Kein & Aber AG Zürich, 2012 | 250 Seiten.
>>Ein glänzend gewählter Schauplatz dieser Wiener Trafik. Dem Invalidenentschädigungsgesetz hat es der im 1. WK beinamputierte Otto Trsnjek zu verdanken, dass er zum Umschlagpunkt von Nachrichten und Rauchwaren aus der kleinen und großen Welt wird. Die Palette so breit gestreut wie die Kundschaft, ein Wiener Mikrokosmos: Reichpost, Bauernbübler, „Zärtliche Magazine“, das Wiener Journal. In diesen Hotspot der Kommunikation wird der 17jährige Franz Huchel aus Nußdorf am Attersee nach dem tragikkomischen Blitztod des Liebhabers seiner Mutter von einem Tag auf den anderen hineingeworfen. Damit beginnt für ihn, dem das ‚Weltgeschehen damals noch durch die Hände und unterm Hintern hinwegglitt‘ (trefflicher kann man den Abstand zur Kultur des Zeitungslesens nicht beschreiben), das wirkliche Leben vom „Burschi“ zum Franz. Zum einen die ersten sexuellen Irrungen und Wirrrungen in Form der Anezka-Episoden zum anderen und wesentlich bedeutender in Form der schleichenden politisch-gesellschaftlichen Veränderungen in Österreich zwischen 1937 und 1938 : Im Trafik ändert sich das Kundenverhalten, die Journale zunehmend gleichgeschaltet, Schaufensterschmierereien, Anschläge des Fleischhauers Roßhuber und schließlich die Verhaftung Trsnjeks unter dem Vorwand der Pornografie. Die Posttasche des Briefträgers Heribert Pfründner „hat einen großen Teil des Gewichts verloren“, das reicht, um zu wissen, was unter der Postzentrale vor sich geht. In „der Grotte“ bestimmt eines Tages statt Heinzi ein käsig junger Mann mit Dolchkettchen und Totenköpfchen. In der Berggasse 19 wird der jüdische „Deppendoktor“ ins Exil nach England gezwungen. All diese verstörenden Entwicklungen werden ohne Pathos beschrieben, fast im Stil nüchternen Registrierens und man gewinnt den Eindruck, als beuge sich Franz Huchel den veränderten Umständen. Als dann aber eines Tages das „behördliche Packerl“ mit Otto Trsnjeks Hinterlassenschaften eintrifft, ist zunächst der Roßhuber und dann die Gestapozentrale im Metropol an der Reihe. Wie letzterer Akt des Widerstands mit Hilfe von Trsnjeks Zeigefingerhose am mittleren Fahnenmast in einem in direkter Rede wiedergegebenen Einkaufsgespräch einer ungenannten Wiener Kundin beschreiben wird (S.237-243), das ist großartig. Über weite Passagen misslungen dagegen die Franz Huchel Sigmund Freud Geschichte, die ich sogar über weite Strecken für entbehrlich halte. Die Geschichte könnte eigentlich nur gelingen als Demontage der Psychoanalyse, wozu die köstliche Mrs. Buccleton Therapie („Essen Sie weniger Torten“) oder die naiven Empfehlung Freuds zu Franz Liebeskummer („Vergiss sie“, „Mit Frauen ist es wie mit Zigarren…..) sogar Ansätze gibt. Danach lieferte Franz mit seiner Unbekümmertheit einen Beitrag zur Entzauberung des großen Wiener Gelehrten. Wahrscheinlicher ist aber, dass Seethaler Franz und S.Freud auf Augenhöhe ansetzt und das geht schief: sprachlich und inhaltlich. Da will Franz, kaum dass er den „Deppendoktor“ erstmals angesprochen hat, seine Bücher kaufen, da hinterfragt er die Methode Couch, da irritiert er den Professor was die Wissenschaftlichkeit seiner Therapie betrifft, da erklärt der ihm, was „Libido“ bedeutet, gibt 0815-Ratschläge die Liebe betreffend, da geht’s weiter zur Bedeutung des Traums und seiner Deutung und schon formuliert Franz eigene kleine Traumplakate, „aufgeklebte Absonderlichkeit“, die nicht nur die Kundschaft sondern auch mich als Leser irritieren – nein, das ist in einem so klug angelegten Buch zu viel. Note: 2/3 (ai)<<
>>Liebe Mutter, Datum unleserlich
ich war gar nicht begeistert, als ich jetzt entdeckt hab, dass der Herr Seethaler unsere Korrespondenz einfach so veröffentlicht hat. Wie kommt er dazu?
