Suhrkamp Verlag 2002 – 219 Seiten
<< Ein Buch – ein Politikum. Ein Politikum, weil es mit einem monolithischen Plot den deutschen Literaturbetrieb zerbröselt. Ein Politikum, weil es lebende Teilnehmer des gegenwärtigen Literatur- und Medienbetriebs in einen Parodie-Zusammenhang stellt, der von genial originell bis dekadent diffamierend reicht. Ein Politikum auch, weil deutsche Ansprüche auf antisemitische Täterschuld tangiert werden, ohne dass auch nur eine anti-semitische Passage im Text zu finden wäre. Gerade der letzte Punkt wird im Nachhinein umso bedeutungsvoller, weil die Reaktion der deutschen Intelligenzija auf Walsers Werk so absurd ausgefallen ist, dass man dem real existierenden Journalismus nichts anderes als eine pathologische Verblendung attestieren muss. An erster Stelle muss hier natürlich die Frankfurter Allgemeine Zeitung genannt werden, deren Herausgeber Schirrmacher schon vor Erscheinen des Romans den größten in der BRD denkbaren Vorwurf formulierte: „Tod eines Kritikers“ sei antisemitisch, u.a. weil der einflussreichste deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki verspottet werde. Der inzwischen verstorbene M.R.-R. war Mitarbeiter der FAZ und Jude.
Walser hat mit seinem Literaturkrimi einen Schlüsselroman verfasst, in dem die bösartige Eigennützigkeit von Schriftstellern, Literaturwissenschaftlern, Kritikern, Medienexperten und Verlegerinnen die Wirkkräfte sind. Keiner dieser `Ungewaschenen` trägt ein weißes Hemd. Auch der mittelmäßige Romanautor Lach als Hauptprotagonist nicht. Die teils der Wirklichkeit entliehenen Leben lassen vermuten, dass Walser mit der Hauptfigur auch ein selbstkritisches Portrait seiner eigenen Person entworfen haben könnte. In diesem Sinne würde er sich genauso wenig wie sein Umfeld schonen, das unschwer wiedererkannt werden kann. Am Ende wird der Leser erfahren, dass in diesem Krimi ein Mord nie geschah. Ja sogar, dass die Geschehnisse auch innerhalb des Romans vielleicht nie stattfanden, dass die ganze Erregung nur Inhalt eines inneren Monologs war? Phantasien eines bitter enttäuschten Literaten mit mäßiger Qualifikation? Vielleicht ein kultivierter Walser mit kulturlosen Mordgelüsten? Man weiß es nicht.
Die Rahmengeschichte. Der Literaturwissenschaftler Landolf (½ Walser) erfährt entsetzt, dass der von ihm geschätzte Schriftsteller Hans Lach (ebenfalls ½ Walser) mit Mordvorwurf an dem Fernsehliteraturkritiker André Erl-König (Marcel Reich-Ranicki) inhaftiert wurde. Landolfs Begegnung mit dem Inhaftierten ist von Schweigen geprägt. Lach macht nicht die geringsten Anstalten, sich zu verteidigen. Im Bemühen, Lachs Unschuld dennoch zu beweisen, interviewt Landolf Zeitgenossen des Literaturbetriebs und studiert das Video der Sendung, in der André Erl-König Lachs neuestes Werk verriss. Auch bewertet er Aussagen über den folgenden Empfang, bei dem Lach André Erl-König drohte, und analysiert Lachs zurückliegende Veröffentlichung mit dem Titel: Der Wunsch, Verbrecher zu sein.
André Erl-König wird flächendeckend als gottgewaltiger Terminator eingestuft, der sich auf Kosten anderer selbst zelebriert. In seiner Fernsehsendung „Sprechstunde“ pflegt er Gegenwartsliteratur
mittels eines schlichten Entweder-Oder-Schemas zu sezieren. Jeweils ein Roman wird jubilierend prämiert, während ein zweiter vernichtend dem Altpapier übergeben wird. Beim letzten Auftritt traf es Lachs Roman „Mädchen ohne Fußnägel“. Während die Frau im Roman gar nicht vorkommt, scheint das Romanpersonal mehr Namen zu umfassen als ein Telefonbuch wiedergeben kann. Der Roman dürfte tatsächlich misslungen sein.
