DuMont 1999 (franz. Original 1998) – 357 Seiten
>>Der Roman ist auf zwei zentrale Themen fokussiert: Sexualität und Gewalt – auch gegen sich selbst. Beide Aspekte ufern mit der Liberalisierung im 20. Jahrhundert aus und verwandeln die Individuen zu erbarmungslosen Egozentrikern, die jede Empathie füreinander verlieren. So der intendierte Tenor.
Angereichert mit zahlreichen authentischen Gegenwartsereignissen werden die Ausflüsse der nachklingenden Hippiebewegung mit neutral-kühlem Eifer seziert. Houellebecq entwirft in seinem Thesenroman ohne jeden Vorwurf dabei das Bild einer Menschheit, deren Ritualmorde á la Maison gesetzmäßig im Sodom und Gomorrha der Zukunft enden müssen. In Abwesenheit ordnender göttlicher Instanzen oder einer selbstbegrenzenden Räson dieser Menschheit folgen ebenso logisch als einzige Alternative die objektiven Lösungsmöglichkeiten der Naturwissenschaft. Der Autor formuliert dies ohne jede missionarische Passion. In einigen Jahrzehnten wird die Molekularbiologie ein Menschengeschlecht erschaffen haben, welches den Urzustand der Genesis spiegelt. Dann jedoch geklonte Lebewesen, optimiert für ein paradiesisches Dasein. Sozial befriedet, unsterblich und ohne sexuelle Fortpflanzung. Mit stabilisierter DNA, die unkontrollierte Mutationen und damit überraschende Abweichung von der idealisierten Norm vollkommen ausschließt.
Als Hauptprotagonisten des Romans begegnet der Leser den beiden Halbbrüdern Michel (!) und Bruno. Geboren von der bis zum Lebensende durch Landkommunen, Esoterik und Erotik treibenden Mutter Jane. Sie: gefangen in ihren Freiheiten mit Männern, eine Rabenmutter, die ihre Kinder verlässt und den Großeltern überantwortet. Die Halbbrüder wissen zunächst nichts voneinander. Sie durchleiden eine elternlose, trübselige und im Internat (Bruno) grausame Jugend. Die frühe seelische Verstümmelung begleitet beide gleichermaßen bis ans Ende, wenn auch in höchst unterschiedlichen Ausprägungen.
Bruno kompensiert die libidinöse Isolierung als Jugendlicher mit sexueller Obsession im Erwachsenenalter. Die Endstation seiner seelisch-körperlichen Irrfahrten wird die geschlossene Psychiatrie sein. Zuvor versucht er ein geordnetes Leben, das ihm zunächst ein Lehrerdasein und eine Ehe mit Sohn beschert. Die Scheidung folgt. Der Sohn wird ihm trotz seines apathischen Wesens zur unerträglichen Konkurrenz. Dessen Jugend scheint ihm sein voranschreitendes Altern zu verhöhnen. Bruno reagiert mit einer suchthaften Hinwendung zu sexuellen Praktiken. Sie suggerieren ihm intakte Vitalität. Urlaube auf Sexfarmen, meditativer Gruppenkoitus, Stammgast mit seiner Freundin Christiane im Swinger Club. Hier erleidet die von Knochenkrebs gezeichnete Frau während eines athletischen Koitus mit unbekannten Männern eine Querschnittslähmung. Als Sexobjekt entwertet, wird sie sich im Rollstuhl von einem Hochhausdach stürzen. Bruno hatte sich ihr zwar seelisch angenähert, doch vereitelte seine Liebesunfähigkeit eine tragende Partnerschaft.
Michel dagegen etabliert sich früh als erfolgreicher, sozial jedoch völlig entrückter Naturwissenschaftler. Dennoch wird ihm die Gnade zuteil, seine schon früher verehrte Schulfreundin Annabelle zu ehelichen. Aber auch sie hat trotz – oder gerade – wegen ihrer betörenden Erscheinung Isolierung erfahren. Und so verdorrt sie in ihren Gefühlen. Im Laufe einer Tumorerkrankung begeht auch sie Selbstmord. Michel zieht sich die letzten Lebensjahre nach Irland zurück und legt den entscheidenden Grundstein für die metaphysische Wandlung der Menschheitsgeschichte. Er wird sich nach getaner Karrierearbeit – der endgültigen Stabilisierung des menschlichen Erbmaterials – dem Suizid hingeben.
Es ist ein hintergründig moralischer Roman. Obwohl ohne jede politische Einlassung, provoziert das Werk vor allem mit seinen ausführlichen sexuellen Details. Manche dieser auch pervers brutalen Szenen sind nur in kleinen Dosen zuträglich. Dennoch ein diskussionswürdiger Wurf mit soziologischer Nachdenklichkeit. Note: 2/3 (ur)<<