Der Magier im Kreml – Giuliano da Empoli

C.H. Beck | 265 Seiten

>> Eingebettet in eine kurze Rahmenhandlung führt uns ein 226seitiger Monolog des Spindoktor Wladimir Baranow ins Innere des Kremlschen Machtapparats. Manch Akteure und Ereignisse sind aus den Medien bekannt, aber dieser Roman deckt das subtile Netz und die Mechanismen dahinter auf, aus denen totalitäre Herrschaft besteht. Mit dem Zusammentreffen des eiskalten FSB-Apparatschik und Emporkömmling Putin und dem in der Schule des Medienmoguls Beresowskis großgewordenen jungen Regisseur und ideologischen Strategen beginnt ein raffinierter Plan zu Etablierung absoluter Macht. Der Erfolg des Konzepts speist sich aus dem Zerfall der Sowjetunion. Hinter den kleinen Demütigungen wie Gorbatschows Glas Milch statt Wodka, dem Suffkopfimage Jelzins, verbergen sich tiefe Verwundungen der russischen Seele. Da geht es um den Verlust von „Heimat“, die der Roman in einfachen aber eindrucksvollen Bildern beschreibt (300 Millionen Menschen in der UdSSR waren in einer Heimat ausgewachsen und fanden sich plötzlich in einem Supermarkt wieder, die Stärke und Würde des Modells Datscha mit Gemüsegarten missachtet, Helden der Geschichte durch Hollywood ersetzt). Die 90er Jahre entpuppen sich als Ausverkauf des großen Imperiums: Chaos und westliche Dekadenz, Raffgierkapitalismus, der Aufstieg neuer Oligarchen, Zurschaustellung von Äußerlichkeitsattributen. Baranows eigene traditionsreiche Familiengeschichte ist ein Spiegel des Niedergangs in der Umbruchphase nach 1989 und vielleicht erklärt sich daraus auch seine Mittäterschaft („Mein Vater verlor unter Gorbatschow seine Arbeit, die Privilegien, die Ehre“).  So schlicht vordergründig das Modell der Wiederherstellung von Ordnung, so erfolgreich: Man vergrößere das Chaos, steigere die Wut und Ängste des Volkes, benenne einzelne Verantwortliche und strafe sie medienwirksam entweder öffentlich ab (Chodorkowki) oder bediene sich dezent willfähriger Lakaien („Das waren nicht wir. Wir schaffen lediglich die Voraussetzung für die Möglichkeit“ so kommentiert Putin den Mord an Beresowski), überführe privatisierte Unternehmen wieder in staatliche Konglomerate, übernehme wieder die Medien (vaterländische Geschichte statt „barbarisches und vulgäres Fernsehen des ORT), schließe ein Bündnis von Politik, Militär, Sicherheitsapparat kurz, befriedige „die Sehnsucht der Russen nach Vertikalität“: Solchermaßen vorbereitet kann dann Putin, der Zar, übernehmen. Die Wiederherstellung alter russischer Größe bedarf auch eines propagandistischen Instrumentariums, dessen sich Baranow im Schutze des Zaren meisterhaft bedient. Da wird Geschichte durch lineare Freund-Feind-Bilder glattgebügelt: Orangene Revolution – eine CIA Inszenierung , Georgien, Kirgisistan – von westlichen Finanzmärkten unterwandert, Staatsstreich-Phantasien, kurz,  die „Dekadenz des Westens“ ist die eigentliche Bedrohung des russ. Imperiums. Auf der Basis solcher Verschwörungstheorien ist es auch schlüssig, dass es Baranow gelingt um die zwielichtigen Gestalten von „Putins Petersburger Freunden“ (Biker-Gangs) selbst die populären Gruppen der alternativen Szene zur patriotischen Phalanx zu versammeln. Gelingt es dann noch mit dem Propagandaerfolg der Olympischen Spiele in Sotschi schlüssig zu vermitteln, die Krim einen Monat danach zurückzuerobern, „weil sie uns gehört“, dann ist dem Magier im Kreml die Anerkennung Putins sicher („Es war klar, dass er die Spiele als den Höhepunkt seiner Herrschaft betrachtete“). Dass Baranows „raffinierte Lösung“, auch die Ukraine durch eine der Moskauer Chaostheorie entsprechende Befreiung durch den Zaren wieder ins Imperium zurückzuholen, nicht aufgehen und er sich schließlich doch dem Kriegsdiktat beugt ((„als der Zar diesen Krieg beschlossen hatte, tat ich alles in meiner Macht stehende, ihn zu Erfolg zu führen“), macht ihn – mit einer „verdreckten Puppe“ aus dem Schutt des Dombass in der Hand letztlich zu einer tragischen Figur. „Kein großer Regisseur höchstens Komplize“, die Schlüsselstelle auf S. 234 weist die Spur.