Auch beim erfolglosen Autor Streiff (wer ist gemeint?), der nach wie vor von seiner berufstätigen Frau ausgehalten werden muss, wird Landolf nicht wirklich fündig. Leider ist dieser nur in Gegenwart seiner Frau autorisiert auszusagen. Statt auf den Fall Lach einzugehen, problematisiert er seine eigene, ihm von André Erl-König vorenthaltene Anerkennung auf seine im Pilgrim Verlag (Suhrkamp) erschiene „Tulpen-Trilogie“. Ähnlich die Verleger-Gattin Pilgrim (Ehefrau Ulla Berkéwicz des Suhrkamp Verlegers Unseld), die inzwischen einen Negativkatalog über André Erl-König erarbeitet hat. Entgegen den Gepflogenheiten hatte sie Lach zum Empfang nach der Fernsehsendung ins Verlegerhaus in der Hoffnung geladen, sich wenigsten einmal gegenüber ihrem Gatten profilieren und André Erl-König brüskieren zu können. Wie auch Streiff hat sie Lachs Buch zur Heilsschrift erhoben und hofft, dass er durch den vermuteten Mord zu ihrem wahren Helden reifen wird. Leider kann bisher die Leiche des vermissten Erl-Königs nicht gefunden werden. Verhalten indifferent und intellektuell entschwebend bleibt dagegen Prof. Wesendonck (Jürgen Habermas).
Später drängen sich die Geschwister Henkel (Walter und Inge Jens) als Zeugen auf, vergessen dabei sogar Lach, belasten den von ihnen lange geförderten André Erl-König und erwarten – sollte je ein Buch über den Fall geschrieben werden – als Ziehvater der Aufklärung in den Mittelpunkt gerückt zu werden. Wirklich glitschige Hintergrundsinformationen liefert jedoch Prof. Silberfuchs, genannt „Silbenfuchs“ (Chefkritiker der Süddeutschen Zeitung Joachim Kaiser). Hans Lach verschweige vermutlich sein wasserdichtes Alibi, um die brandneue Beziehung seiner außerehelichen Exfreundin, mit der er zur vermuteten Tatzeit schlief, zu schonen. Lach, ein Ehebrecher mit Anstand? (Walser teilte sich zeitweise mit seinem Verleger Unseld die Geliebte Corinne Pulver, Schwester der Schauspielerin Liselotte Pulver. Walser hatte zudem mit der Verlegergattin Augstein ein Verhältnis und einen Sohn.)
Als dann die Gattin von André Erl-König (die oft betrogenen Teofila Reich-Ranicki) mit weitsichtigem Kalkül den Mord zugibt, kehrt der Totgesagte prompt unversehrt zu seiner Gattin zurück und gesteht schmunzelnd, dass er sich lediglich mit einer Nachwuchsliteratin zurückgezogen hatte. Das Publikum verzeiht und ist begeistert von der Dramaturgie. Landolf zieht sich seinerseits zurück mit der Verlegergattin, die kurz vorher Witwe geworden war (Unselds Ehefrau Ulla Berkéwicz; Unseld war gestorben und hatte ihr den Suhrkamp Verlag übertragen). Im inneren und äußeren Exil auf Fuerteventura beginnt Landolf unter dem Einfluss frischer Seeluft dieses Buch zu schreiben. Dabei nähert er sich stilistisch dem von Lach in der Gefängnispsychiatrie geförderten Noch-nicht-Autor Mani-Mani (Hölderlin) an, der in absurden Fragmenten denkend schreibt. Lach wird auch bei fantastischen Fragmenten verharren. Das Ende suggeriert, dass Lach und der Erzähler Landolf dieselbe Person sind, und der vermeintliche Kriminalfall nur eine rachsüchtige Imagination des Autors Landolf/Lach.