Das war doch alles nur für Dich und mich bestimmt! Wahrscheinlich hätte ich manches auch ganz anders geschrieben, wenn ich das geahnt hätte. Es waren schlimme Zeiten, ja, das hat er richtig beschrieben. Was zwischen mir und dem Professor ablief, hat er allerdings nicht begriffen. Er war ja auch nicht dabei.
Kürzlich habe ich zufällig das Buch „Mit brennender Geduld“ entdeckt. Der Tipp kam von einer Lesegruppe aus Tübingen, die das Buch hoch-, besser gesagt höchstschätzen. Ein Chilene namens Antonio Skármeta beschreibt darin, wie der Dichter Pablo Neruda seinem Briefträger Mario hilft, das Herz seiner geliebten Beatriz zu erobern. Mario hatte ähnliche Probleme mit den Frauen wie ich. Aber wahrscheinlich war Neruda ein besserer Ratgeber als mein Professor. „Denk nicht über die Liebe nach!“ hat er mir damals gesagt. So ein Stuss.
Leider kam Mario genauso unter die Räder einer Diktatur wie ich.
Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass Herr Seethaler dieses Buch kannte und sich davon etwas inspirieren ließ. Der Briefträger wurde verfilmt, mich haben sie auf die Bühne gebracht. Schau dir das Stück ruhig mal an, ich verrate nichts.
Weißt Du, manchmal träume ich von Anezka, aber vielleicht war es doch besser so.
Alle Gute Dir.
Liebe Grüße
Dein Franz Note: 3 (ax) <<
<< Wien 1938. Die Kriegsversehrten des ersten Weltkriegs wurden gegebenenfalls mit einer Arbeitsbeschäftigung entschädigt. Otto Trsnjek (Snjäck) opferte ein Bein für das Vaterland und erhielt einen Kiosk, eine Trafik. Das sollte ihm den Lebensunterhalt ermöglichen. Jetzt ist er tot, weil die einfallenden Nationalsozialisten eine abschließende Meinung von dem Juden hatten. Sein Lehrling Franz wird der Nachfolgetrafikant. Da Franz eine Meinung von den Rechten hatte, wird auch er weggerissen. Sieben Jahre später entdeckt die kleine Hure Anezka an der verwahrlosten Trafik einen Zettel von Franz. Es ist der letzte seiner Träume der letzten seiner Nächte. Auf Anraten seines greisen Bekannten Sigmund Freud notierte Franz seine Traumbilder. Dazwischen lesen wir eine anrührende Geschichte des aufrichtigen Landjungen Franz in einer historischen Gewaltepoche – eingebettet zwischen tröstlicher Mutterbeziehung, penetrierendem Antisemitismus, Liebeseruptionen und psychoanalytischem Slapstick. Es ist die Geschichte des Trafikanten.
Die vielleicht literarisch eindrücklichsten Seiten erwarten den Leser schon in den Anfangsepisoden. Die Mutter am Attersee im Salzkammergut. Das Wetter war wechselhafter als der schlichte Alltag. Doch über dem einfachen Leben der Witwe mit ihrem 17-jährigen Sohn schwebten behütend die Alimentenzahlungen des Sägewerk-Eigners Alois Preiniger. Er fuhr einen Austro-Daimler, auf dessen Rücksitz die Mutter wiederholt Platz fand. Es war eine gute Zeit, bis er vom Blitz erschlagen wurde und die Zahlungen ausblieben. Darauf schickte die Mutter den Buben in die Metropole, damit er ein Auskommen fände. Sie diente ihn Otto Trsnjek an, der zwar keine Alimentenschulden aber noch eine Schuld zu begleichen hatte. Otto Trsnjek stimmte sofort zu.
Franz lernt schnell. Die Produkte der Trafik sind Symbole von Wissen und Genuss: Zeitungen und Zigarren. Aufgabe ist es, das Wesen jedes Kunden zu ergründen, um ihn an das einzige für ihn angemessene Blatt heranzuführen. Franz überwindet hohe Hürden, beschränkte sich seine Begegnung mit dem Weltgeschehen bisher nur auf jene Zeitungsfetzen, die daheim der Hygiene nach der Notdurft gewidmet waren.