Baranows Demission vom Hof bedeutet die Rückkehr zu der Bibliothek seines Großvaters. Und während Putin der Merkelsche Labrador als „einziger Berater bleibt, dem er voll und ganz vertraut“ weitet sich der Blick Baranows und entfernt sich zunehmend von der realen Diktatur im Kreml. Von Samjatins dystopischem Roman „Wir“ aus den 20er Jahren (er hat im Roman eine Klammerfunktion) über die LSD-geschädigten Kalifornier der Militärtechnologie, über das Menetekel von Atombombe, Virus, Sensoren- und Roboterarmeen führt alles zu der Gewissheit, dass es mit er Menschheitsgeschichte dem Ende zugeht. Während Kap. 30 mit dem noch offenen Kampf zwischen der doch recht christlich anmutenden „Ankunft des Herrn“ und der recht prosaischen „Apokalypse“ des letzten vom Computer erzeugten Algorithmus endet, keimt im Schlusskapitel noch ein kleiner Schimmer von Hoffnung auf und auch mir tat es gut, aus dem Auge eines 5 jährigen Mädchens zu vernehmen, das dem Magier im Kreml als „Papa“ doch nicht alle Menschlichkeit abhandengekommen war. Dass sich hinter Anja auch eine Xenja-Geschichte verbirgt, soll nicht unerwähnt bleiben.

Der Roman vermittelt differenzierte Einblicke in das System Putin. Er ist zugleich ein Psychogramm des modernen Zaren wie seines propagandistischen Begleiters und zeigt, was unter russischer Seele zu verstehen ist. Der italo-schweizer Autor, ein Kenner des politischen Intrigenspiels, Realität und Fiktion eng verschränkt. Dass der Roman am Schluss sich apokalyptisch entfernt, um dann doch wieder in die private Geborgenheit zurückzukehren, bleibt allerdings rätselhaft.   Note: 2/3 ( ai)

 