Stilistisch entfacht Walser eine gewaltige Flutwelle vor allem in der sehr umfänglichen Charakterisierung des Erl-Königs, der Geschwister Henkel oder der Fernseh-Sprechstunde. Beeindruckend. Die Kreativwogen brechen in hoher Taktfolge gegen die Psychofestungen, dramaturgische Schaumkronen intonieren Siedepunkte der Eitelkeiten, betörende Wort-Gischt bläst dem erstaunten Leser ins Gesicht. Ein gigantisches Literaturspektakel wird inszeniert. Diese Naturgewalten kann der Walser.
Die Inhalte dagegen changieren von buntblumiger Helligkeit bis weit in die Dunkelheit des Fremdschämens. Etliches tut richtig weh. Formulierte Dinge, die man auch von denen des öffentlichen Betriebs nicht lesen möchte, die man nicht mag. Nach allzu heftigen Protesten wurden daraufhin Folgeauflagen des Buches von allzu verletzenden Passagen befreit. Auch der handlungsarme Plot kommt über eine monotone Einseitigkeit nicht hinaus. Ein Indiziensammelmarathon mit dem Tenor: Der Erl-König hat Strafe verdient. Lach war es nicht. Viele andere aber hatten Grund genug. Das wirkt nach 200 Seiten ermüdend.
Eine erste kritische Auseinandersetzung mit den literarischen Inquisitionspäpsten der Gruppe 47 hatte Walser schon 1965 in Erfahrungen und Leseerfahrungen publiziert. Dort wurden die Großkopfete wie Reich-Ranicki et al. im Kapitel Brief an einen ganz jungen Autor mit origineller und gehaltvoller Respektlosigkeit beschrieben. Das war kurz und lustvoll. Vielleicht hätte Tod eines Kritikers auch mehr Bewegungsfreude wie im Roman Der Musterjude von Rafael Seligmann geholfen. Dort werden die egomanischen Triebkräfte der Medienlandschaft ähnlich dem Literaturbetrieb auch in vernichtender Klarheit offengelegt. Seligmann lässt dabei bizarre Missstände entstehen, weil die deutsche Leser- und Polit-Öffentlichkeit zwingend auf ihren antisemitischen Schuldkomplex besteht. Und wenn man schon kein aktuelles Opfer hat, für das man schuldig ist, dann definiert man sich eins, um die Täterrolle überzeugend büßen zu können. In Tod eines Kritikers ist die Verteilung der vermeintlichen Täter- und Opferrollen im Nachhinein erzwungen worden und hat eine der peinlichsten Entgleisungen des selbstsüchtigen Kultursystems hervorgebracht – wie eine bittere Realsatire in Anlehnung an Seligmann. Auch eine humoristische Tiefensicht á la Hilmar Klute ist eine Alternative. In seinem Roman Was dann nachher so schön fliegt sind es die überschäumenden Träume eines Zivildienstleistenden und Noch-nicht-Schriftstellers, der Führungskräfte wie Grass, Böll, Reich-Ranicki, Jens und andere der Gruppe 47 nach seinem Gusto tanzen lässt. Auch hier werden die bekannten, teils peinlichen Eigenschaften der Großmeister offengelegt. Aber auf eine verdauliche Art. Durch die Brille des pubertierenden Jungliteraten wirken sie geradezu rührend sympathisch und verlieren dennoch nicht ihren Biss.
In ferner Zukunft wird man vielleicht literaturhistorisch den Fall als zirkuläres Kontinuum preisen. Die Wirklichkeit wird zum Romaninhalt transkribiert, worauf dieser wieder zu Wirklichkeit transformiert wird. Die finale Stufe wäre das Perpetuum mobile, wozu die moralisierende deutsche Seele durchaus in der Lage wäre.
Für den am deutschen Literaturbetrieb interessierten Leser ist der Roman samt seinem Nachspiel somit ein Muss. Literarisch bleibt er umstritten.
Noten: Pflicht: 4; Kür 2– (ur)>>