Und Nietzsche weinte – Irvin D. Yalom

weintePiper 2001, 447 Seiten.

>>Eine literarische Fiktion mit vielen authentischen Details aus dem Leben von Nietzsche und der Geburtsstunde der Psychoanalyse. Lou Salome, eine äußerst selbstbewusste, hoch intelligente und von Nietzsche begehrte Studentin bittet den Wiener Arzt Dr. Breuer, Nietzsche zu behandeln. Dr. Breuer war bekannt geworden durch eine neuartige „Redetherapie“, die erste Psychoanalyse. Der suizidale Nietzsche dürfe jedoch weder von Lous Initiative noch von der Tatsache erfahren, dass Dr. Breuer Nietzsches Nöte bekannt seien. Als Nietzsche sich in Dr. Breuers Behandlung begibt, beginnt ein anspruchsvolles Ringen, bei dem Nietzsche nur somatische, nicht aber psychische Nöte eingesteht. Trotz einer raffinierten Gesprächsstrategie, die wie ein ereignisreiches Schachspiel tobt, bleibt Dr. Breuer erfolglos. Erst als er Nietzsche nach einer Tablettenüberdosis zur Behandlung quälender Migränezustände vor dem Tod rettet, öffnet sich Nietzsche soweit, dass Dr. Breuer einen letzten genial erscheinenden Schachzug anzubringen wagt: er täuscht verwechselte Rollen vor und bittet Nietzsche, ihn, Dr. Breuer, mit seiner philosophischen Weisheit aus einer tiefen Sinnkrise zu befreien. Nietzsche sagt zu.

Es folgen vier ereignisreiche Wochen mit täglichen Sitzungen, in denen das Rollenspiel überraschend zur Wirklichkeit wird. Nietzsche gefällt sich in seiner Rolle, kann er als gesellschaftlich Abseitsstehender endlich Macht ergreifen. Sofort übernimmt er die dominierende und immer überzeugendere Therapeutenrolle, während Dr. Breuer sich zunehmend hilflos erlebt. Schließlich wird Breuer gänzlich auf seine wuchernde Seelenqual zurückgeworfen. Tatsächlich hat sich Dr. Breuer von seiner Frau und Familie völlig entfremdet. Fast hemmungslos fühlt er sich von der jungen, schönen Patientin Berta Pappenheim (in der medizinischen Literatur mit dem Synonym „Anna O.“) angezogen. Aus Eifersucht hatte seine Frau ihn gezwungen, ihre Behandlung abzubrechen. Seitdem wird er von nicht enden wollenden Begierdeträumen zermartert.

Von Lou erfährt Dr. Breuer andererseits, dass Nietzsche in ähnlicher Weise Lou verfallen sei, ohne dass Lou die erklärte Liebe erwidern könne oder wolle. Lous Zurückweisung hatte Nietzsche mit zutiefst verletzenden Schmähbriefen beantwortet.

Im Laufe der immer einseitiger werdenden Begegnungen führt Nietzsche Dr.Breuer zu dem entscheidenden Erkenntniskern. Nicht Bertha selbst sei die Ursache seines Leids, sondern nur ein resultierendes Symptom. Entscheidend sei vielmehr die „Bedeutung“: Bertha stehe symbolisch für Jugend und Leben. Sie sei der Fluchtpunkt für Dr. Breuer in seiner Angst vor Alter, Verfall und Tod.

In einem literarisch einfachen, aber genialen Kunstgriff wird der Leser daraufhin in ein täuschend echtes Tranceerlebnis geführt, das Sigmund Freud, ein Schüler von Dr. Breuer, an Breuer vornimmt. Hierbei erlebt Breuer traumatisch, dass seine auf junge Frauen gerichteten Begierden  erfolglos bleiben müssen, da sie den Kern des Verlusttraumas nicht treffen und ihn entsprechend vereinsamt zurücklassen. Dr. Breuer erwacht geläutert aus der Hypnose.

Auf Nietzsches Flehen hin wendet Dr. Breuer – diesmal im Wachzustand – die Bewusstmachung des Verlusttraumas von Lou bei Nietzsche an, wobei er ihm offen von seiner Aussprache mit Lou berichtet. Die einsetzende Schmerzerfahrung lässt Nietzsches harten Kern schmelzen, auch wenn er aus seiner inneren Gefangenschaft letztlich nicht befreit werden kann.

Ein fesselnder Roman eines psychologischen Entwicklungsdramas, das seinesgleichen sucht. Sehr lesenswert. Note: 1  (ur)<<

 * Dr. Breuer und Nietzsche kannten sich nicht, wohl aber Nietzsche und Lou.
Anna O. war Patientin von Dr. Breuer.