>> Der „Magier im Kreml“ ist der rätselhafte, geheimnisvolle Wadim Baranow, der 15 Jahre lang engster Berater und spin doctor des „Zaren“, Vladmir Putin war.  Der Ich-Erzähler verfolgte wie viele andere politischen Beobachter die wenigen bekannten Mutmaßungen über Baranows Tätigkeit, bevor er Jahre später in Moskaus Archiven zufällig auf Spuren Baranows trifft. Er beschäftigt sich nämlich mit dem Schriftseller Jewegeni Samjatin, der 1922 den hellsichtigen, dystopischen Roman „Wir“ schrieb, in dem quasi 100 Jahre Entwicklung von Gesellschaft und Technik übersprungen wurden. Unter den social media Kanälen, die der Ich-Erzähler zu jener Zeit seiner Recherchen verfolgte, war auch ein gewisser Nicolas Brandeis, ein Pseudonym, das auch Baranow benutzte. Das wusste der Ich-Erzähler allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Er vermutete einen Studenten in einer 1 Zimmer Wohnung. Dieser Brandeis zitiert auf seinem Kanal immer wieder Samjatin. Als der Ich-Erzähler mit einem Samjatin Zitat antwortet, meldet sich Brandeis und bietet ein Treffen an. Bei diesem Treffen zeigt ihm Brandeis/ Baranow das Original eines Schreibens von Samjatin an Stalin, in dem er um Gnade und die Erlaubnis, die UdSSR zu verlassen, bittet. Für Baranow ist Stalin ein Künstler, ein Künstler allerdings, dessen „Kunst“ unweigerlich ins Konzentrationslager führt. Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sei ein satanischer Wettstreit zwischen Künstlern wie Stalin, Hitler und Churchill gewesen. Dann kamen die Bürokraten. Aber nun seien wieder die Künstler dran.  Damit wird klar, wie er Putin sieht: In der Nachfolge von Stalin und Hitler. Und er habe eine Zeitlang dessen Handlanger gespielt, sei nun aber im Ruhestand. Der Ich-Erzähler muss rasch gemerkt haben, mit wem er es zu tun hat. Im Buch selbst wird dieser Moment allerdings nicht thematisiert. In diesem raffiniert gestrickten Rahmen erfährt man schon sehr viel über die Person Baranow und seine Sicht auf die Welt im Allgemeinen und das Sowjetsystem im Besonderen. Den Hauptteil des Buches (von Kapitel 3 bis 30), nimmt dann allerdings die Erzählung Baranows über seine Zeit im Kreml ein.
Das Schöne an Literatur ist, dass man die Welt mit den Augen einer Person sehen kann, die einem nicht sympathisch ist. Da Empoli gelingt dies durch eine großartige Prosa, die psychologischen Tiefgang hat. Der „Magier“ Baranow hat Putin begleitet von seinen Anfängen als Petersburger KGB-Mann bis zu dem Zeitpunkt, an dem seine Dienste nicht mehr gefragt oder auch nicht mehr nötig waren. Seine Arbeit bestand hauptsächlich darin, den „Fluss der Wut zu steuern und zu verhindern, dass si sich staut.

Vom Auftritt des betrunkenen Jelzin in den USA, als sich Präsident Clinton vor Lachen bog und die Bilder um die Welt gingen und sich traumatisch ins russische Gedächtnis eigebrannt haben, über die Oligarchen Beresowski  (Verbannung ins Exil)  Chordokowski  (10 Jahre Straflager) bis zu den Pyschospielchen mit Putins Labrador bei Merkels Besuch, dem Krieg im Donbas und die hybride Kriegführung : Die Ereignisse sind historisch, die Namen echt. Wir erleben dies durch die Augen eines Insiders, der bei allen Inszenierungen die Fäden zieht und der die russische Gesellschaft und Seele kennt, die Stalin verklärt und für die die mafiöse Struktur des Staates normal ist.
Ein Buch, das einen klüger zurücklässt, dazu mit  überzeugender literarischen Qualität und psychologischem Tiefgang.  Note: 2 ( ün) <<

>> Der Roman zeichnet die letzten 30 Jahre russischer Geschichte nach und beschreibt beeindruckend Putins („Zar“) Aufstieg. Der Ich-Erzähler wird von Wadim Baranow („Magier“) eingeladen, der  Putin 15 Jahre lang beraten hat. Eine Nacht lang erzählt er über seine Beraterzeit. Baranow ist ein Pseudonym für Wladislaw Surkow.

Das System Putin: Führung und Autorität gepaart mit Skrupellosigkeit. Putin befriedigt die Sehnsucht seiner sich nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums erniedrigt fühlenden Landsleute nach Anerkennung und Respekt. Nebenbei erfährt man manch Kurioses wie zum Beispiel die Hundephobie Angela Merkels oder den Namen von Putins riesigem Labrador.

Giuliano de Empoli hat bisher nur Sachbücher geschrieben. Während der Lektüre fragte ich mich, ob ein Sachbuch (etwa Michael Thumann: Revanche) „mehr“ gebracht hätte, als dieser letztlich fiktionale Text. Im letzten der 31 Kapitel steht etwas unvermittelt und idyllisch Baranows fünfjährige Tochter im Mittelpunkt.

