Mattes&Seitz, 2024 | 235 Seiten.
<<Hannah erbt von der schon reichlich skurrilen und kaltherzigen Mutter einen Hühnerhof mit 300 Hühnern, darunter erstaunlich viele Einbein- und Einäugige. War die Mutter schon sehr schräg drauf, entwickelt auch Erbin Hannah eine innige, pathologisch überdrehte Beziehung zu den Hühnern und hat bald die brillante Idee zu jedem Hähnchen, das sie auf dem Markt verkauft, eine Biografie mitzuliefern, was beim Publikum gut ankommt. So weit so gut. Was Hannah dann aber – in einem lakonischen Präsens erzählt – an Verrücktheiten abliefert, geht auf keine Kuh- sorry Hähnchenhaut.
So liebt sie den „strengen Geruch der Hühner mehrt als Louis Liebesbekundigungen“ Louis ist ihr Mann , der noch in der Stadt wohnt und sie mit Fotos versorgt, damit sie masturbieren kann.
Für die Hühner wird ein Spielplatz mit Rutsche gebaut, sie dürfen auch mit Fernsehen und mit ins Bett oder schlafen im Hundekörbchen. Die Hähnchen nennen sie „Menschenskinder“.
Hannah ist allerdings Vegetarierin und redet im Zusammenhang mit dem Verkauf der Hähnchen ständig und penetrant von „Leichenteilen“, von „Exekutionen“, „Todesurteilen“. Auch als ihr 4 fingriger Mann Louis nachts heimlich ein Stück Wurst isst, ekelt sich Hannah. “Ein obszöner Wurstgeruch geht von ihm aus“.
Am Ende eskaliert das ganze Unternehmen in einer absurden Gewaltorgie, als die Hähnchen mit Biografie in Massen an Supermärkte verkauft werden.
Ein recht plumpes und ärgerliches Plädoyer gegen den Verzehr von Hähnchenfleisch, frei von jeglicher Logik und Witz. Note: 5 ( ün) <<
>> Ja, ein roter Faden zieht sich durch die Geschichte der 36jährigen Hannah, doch diese Blutspur ist voller Ungereimtheiten, nicht nur das Genre Ballade betreffend. Ein reichlich schräges Theodore-Vermächtnis der Mutter macht die Vegetarierin, die kein Fleisch mehr essen und kein Hühnchen mehr schlachten kann, binnen kurzem zur Hühnchenvertrauten. Um den „strengen Geruch“ des Federviehs „mehr zu lieben“ als „die Liebesbekundungen“ ihres Ehemanns Louis, bedarf es allerdings einer kühnen Verwandlung des Tiers zum „Menschenkind“. Der Hühnerhof im Dorf ihrer Kindheit wird zum Ort liebevoller Zuwendung mit gelegentlicher Einzelbetreuung. Eine exklusive Minibiografie ziert jede Vakuumverpackung. Das einzelne Huhn wird posthum zur „Persönlichkeit“. So sehr es in der Hühnerschaar von 300 auch menschelt, Hannahs lustvoll praktizierte Exekutionsformen wie Halsumdrehen, Messersticke, Beil machen aus der Überhöhung und Individualisierung das Tier zur Ware. Dass mit dem Auftritt Fernand Rabatet eine ganz neue Form der Vermarktung und Kommerzialisierung beginnt, lässt schon ahnen, dass uns kein Happy-end erwartet. Der Vertrag, der Hannah zur Komplizin im Tierhandel großen Stils macht, erfährt – ethisch abgesichert – letztlich auch die Zustimmung der Hühner. Jetzt brechen alle Dämme. Der Hühnerstall wird zur Fleischfabrik . Mehrgeschossige Lebenshalle, Leichenhalle, Observatorium (Beobachtungsposten) aus weißem Beton. Entworfen von Louis , Ehemann und Architekt, dessen eigentliches Arbeitsgebiet: Projektplanung für Abu Dhabi (!!) Das Interieur Kunstrasen, Puppenhäuser, Spielgeräte, Kunsthimmel mit „ewigem Frühling“. Platz für 10.000 Hühner. Dass Hannah hier „eine Armee von untoten Hühnern unter einem Antihimmel, zum Angriff bereit“, vorfindet, ändert zunächst nichts an der Illusion einer persönlichen Mensch-Tier Beziehung. Als kleiner Ausflug in die Abteilung „Slapstick“ dienen Lyriklesungen für Hühner, die Kochtopf-Exekution des Sohnersatzes Aval oder etwas umfangreicher die Rekrutierungsepisode der neu einzustellenden Texter. Dass Hannah schlussendlich erst ein Licht aufgeht, als sie im Kühlregal des Supermarkts angesichts von 800 (!) ausgedruckten Hühnerbiografien Dopplungen erkennt und auf den Nuggetpackungen biografisch „Vermischtes“ erspäht, zeigt, wie weit es mit dem Wirklichkeitsverlust in diesem Roman schon gekommen ist. Da hilft dann angesichts des biographischen Scherbenhaufens nur das Gewehr. Mit der Kugel für Fernand, dem Massaker an Hannahs-Hähnchen, der letzten Kugel für Louis erleben wir ein Gewaltfinale mit Katharsispotential, dessen schlichte Botschaft nur heißen kann:
Finger weg vom Supermarkthähnchen! Note: 4/5 (ai)<<