In Franz erwachen nicht nur Geschäftsinteressen. Auch Hormone bahnen sich ihren Weg und finden Anezka. Anezka ist wild und begierig. Sie atmet Männer wie frische Luft. Auch Franz ist nicht mehr als ein Atemzug. Natürlich verläuft sich Franz im Labyrinth ihrer Lungenbläschen und bleibt für Anezka nur eine ungewichtige Schrankenlosigkeit. Die erste Sturmflut wirkt wie eine emotionale Naturgewalt, die tiefe Einschnitte in seine Seelendämme reißt. Trost – wenn auch ohne praktischen Nutzen – spendet in dieser Situation ein täglicher Kunde der Trafik. Es ist Sigmund Freud. Eine gleiche ungleiche Bekanntschaft reift. Für Freud entpuppt sich die schlichte Welt des jungen Mannes als viel näherliegend als jene seiner arrivierten Kollegen.
Neben den Schmerzen der Liebe ist Franz mit politischer Gewalt konfrontiert. Anschläge mit zunehmender Heftigkeit prasseln auf die jüdische Trafik nieder bis Trsnjek schließlich verhaftet und ermordet wird. Sigmund Freud muss nach England fliehen. Anezkas Kabarettkollege wird interniert. Der rote Egon stürzt sich vor den Verfolgern vom Dach. Franz gerät aus dem Gleichgewicht, schwankt und verschont dennoch die Mutter in den wöchentlichen Postkartengrüßen mit den bitteren Wahrheiten. Schließlich tritt er unvernünftig mutig den Nazischergen entgegen und verkämpft sich für Trsnjek und Anzeka. Am Ende ist gerade dies sein Ende.
Sitzen wir mit Seethalers Trafikant einer Plagiatsidee auf? Ist das Konzept des Romankontrastes basierend auf der Begegnung eines ungebildeten Landjungen mit einem weltberühmten Gelehrten nicht schon verbraucht worden in Skármetas „Mit brennender Geduld“? Skármeta inszenierte eine überraschende Männerfreundschaft zwischen dem Weltliteraten Pablo Neruda und einem Postboten, der ihm täglich Briefe nach Isla Negra brachte. Parallelen zum Trafikanten sind offensichtlich. Ist nicht auch die literarische Originalität von Sigmund Freud in Yaloms „Und Nietzsche weinte“ mit der fiktiven Begegnung des Philosophen mit dem Begründer der Psychoanalyse ausgeschöpft? Nein. Denn Seethaler wagt anders als seine Schriftstellerkollegen etwas erfrischend Respektloses: Er entweiht das Denkmal. Hinter der großen Etikette skizziert er fast beiläufig und ausschließlich das Kleinteilige, das Banale im Leben von Sigmund Freud. Der Mann ist alt und müde, sitzt am liebsten am unbeobachteten Kopfende seiner ruhenden Klienten. Er verlangt Stundenhonorare, mit denen man ebenso einen halben Schrebergarten kaufen könnte. Er beneidet in heller Erregung Insekten an der Zimmerdecke, die anders als er, ein unbehelligtes Leben führen können. Im graut vor der Einsicht, der eigenen Versteinerung entgegen zu trippeln. Er verweigert Antworten, weil unbeantwortete Fragen allein schon das Ziel seien. Und wenn er sich dennoch einmal zu einer psychoanalytischen Erwiderung durchringt, droht man auf ihrer glatten Oberfläche auszurutschen. Die seelischen Leiden einer allzu adipösen Amerikanerin quittiert er mit der tiefschürfenden Therapieempfehlung, sie solle aufhören, Torten zu essen. Dabei verfällt Seethaler nicht einmal in einen trivialen Tonfall, sondern komponiert eine leise klingende Dissonanz, die so zurückhaltend ist, dass man sie fast überhören könnte.
Ein kleiner Schönheitsfleck bleibt dennoch. Nicht immer gelingt es Seethaler, die Rollenverteilung dialogisch durchzuhalten. So wird der siebzehnjährige Landjunge schon mal zum psychologischen Gelehrten, wenn es um Feinheiten in der Auseinandersetzung mit Freud oder seiner Mutter geht.