Der letzte Satz des Buches:“Draußen fiel leise Schnee“ erinnert mich an mein liebstes Weihnachtslied und  kontrastiert mit den apokalyptischen Ahnungen der beiden vorletzten Kapitel. Sie bieten schwere Kost: „Die Menschheitsgeschichte endet mit uns.“  Unerfreulich, vor allem für die nach uns. Und echt hart der Blick nach vorne: Roboter werden die Welt regieren. Das ausführliche Zitieren von Versen der Offenbarung (21,3) bleibt mir unverständlich: „Siehe da! Die Hütte Gottes bei den Menschen!“

Hoffentlich wird es nicht ganz so schlimm…  Note:    ( ax) <<

>> Der gebürtige italo-schweizerische Schriftsteller ist nicht nur Professor der Politikwissenschaft in Paris, sondern war auch Berater – vielleicht sogar Spindoctor – des italienischen Ministerpräsidenten Renzi. In diesem, seinem ersten Roman, ist der Hauptprotagonist Baranow Spindoctor. Der Rasputin des modernen Zaren, der Einflüsterer und Designer des aktuellen Putinismus. Tatsächlich ist die Figur dem zeitgenössischen und inzwischen in Ungnade gefallenen W. Surkow nachempfunden, der jahrelang als Magier des Zaren auftrat und die Aura um Putin dirigierte. Es ist ein Roman der politischen Innenansicht. Eine fiktionalisierte Zeitgeschichte. Ereignisse, Katastrophen und Morde sind authentische Details des Hier und Jetzt. Personen werden mit Klarnamen benannt und sind dabei glänzend in einen literarischen Gesamtwurf eingearbeitet. Ohne Zeigefinger, aber letztlich entblößend, vordergründig würdigend und hintergründig offenbarend. Seelisch-physische Gewalt des Systems wird wie ein unabwendbares Naturereignis vermittelt. Der Zar Putin profiliert sich als der, der diese Natur neu erfinden lässt. Der Erfinder voller Eifer ist Baranow.

Im Ductus ein Werk mit sprachlicher Eleganz. Man ist fast erstaunt, wie fließend es gelingt, dem schnöden Sachbuchalltag eine erkennbar leuchtende Konnotation zu verleihen. Vielleicht auch aus diesem Grund – oder gerade deshalb – verortet der Autor den Hauptprotagonisten Baranow in einer intellektuell geprägten Dynastie. Die Wände voller Bücher, die Köpfe voller Visionen. Schon die Verwandtschaft überzeugte mit literarischem Bewusstseins, das allein die russische Seele erschöpfend spiegeln konnte. In diesem Geiste offenbart sich Baranow in einer einzigen Nacht einem Fremden gegenüber und wir nehmen daran teil.
Die Rahmenhandlung ist mager und ein wenig bemüht. Der Ich-Erzähler ist Literaturwissenschaftler und Bewunderer des russischen Schriftstellers Samjatin, der tatsächlich 1920 in seinem Werk „Wir“ eine entmutigende Politpsychosystem-Analyse entwarf, die mit geradezu hellseherischem Weitblick die Verwerfungen von Stalin bis Putin vorwegnahm. Über einen Chat-Blog kommt der Ich-Erzähler mit Baranow in Kontakt. Denn auch er ist einer der wenigen Kenner des längst verstorbenen Visionärs.

Baranows Urahnen waren breitschultrige Aristrokaten. Ihr Leben war geprägt von großvolumigen Auftritten und literarischem Mitteilungsbedürfnis. Sein Vater dagegen wechselte das Genre und entwickelte sich früh zum überzeugten Apparatschik mit dem Lebenstraum von einer ehrenvollen Grabgedenkstätte. Baranow nun vereint die konträren Ahnenzüge. Kreativ, gegebenenfalls unkonventionell, loyal, zurückhaltend, analytisch, intellektuell, effizient, weitgehend emotionslos, gewissenhaft und gewissenlos.

