Hast Du uns endlich gefunden- Edgar Selge

Rowohlt 2021 – 302 Seiten

<<Eine im wahrsten Sinne schonungslose Abrechnung von Edgar Selge mit seinem Vater gleichen Namens. Schonungslos auch deshalb, weil Selge auch sich selbst nicht schont. Am Ende bleibt trotz der zwingenden Solidarisierung mit einem durch einen unerbittlichen Vater gepeinigten Jungen bei mir auch nicht mehr so viel Sympathie für den Autor übrig. Seine Seelenlage und die durch ein musikalisches Zwangssystem dominiertes, großbürgerliches Elternhaus erzählt Selge brillant. Genial auch, wie er den Schulweg als Zündschnur zwischen zwei explosiven Ort beschreibt: Der Schule und seinem Elternhaus. In einer Szene traut sich der Junge den schlagenden Vater endlich zu fragen: „Hat dich dein Vater auch geschlagen“? „Nein, hat er nicht“. Die Nachfrage:  “Warum schlägst du dann mich?“ traut sich der junge Edgar dann nicht mehr zu stellen. Er begreift es einfach nicht, warum ihn sein Vater schlägt, der doch so lebendig der ganzen Familie aus den Brüdern Karamasow vorliest und für seine 400 Gefangenen ein fürsorglicher Gefängnisdirektor ist. „Warum! Er! Mich! Schlägt!“. Und den er doch liebt.
Er schreibt seine Geschichte erst auf, als das ganze Land während der Pandemie lahm liegt. Die Welt da draußen fragt ihn: „Mensch Edgar, sag, was los ist! Meine Liebe zu meinem Vater. Das ist es, was los ist. Ich will nicht zugeben, von jemand geschlagen zu werden, den ich liebe“. „Ich will auch nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt. Eine Schlüsselstelle (S.131) und ein Dilemma, aus dem er sich nicht lösen kann. Denn er schildert seinen Vater, seine Mutter auch seinen Bruder Andreas mit einer gnadenlosen, zuweilen auch kalten Distanzlosigkeit, dass man seine Liebe nicht mehr erkennen kann. Als er seinem sterbenden Bruder Andreas auch noch einen Schluck Wasser verweigert, ist ihm klar, dass dies grausam ist. Er hält sie aus. Seine Härte.  Note : 1/2 ( ün)>>

 

