Siedler 2014 | 224 Seiten
>>Bartholomäus Grill hatte wahrlich viele Begegnungen mit dem Tod. Großeltern, Eltern, Schulfreunde, die kleine Schwester, der Bruder, vor allem aber durch die vielen Jahre als Kriegsreporter bei den schlimmsten Schlächtern in allen Regionen der Welt. Der tief verwurzelte katholische Glaube seiner oberbayrischen Heimat, in der der Tod und die Verdammnis, aber auch Hoffnung allgegenwärtig sind, tut ein Übriges.
Nach seiner berührenden Reportage in der ZEIT über den selbstgewählten Tod seines krebskranken Bruders in der Schweiz hat ihn der Verlag offensichtlich zu diesem Buchprojekt angeregt, wie man der Danksagung entnehmen kann. Eine lohnenswerte Lektüre, wenn auch die oberbayrische Prägung des Katholizismus etwas viel Raum einnimmt. Beeindruckend das Streitgespräch mit dem Moraltheologen Spaemann über den Freitod. Wie sich Grill zwischen der These: „Denke an nichts so oft wie den Tod“ (Seneca) und der Antithese: „Ein freier Mensch verschwendet keinen Gedanken an den Tod“ (Spinoza) entscheidet, bleibt offen. Vielleicht gibt es eine Synthese. Note: 2 – (ün)<<
>> Grills eindrucksvolle Begegnungen mit dem Tod sind auch Auseinandersetzung mit den eigenen Erinnerungen. Die eigene Kindheit (glücklicherweise frei vom Unterwerfungsritual religiöser Dogmen) Abschied von Großeltern, Pubertät (Film Massenmord Auschwitz), vor allem Grenz- und Todeserfahrungen während der Studentenzeit (Existenzialismuspose, Revolutionsromantik, auch Verirrungen und Verwirrungen), Abschied von Eltern und jüngst von wichtigen Freunden und Freundinnen. Vor allem wenn Grill im doppelten Sinne in der Nähe bleibt (Familie, die Libeth- Rosalie-Episode etc.), nimmt er den Leser mit . Seine Erfahrungen als Auslandskorrespondent über die Massenmorde und Massensterben bringen angesichts der vielfach bekannten traurigen Fakten wenig Erkenntnisgewinn und berühren nur dann, wenn aus dem Kollektiv der Bestialität das Einzelschicksal sichtbar wird. Für mich zentral ist Urbans „assistierter Freitod“ und die Auseinandersetzung mit Robert Spaemann, ein Dialog auf Augenhöhe und hohem Niveau, im Ergebnis offen. Anders als bei Grill in seinem Schlusskapitel bestimmt meine innere Vorstellung des Reichs der Toten keine Winterlandschaft. Mein Wunsch ist ein Wärmestrom von Erinnerung. Note: 1,5 (ai) <<
>> Verglichen mit dem Autor habe ich in meinem bisherigen Leben deutlich weniger Begegnungen mit Sterbenden und Toten erlebt. Habe ich Glück gehabt?
Auch nach längerem Nachdenken fällt mir „nur“ der Tod meiner Großmutter Kreszentia im Frühsommer 1964 ein, in deren Haus wir wohnten. Die ganze Familie stand betend um ihr Bett, ein Pfarrer brachte die „Letzte Ölung“ (heute freundlicher Krankensalbung genannt). Die Pausen zwischen den gequälten Atemzügen wurden immer länger…
Die Argumentation des Moraltheologen Robert Spaemann finde ich unbarmherzig.Die Interpretation des Liedes vom „Major Tom“ durch den Autor ist etwas daneben. Hingegen sein Satz „Wir Journalisten sind fehlbar“: einfach großartig. Vergleichbares liest man sehr selten.
Ein beeindruckendes Buch, das mich mehr als andere Bücher bewegte und Gefühle auslöste, die ich schwer in angemessene Worte fassen kann. Note: 1,5 (ax)<<