Die russische Spezies zeichnet ein stabiler Charakter aus, der die Gesellschaften seit Jahrhunderten prägt. Eine lähmende Schicksalsergebenheit hält sie in geduckter Haltung. Gleichzeitig setzen sich Einzelne ab – vom Zaren über Stalin bis zu Putin, reißen die Macht an sich und perfektionieren die Unterdrückung. Die wirkungsvollste Form der individuellen Disziplinierung ist die grundlose Bestrafung. Sie macht ein Berechnen unmöglich, lähmt nachhaltig und verhindert die Gegenwehr. Es bleibt im Verschwommenen, wer der direkte Widersacher ist. Es ist nicht erkennbar, mit wem Verbrüderung helfend wäre. Nur eine kleine Öffnung führt von den namenlosen Massen zu den Mächtigen. Die Nähe zum Zaren ist das bestimmende Privileg. Der Weg dorthin verläuft auf Speichel, der emsig geleckt werden will.

So hatte es früher immer funktioniert bis Gorbatschow kam. Perestroika und Glasnost hießen die Gespenster bis hin zum Zusammenbruch der Parteidiktatur. Der augenblickliche Zerfall des Reiches und der schmerzliche Verlust der nationalen Identität folgten postwendend. Im nächsten Moment wurde der Systemwechsel ausgerufen als der betrunkene Jelzin den blanken Raubtierkapitalismus verordnete. Jede Form von Ordnung kollabierte. Großkopfete, die in den Wandelwirren beherzt zugriffen, eigneten sich unsägliche Reichtümer an. Die Massen dagegen verarmten noch mehr. Die Sicherheit brach zusammen und ein bestialischer Nahkampf entbrannte im Alltag. Es war unmenschlich. Dann brachte ein einflussreicher brain tank unter einem Fernsehmogul den namenlosen Putin.

Baranow ist in dieser Zeit mittelloser Schauspieler, als er Eintritt in das neu etablierte Fernsehen findet. Fernsehen – das neuralgische Herz der neuen Welt, das mit seinem magischen Gewicht die Zeit krümmte und auf alles den phosphoreszierenden Widerschein des Verlangens projizierte (S70). Die Massen verlieren über Nacht die Unterdrückung und wachen orientierungslos in einem Supermarkt auf. Die Fernsehmacher mit Baranow produzieren derweil vulgären Trash, laut und lässig. Das Leben ist frei bei völligem Kontrollverlust. Währenddessen rettet der Fernsehmilliardär Beresowski noch einmal die Wiederwahl des mental verwahrlosten Jelzin und wird selbst zum heimlichen Herrscher über Russland. Ihm schwebt ein neues, altes Russland vor. Sicherheit nach innen und Stärke nach außen. Eine Nation mit Stolz. Die Partei der Einheit wird gegründet, während der eloquente Baranow zum Kernmitarbeiter avanciert. Gemeinsam überzeugen sie den farblosen Chef des Inlandgeheimdienstes Putin, als Ministerpräsident anzutreten. Öffentlich unverbraucht, vertrauenswürdig, ausbaufähig. Nach Zögern stimmt Putin zu, Baranow wird sein engster Vertrauter. Die Grundidee lautet: die degenerierte gegenwärtige Horizontalität sei zu überwinden und die alte Vertikalität mit klaren Machtstrukturen wiederherzustellen. Gesagt, getan. Ein glücklicher – oder arrangierter? – Zufall spielt dem neu gewählten Präsidenten in die Hände. Die verheerenden Terroranschläge auf Moskauer Wohnblocks werden fundamentalistischen Tschetschenen zugeordnet, worauf Putin als entschlossener Rächer auftritt. Das ist der wahre Inthronisationsmoment des neuen Zaren. Es war schon immer viel überzeugender auf Gefahren zu reagieren, als sie im Vorfeld zu verhindern. Mit Gewalt gewinnt die Vertikale augenblicklich an Überzeugungskraft.