>> Kein Zweifel. Edgar Selge ist ein glänzender Erzähler. Hier arbeitet ein 73Jähriger ausgehend von prägenden Kindheitserinnerungen eines 12Jährigen eine Familiengeschichte ab, in der sich zugleich typische Züge deutscher Nachkriegsgeschichte widerspiegeln. Was mit der Schlüssellochperspektive des Grundschülers Edgar im Hauskonzertritual des Gefängnisdirektors und Vaters 1960  beginnt, endet im nachgeholten fiktiven Gespräch mit dem verstorbenen Bruder Andreas 2021, ein Epilog der erstmals  Züge von dem trägt, was den vorausgehenden Kapiteln fehlt: Empathie.  Ein Vater „unter dem ich so sehr gelitten habe“ und zugleich jetzt aus dem Abstand „Wellen der Liebe. Die Zeitebenen verändern sich innerhalb der Kapitel. Die frühen Erinnerungen prägt eher die Atmosphäre der Bedrückung. „Mein Gefängnis trage ich immer in mir herum“ (149) ist der therapeutische Schlüsselsatz dieser Familiengeschichte. Schon die Hausmusikinszenierungen vor gediegenen „Akademikerpaaren aus unserer Kleinstadt“ und bildungsfernen jugendlichen Straftätern bilanziert Edgar nüchtern: keine Idylle, keine Freude „Wir kämpfen hier täglich hart um ein Zusammenleben“, ob Mozart oder Schubert-Duo „Musizieren ist Anstrengung, Drill, manchmal auch Erniedrigung“, gar von „Irrenanstalt“ und „Musikanstalt“ ist die Rede. Und in der Tat ist das Setting eingangs freudlos. Der musizierende Gefängnisdirektor im Übungsstress, der angereiste Profigeiger ein wirklicher Tonangeber, die musikalisch und organisatorisch überforderte Mutter und ein großer Teil des Publikums, das weniger an Klaviersonaten als am Wiederkennen des selbst gefertigten Mobilar Interesse zeigt. Dass dem inneren Gefängnis nach dem 1. Fluchtversuch des 8 Jährigen  weitere Fluchtversuche folgen (müssen) erklärt dem 12jährigen  der  reichlich therapiekundige (!)10 Jahre ältere Bruder Werner: „Deine Wirklichkeit ist dein Vater“. Und so wird sowohl Edgars Besessenheit fürs kindliche Kriegsspiel wie auch seine Verwandlungskunst in Dr. Baumanns Dachbodenschule für „Schwererziehbare“ (Wiege der Schauspielkunst!) letztlich zum Ersatz von dem, was neben Steinway,  Klaviersonaten und  sonntäglichen Dostojewski-Leseritualen auf der Strecke bleibt: Kulturgutpflege statt Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, Prügelpädagogik statt Hilfestellung für Schulangst und pubertäres Verhalten. Einzig die beiden älteren Brüder Martin und Werner sind Stützen im Orientierungschaos des 12jährigen. Sie ordnen auch ein, was Edgar nach kurzer Abwesenheit der Eltern mit „Dreckshänden im Flügelzimmer“ (großartig!!) im Bücherschrank entdeckt. Für diese ältere Brüdergeneration ist klar. Diese Widmungsgeneräle sind alles „reisende Henker und Schlächter“. Das Kapitel „Magenstiche“ ist das Glanzstück dieses Buches, weil es zwei Tragödien offenbart: Die kollektive Verdrängung der NS-Geschichte und die individuelle Tragödie der Mutter, die gleichsam psychosomatisch zum Ausdruck bringt, im Leben alles falsch gemacht zu haben, ein bittere Abrechnung mit der ihr von „diesem Mann“ zugewiesenen Frauenrolle : Alltägliche Sisyphusarbeit,  Schwiegermutters zarter Streuselkuchen und Apfelsaftepisode mit „blöden Psychologen“ sind frühe Ausschnitte aus der kleinen Welt. Die entscheidende Dimension jedoch eröffnet erst der Besuch der 83jährigen Mutter 1997 bei der Münchner Ausstellung „Verbrechen der Deutschen Wehrmacht“ späte Belege für Ausblendung der Wirklichkeit und die Unfähigkeit zu trauern. Da wird der Magenstich zum lebensgefährlichen Magendurchbruch. Dass sich noch in der Erinnerung der 52jährige Edgar dafür schämt seine Mutter Monate vor ihrem Tod mit einem Foto von den Kratzspuren an den Wänden in den Gaskammern konfrontiert zu haben, zeigt wie schmal der Grad zwischen notwendiger Aufarbeitung und familiärem Schonraum ist. Jedenfalls bleibt der bittere Abschied von der Mutter „Nimm deine Sachen und hau ab, ich will dich hier nicht mehr sehen“ nur nachvollziehbar, weil noch in der Stunde des Todes jedes gegenseitige Verständnis über die Vergangenheit fehlt.

Der Abschied vom Vater dagegen, wenige Jahre nach seiner Pensionierung, früh aber dafür standesgemäß als Kontrastprogramm. Kein derbes „Hau ab“, die schonungslose Konfrontation mit der Tätergeneration scheint ihm erspart geblieben zu sein (Das Hauskonzert beim Juden Brand hat schon genügt!), deshalb kein Magenstich sondern Herzinfarkt am heißen Strand von Ischia und Rückkehr in die Wohnung des Cellistensohnes Werner. Bildungsbürgerlich musikalisch ist die Kulisse, der 4.Akt der Aida gibt das Motto „Leb- wohl, o Erde, Tal der Tränen“ und Dali zerlaufende Uhren gibt’s noch dazu. Der Fiktion an dieser Stelle etwas zu viel. Friedlich jedenfalls der Abgang eines autoritären Vaters, der Kultur als Schutzraum zelebriert, geschichtsblind, mit viel Sinne für Sekundärtugenden, aber fast ohne  Wärmestrom und Sensibilität.

Das Buch von Edgar Selge ist letztlich eine Traumabewältigung und ein Beleg, dass Kränkungen auch großartige schauspielerische und literarische Schöpfungskräfte freisetzen können .  Note: 1/2 (ai)<<

>> Den Besprechungen der beiden Lesefreunde kann ich nur zustimmen. Alles Wichtige ist gesagt. Ich kann mich kurz fassen. Edgar Selges Spätling, genauer gesagt sein Erstling, an dem er fünf Jahre lang gearbeitet hat, berührt mich mehr als viele andere Bücher. Woran könnte es liegen? Der junge Edgar hat es nicht leicht. Seine Eltern wollen ihn von seinem „Hang zur Unaufrichtigkeit“ befreien. Unentwegt und mit allen Mitteln. „Kommunismus und Kitsch“ bedrohen die Welt des musikalischen und gebildeten Vaters. Seine Übergriffigkeit gegenüber den eigenen Söhnen macht ihn zu einer mehr als problematischen Figur. Die Mutter leidend, voller tragischer Momente.