Note: 2 – (ur)<<
>>Wieder mal so ein kleines Schmuckstück, das vielfach „gerne gelesen“ und weiterempfohlen wird. Allerdings: Wenn Christine Westermann (WDR) es „großartig“ nennt, müsste man schon skeptisch an die Sache rangehen. Der Plot ist vielversprechend und der Anfang auch literarisch sehr gelungen. Franz, junger Mann aus dem Salzkammergut wird von der Mutter 1937 aus der Not heraus zu einem Bekannten, dem kriegsversehrten Otto nach Wien geschickt, der dort ein „Trafik“ betreibt. Dort erlebt er sein „ coming of age“, wie es neuerdings neudeutsch heißt, lernt viel und schnell über das Leben, erfährt seine erste Liebe, und das Aufkommen des Nationalsozialismus. Zentral, das wird bei keiner Besprechung ausgelassen, dann die Begegnung, ja sogar eine Freundschaft mit der Ikone der Psychoanalyse Sigmund Freud, dem „Deppendoktor“. Und da, aber nicht nur da, wird es problematisch. Die Schilderung der Beziehung zu Freud ist literarisch dermaßen misslungen, dass man sich fragt, was Seethaler damit bezwecken wollte. Kaum etwa hat der schüchterne 17- jährige Junge vom Land den „weltberühmten“ Freud kennengelernt, da gibt er ihm schon altkluge Ratschläge, wie „Mit seiner Gesundheit spielt man nicht!“ und antwortet ihm „streng“. (S.76); absolut unglaubwürdig. Die Ratschläge Freuds für den unglücklich verliebten Franz sind banal („Hör auf über die Liebe nachzudenken“) und nichts mehr als Kalenderweisheiten. Man könnte einwenden, dass Seehthaler Freud deskonstruieren, die ganze Psychoanalyse als Scharalanterie entlarven wollte. („Warum darf ich, der weltberühmte Begründer der Psychoanalyse nicht bleiben?“ lässt Seethaler Freud auf S. 224 tatsächlich sagen!) Aber von Entlarvung oder vom „Sockel holen“ ist in Besprechung nichts zu lesen und auch in Interviews stützt Seethaler diese These nicht. Ich fürchte, er hat es ernst gemeint. Gesützt wird meine These durch folgendes Musterbeispiel für Verkündigungsprosa: Der 17jährige Junge aus der Provinz entschlüsselt nach kurzer Bekanntschaft mit Freud desssen Methode. „Kann es viellicht sein, dass Ihre Couchmethode nichts anderes macht, als die Leute von Ihren ausgelatschten, aber gemütlichen Wegen abzudrängeln, um sie auf einen völlig unbekannten Steinacker zu schicken, wo sie sich mühselig ihren Weg suchen müssen, von dem sie nicht die geringste Ahnung haben, wie er aussieht, wie weit er geht und ob er überhaupt zu irgendeinem Ziel führt?“ (S.141). Freud – wenn wundert es – muss zustimmen.
Insgesamt wirken die Dialoge über weite Strecken hölzern, dem sozialen Status der Protagonisten nicht adäquat und pulverisieren damit zunehmend das eigentlich interessante historische Gerüst der Geschichte. Auch die Postkarten an die Mutter und deren Zeilen zurück, sind nahe an der Kitschgrenze oder darüber und von plakativen, wenig glaubhaften Lebensweisheiten durchzogen. Der 17jährige (!) Franz an seine Mutter: „Aber vielleicht ist es ja so mit dem ganzen Leben: Man entfernt sich von Geburt an und mit jedem einzelnen Tag ein bisschen weiter von sich selbst, bis man sich irgendwann gar nicht mehr auskennt“ (S.66). Was soll das? Das erinnert unangenehm an die pseudophilosophische Penetranz vielen amerikanischen Filme. Oder – noch schlimmer: Die Mutter schreibt in einem Brief an den 17jährigen Sohn im Jahre 1937 : „Ich hab‘ schon graue Haare, aber wenigstens ist der Hintern noch einigermaßen fest.“ (S.171).
Es gibt kaum eine Besprechung, in der nicht die „Leichtigkeit“ der Sprache Seethalers lobend erwähnt wird. Nun, ich würde die Sprache Seethalers in diesem Roman nicht „leicht“ nennen. Das erinnert zu sehr an die „leichte Sprache“, mit der z.B. Behörden neuerdings versuchen, komplexe Sachverhalt in eine „einfache Sprache“ zu übersetzen, die ein leichteres Lesen ermöglichen soll. Nun, leicht zu lesen war der Trafikant in der Tat. Aber die Sprache ist zuweilen doch recht dürftig und die massenhafte Verwendung schlichter Adverbien („sagte xy streng“, „zerknirscht“, „erschrocken“, usw.) enttäuscht.
Note: 4+ (ün)<<