Putin baut die Strukturen radikal um. Köpfe rollen. Patriotische Silowiki der Sicherheitsdienste bilden die neue Elite. Privilegien werden neu vergeben. Oligarchen dürfen walten, wenn sie dem System nützlich sind. Von der Politik müssen sie sich jedoch fernhalten. Beresowski will genau das nicht wahrhaben. Beim Untergang des russischen Atom-U-Bootes in der Barentsee zwingt er Putin den Urlaub abzubrechen und an einem vom Fernsehen arrangierten Treffen mit den Müttern ertrunkener Matrosen teilzunehmen. Putin, der niemanden mehr über sich duldet, zieht Konsequenzen. Der Fernsehmogul verliert seinen Sender, muss das Land verlassen und wird später in seinem Londoner Exil erhängt aufgefunden.

Auch Baranow ist konspirativ unterwegs, trifft allerlei Außerparlamentarische, Jugendbewegte, Rechtsradikale, Rocker, Spinner vieler Richtungen. Alles Suchende, denen er Unterstützung organisiert und das neue patriotische Weltbild unterjubelt. Dabei gesteht er: Ich hatte in meinem Leben nichts anderes getan, als die Elastizität der Welt, ihre unerschöpfliche Neigung zu Paradoxien und Widersprüchen zu vermessen (173). Das um Putin inszenierte politische Theater ist die krönende Vollendung dieser Tätigkeit. Auf der anderen Seite müssen Transgender-Getriebene, Ökofundamentalisten und in Kathedralen obszön auftretende Frauenbands nicht berücksichtigt werden, da die Empörung der Öffentlichkeit ob dieser Querulanten der autoritären Obrigkeit von allein Punkte einbringen. Ansonsten gilt im In- und Ausland das Konzept gegenseitiger Neutralisierung. Man fördert gegeneinander opponierende Parteien, damit sie gestärkt sich gegenseitig niederringen. Black Panther versus Suprematics. Tierschützer versus Jäger. Darüber hinaus generiert sich reale Macht schon allein durch die irreale Angst vor ihr. Entsprechend hilfreich ist es, wenn der Westen meint, dass der Osten sie mit Fake News flutet und ihre IT Systeme unterläuft. Nächtliche Fantasien lassen das Chaos aufblühen. Mission completed.

Doch als der ihm fragwürdig erscheinende Ukraine Krieg inszeniert und Baranow auf alle internationalen Sanktionslisten gesetzt wird, bleibt Baranow als Gefangener seiner selbst und seines Landes deprimiert zurück. Er quittiert seine langjährige Tätigkeit im Schatten des Zaren und wird Privatier. Putin wird ihn nicht ersetzen. Der Zar lebt jetzt nur noch aus sich selbst heraus.

Neben den eingestreuten politischen Episoden (Clintons Lachkrampf über Jelzin, Merkel im Kreml mit Hund, Winterolympiade im subtropischen Sotschi etc.) lässt der Autor auch gelegentliche Emotionen im gefühlsarmen Baranow aufflammen. Zündfunke ist die schillernde Schönheit Xenja, die ihn anhaltend in Bann hält und letztendlich seine späte Tochter Anja, die allein ihn zu einem anderen Menschen verzaubert. Bemerkenswert ist die Intensität dieser Passagen, die auch dem Verdacht widerstehen, kitschig zu sein. Selbst diese sind gelungen.

Am Ende des Werkes legt der Autor da Empoli Baranow eine düstere Prognose in den Mund: die Welt werde mit den – vor allem vom Westen – vorangetriebenen IT Instrumenten die Menschheit in den Ruin dirigieren. Bereits das unschuldige Geschöpf Anna wird diesem Niedergang zum Opfer fallen. Diktatorische Maschinen werden die Gewaltherrschaften lebender Diktaturen perfektionieren und diese verdrängen. Auch wenn das Erzählfinale etwas entglitten daherkommt, bleibt das Gesamtwerk eine erhellende Lektüre der russischen Postmoderne ohne als trockene Systemanalyse des Putinismus zu langweilen.  Note: 2– (ur) <<