Die Situation der Eltern wird genial komprimiert zusammengefasst: „Der Krieg ist verloren, der Nationalstolz im Eimer, die Nachkriegszeit haben sie überstanden, mit Ach und Krach, aber die Kultur ist übrig geblieben.“ (Seite 18) Ein großes Thema, die Musik. Beethoven zum Beispiel: „Diese Musik ist voller Erlebnis, da geht es um was.“ (Seite 42). Ja um was denn? Gleichzeitig ist Musik ein großer Stress. Die Mutter weint, weil der Profigeiger ihr die geigerischen Grenzen aufzeigt. Zum Kotzen, sorry. Die sogenannte U-Musik existierte schon damals, hat aber Hausverbot bei Selges. Gemeinsames familiäres Singen mit Papa am Piano kommt nicht vor. Es muss Klassik sein. Und es wird gestorben. Auf sehr unterschiedliche und brutale Weise. Das Verhalten der todkranken Mutter gegenüber ihrem Sohn, unfassbar.Wie Edgar verzweifelt um das Leben seines jüngeren Bruders kämpft, das geht unter die Haut.

Bei der Buchvorstellung in Tübingen sagte Selge: “Ich glaube, Kinder haben die Fähigkeit, furchtbare Dinge zu erleben und nicht an ihnen zugrunde zu gehen. Resilienz nennt man das.“(Schwäbisches Tagblatt vom 13. Mai 2022). Edgar Selge muss sich diese Resilienz über die Kindheit hinaus bewahrt haben.

Mein zusätzlicher „Lektüremehrwert“: viel Glück gehabt mit meiner unbeschwerten Kindheit in der Kleinstadt auf der Ostalb, mit Eltern, die wussten, wer sie sind und nicht mehr sein wollten und ihre Kinder selbst-und bedingungslos liebten. Sie erzählten mir von einem Nachbarn, der nach Dachau kam, von Bespitzelungen in Gottesdienst, von einer Hausdurchsuchung durch die Gestapo. Meinen Eltern, dem Schicksal oder auch Gott, großen Dank. Note : 1/2 ( ax)<<

 

>> Hast du uns endlich gefunden ist der Ausruf, den Edgar Selge in dieser autobiographischen Reflexion im Traum seiner Mutter in den Mund legt. Wie im Traum alles eine Inszenierung des Träumenden ist, so spricht in diesen Worten nicht die Mutter, sondern der Autor. Das Anliegen: eine widerstreitende Sehnsucht des inzwischen 70-jährigen die Eltern endlich „zu finden“. Die familiären Schlachten sind geschlagen. Den erbitterten Kämpfen folgt nach der Erschöpfung der tiefe Wunsch nach Ausgleich. Selge war erschüttert, dass er den liebte, der ihn quälte. Vor allem seinen Vater, diesen disziplinierenden Justizbeamten. Auch wenn das Werk von traurigen, nachdenklich stimmenden und erstaunlichen Daseinswidersprüchen und Alltagskonflikten durchzogen ist, wird vor allem gegen Ende immer deutlicher, dass Selge weiß, dass er zuerst das Bild seines Vaters in sich zerstören muss, bevor er das sie beide Verbindende reanimieren kann.

Selge bedient sich dabei literarisch eines hilfreichen Instruments. Er lässt den Grundschüler Edgar erzählen. Die kindliche Flapsigkeit macht Erschütterendes unterhaltsam ohne den ernsten Inhalt zu verwischen. Naive Ich-Betonung des Buben macht die Disziplinierungsprinzipien der Eltern plausibel. Tragik wird zur Komik und bleibt dennoch tragisch. Die Kunst des Autors liegt vor allem darin, mit dem Sprachgebrauch eines frühreifen Lausbubs eine Tiefensicht zu erlauben und dennoch die literarische Gestalt des Kindes durchgängig zu erhalten. Letztlich wird dadurch auch erreicht, dass das Autoritätsgefälle innerhalb der Familie als übermächtig nachempfunden werden kann. Entsprechend kann der Leser umso eindrücklicher die verbissenen Befreiungsversuche des kleinen Edgar nachvollziehen. Und natürlich hat der anerkannte Schauspieler Selge Sprache. Sprache, die grandios zwischen den Welten beider Generationen Brücken schlägt, die anrührt und betroffen macht, aber immer auch von Witz und Leichtigkeit beflügelt wird. So etwa als Vaters Rohrstock auf ihn niederfährt: „Dann packt er mein Genick und biegt meinen Körper über die Ehebetten … Der heiße Urin rinnt mir ins Hosenbein. Du Schwein!, stößt er aus, hörbar angestrengt. Ja, das ist auch für ihn ein körperlich fordernder Vorgang.“

