeneriert im Laufe einer professionellen Massage, während einer der Freunde in der Sauna zu Kräften kommt. In den weiträumigen Hallen des altehrwürdigen Hotels wird eine dem Anlass angemessene Diskussionsecke gefunden. Thema des heutigen Abends: Nietzsche zum Zweiten. Nach dem katastrophalen ZARATHUSTRA jetzt geniale Tertiärliteratur:
Und Nietzsche weinte. Auch wenn nicht alle das Werk gelesen haben (das hatten wir noch nie!), ist der Tenor zunächst durchaus positiv. Erst am nächsten Tag dringt ein sehr persönlicher Kommentar durch: “ Ich mag keine Geschichtsromane“. Gut, auch Nietzsche und Freuds Lehrer Breuer, die beiden Protagonisten des Buches, dürfen als Gestalten der Geschichte gelten. Ungeschichtlich ist jedoch ihre Begegnung. Die Meinungen bleiben geteilt, auch wenn es mindestens zweimal eine „Eins“ gibt. Belegt ist allerdings auch das nicht. Bezeichnend bleibt jedoch, dass ein Teilnehmer von dem Roman so gefesselt wird, dass er Fiktion und Wirklichkeit nicht mehr auseinander halten will. Verständlicherweise ist es ihm auch nicht mehr möglich, den Autor zu erinnern – Realität passiert eben ohne Autoren.

12. Juli 2004 Sils-Maria
Der Rest der Reise gleicht dem Morgen nach einem berauschenden Fest: Seespaziergang auf Spuren Nietzsches. Wahnsinn und Genialität wie so oft überlappend. Da ist die kürzeste aller Sinnformeln: Werde, der du bist. Tragisch, dass bei so viel Einsicht, so wenig Lebensfreude Platz fand. Das wollen wir anders machen. Heimfahrt und Vorbereitung neuer Feste.

Nachwort zum Reiseanlass
Ein Quartett feiert 10 Jahre munteres Lesen. Kaum ein Wort wird geschrieben, so dass nichts Ewigliches überliefert wird. Oder doch? Statt dessen die guten Erinnerungen. Nie fehlt ein Mitglied. 10 Jahre und 50 Bücher sind 500- fache geistige Freundschaft und die Überraschung, Empörung oder Begeisterung immer noch nicht voraussagen zu können. Wunderbar unkompliziert und doch mit einer stillen, erhaltenden Ordnung. Kein redeführender Reich-R., statt dessen ein ausge-glichener Mannschaftssport, bei dem eine solidarische Rollenverteilung für Sturm-spitze, Mittelfeld und Verteidigung ausgemacht ist. Warum es weder Torwart noch Schiedsrichter gibt und nur wenig Doping, bleibt ungeklärt.