Selbst die profunden Sachkenntnisse musikalischer Darbietungen will man dem Grundschüler abnehmen. Der Author schafft den fließenden Übergang der Sprachwelten, wenn der Wicht im wohlwollenden Kennerton die väterlichen Intonationen früher Bachfugen als überstürzt und ein wenig atemlos beschreibt. In Edgar steckt Potential. Aber er will es nicht nutzen. Auch musikalisch nicht, obwohl er schon als Schüler von Klassik ergriffen ist.  Edgar braucht die Pflichtverletzung, braucht den Widerspruch. Edgar spürt sich erst in der verbotenen Grenzüberschreitung. Edgar ist ein notorischer Dieb. Edgar streut unhaltbare Versprechen. Edgar schlägt vor den Kopf. Selbst jene, die ihm nahe sind. Wenn er der platonisch geliebten Klassenkameradin einen Viertelliter Pausenkakao in die wunderschönen Haare schüttet, um ihren Blick ernten zu können. Wenn er den übergewichtigen, lieben Nachbarn durch Klingelstreiche durch die Wohnung scheucht. Ja, es hat sogar etwas von eigenwilliger Selbstzerstörung. Ein wiederkehrender Reflex, den Edgar gelegentlich bereut. Ein Reflex, der ihm viel häufiger jedoch unbändige Freude bereitet. Als der Vater während der sonntäglichen Lesestunde Dostojewskis „Brüder Karamasow“ abhandelt, meint der Kleine den Sog der Selbstzerstörung zu erahnen, der nicht nur die Karamasows, sondern auch ihn betört.

Was sich einstellt, ist ein labiles Gleichgewicht, in dem elterliche Willkür, kindliche Renitenz, Schicksalsleiden und seine hartnäckige Resilienz die Wirkkräfte sind. Trotz schmerzlicher Niederlagen steigt der unverwüstliche Edgar immer wieder in den Ring. Sein übermächtiger Gegner ist der Vater. Wer ist das? I. Weltkriegsveteran, degradierter Jugendgefängnisdirektor, Sympathisant inhaftierter Nazigrößen, gebildeter Antisemit und preußischer Ordnungshüter vor allem in Erziehungsfragen. Lateinstunden mit dem Vater tragen das Gesicht von Folterritualen. Bedrohungen gibt es für den Vater vor allem zwei: Kommunismus und Kitsch. Dieser Mann ist auch belesener Bildungsbürger und vor allem Musiker. Besessen von Beethoven und Kollegen verbringt er jede freie Minute Piano übend, um in Konzerten vor die 400 Jugendstraftäter seiner Anstalt und die Honoratioren des Rotary Clubs zu treten. Klassik ist für ihn die Ästhetik rigoroser Ordnung, in der jeder Laut unmissverständlich definiert ist. Passgenau in der Wertewelt der Autoritätsperson Selge senior.

Und dennoch hat der Alte auch eine fürsorgliche Seite, die jugendliche Straftäter vor dem erbarmungslosen Erwachsenenstrafvollzug bewahrt in der Hoffnung, doch noch ein vermurkstes Einzelschicksal zum Besseren wenden zu können. Auch überrascht er als Ehemann, der die verzweifelte Frau auffängt, als sie in der vierten Fahrprüfung in das Schaufenster ihres geschätzten Handarbeitsladens rast. Aufrichtige Tränen vergießt er mit der Mutter seiner fünf Söhne, von denen zwei frühzeitig starben. Einer beim Spielen mit einer Handgranate, der andere als Student auf Grund eines Nierenleidens. Ja, er hat auch Wärme.

Für Edgar sind die beiden deutlich älteren Brüder Säulen der Zuversicht. Junge Männer, die ungestraft am Esstisch Widerspruch leben, liberale Ideen hochhalten, Kriegsschuld benennen und ihm klammheimliche Lebenshilfe gewähren. Ein einziger Trost im Familienkreise. Denn die zarte Mutter ist mit ihrer eigenen Verzweiflung so ausgelastet, dass sie Edgar keinen Ausgleich bieten kann. Ihre Lebensenttäuschung ist allumfassend. Statt der Haushaltsmonotonie, der Gefängnisallgegenwart, der patriarchalischen Ehemann- und Söhnewelt wäre ihre Berufung die einer Lyrikerin gewesen. Stattdessen verzehrt sie sich im Kreise drehend. Letztlich bleibt sie unversöhnlich und wird auch am Sterbebett den immer noch aufsässigen Edgar fortschicken. Trotzdem oder gerade deshalb scheint der Schauspieler Selge sich als Autor seiner Familie anzunähern. Schreiben schafft Frieden. Hast du uns endlich gefunden.

Ein sehr gutes Buch. Ein guter Ton. Auch eine kleine Kultur- und Zeitgeschichte. Ein pädagogisches Panoptikum. Wirklich lesenswert. Note: 1  (ur) <<