Europadämmerung – Ivan Krastev

Edition Suhrkamp SV 2017 – 144 Seiten

>>            Der Autor befasst sich kritisch mit dem Wesen der Europäischen Union. Während die EU noch alle erdenklichen Formen der Integration dekliniert, entwirft Krastev eine Theorie der Desintegration. Er nimmt verschiedene Kräfte wahr, die eine Auflösung der EU befürchten lassen. Europäer gäben als Ziel die Überwindung der ethnischen Nationalismen an bis hin zur Aufgabe der Nationalstaaten. Wohlstand und soziale Gerechtigkeit könnten durch eine prosperierende kollektive Ökonomie erreicht werden. Gleichzeitig würde von einem geradezu infektiösen Transfer liberaler Ideen, Wirtschaftsmodelle und politischer Ideen ausgegangen. Getrieben wurden diese Ideen durch den geopolitischen Ost-West-Konflikt, bei dem die sozialistische Sowjetunion indirekt die treibende Kraft war. Auf die sozialistische Konfrontation antworteten die europäischen Demokratien mit einem wirtschaftlichen und politischen Schulterschluss in Form der EU.

Nach dem Zerfall des Sowjetreiches fehlt jedoch diese konstruktive Bedrohung. Stattdessen entwickelt sich in der EU ein destruktiver Innendruck, wobei streng nationale Loyalitäten revitalisiert werden. Auslöser dieser Entwicklungen sind vor allem internationale Krisen (Finanz, Migration, Corona) an deren Ende der Pessimist Krastev in absehbarer Zeit den EU Zusammenbruch prognostiziert. Der finale Dolchstoß wird die anhaltende Migrationskrise sein. Entscheidend ist dabei der Konflikt zwischen dem Autoritarismus an den Rändern (Polen, Ungarn) und dem dagegen rebellierenden Zentrum (Frankreich, Deutschland). Migration wird zur Revolution der Moderne. Es ist kein Versuch der Systemänderung von Staaten, sondern der Versuch von Millionen, ihre Lebensumstände zu verbessern. Der Revolutionär ist der Fliehende. Systeme werden unter ihm zusammenbrechen. 

Der europäische Liberalismus wird mit dem zentralen Widerspruch konfrontiert, dass der Geburtstort über das Wohl eines Menschen entscheidet. In vielen Analysen wird ignoriert, dass Rechte etwas kosten. Deshalb hängt die Verwirklichung von Rechten auch vom Wohlstand einer Nation ab. Gespeist vom Diktat des globalen Vergleichs katalysiert durch das globale Internet entsteht ein Sog zu größerem Wohlstand. Das Dasein mit einem vergleichsweise geringeren Wohlstand/größerer Armut wird weltweit für das Individuum unerträglich. Es ist das Trauma einer Welt als globalisiertes Dorf. Migranten werden die Akteure des 21. Jahrhundert sein. Die Erwartung, dass die EU und ihre Bürger sich zunehmend in eine demokratischere, tolerantere, liberalere Gesellschaft entwickeln werden, wird durch die Flüchtlingskrise grundlegend in Frage gestellt. Denn die Flüchtlingskrise ist nicht nur eine Migration von Menschen, sondern auch von Argumenten, Emotionen, politischen Identitäten und Wählerstimmen in den Aufnahmeländern. In der Zeit nach 2015 wird die Flüchtlingskrise zum 11. September der EU. Es ist vor allem die Angst vor dem Zusammenbruch der moralischen Ordnung, die zur treibenden Kraft wird, sich gegen Ausländer zu stellen – weniger die Angst vor Wohlstandsverlust.

Bemerkenswert auch die Tatsache, dass die Migrationskrise die politischen Orientierungen umgekehrt hat. Früher vertrauten westliche Bürger ihren nationalen Regierungen mehr als Brüssel. Östliche Staatsbürger dagegen trauten EU-Technokraten mehr als ihren korrupten Regierungen. Heute haben sich diese Orientierungen invertiert. Damit hat die Migrationskrise nicht nur zu einer Priorisierung nationaler Interessen im Osten und einer paneuropäischen Betonung im Westen geführt, sondern auch eine neue Ost-West-Spaltung bewirkt. Selbst humanitäre Grundsäulen geraten ins Wanken. Inzwischen scheint die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 veraltet, war sie doch vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges und faschistischer Unterdrückung formuliert worden. Die Konvention war nie gedacht für den Massenexodus zwischen Kontinenten. Pervertiert wird diese Situation durch die Tatsache, dass Vertriebene vielfach erfolgreich als politische Waffe eingesetzt wurden und werden. Dieser Missbrauch ist deshalb möglich, weil man sich ein humanitäres Manifest gegeben hat, das in letzter Instanz globalen Massenmigrationen nicht gewachsen ist.

Neben diesen durch internationale Krisen katalysierten Zersetzungsprozess, gibt es weitere Widersprüche, die Krastev als Paradoxien wahrnimmt.

Das osteuropäische Paradoxon.

            Warum sind die ehemals europafreundlichsten Länder des Ostens die größten Migrationskritiker? Die Fremdenfeindlichkeit osteuropäischer Länder ist historisch gewachsen. Diese multiethnischen Länder gingen erst im 19. Jahrhundert aus dem Zerfall der Großreiche Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland hervor – verbunden mit umfassenden ethnischen Säuberungen. Nachdem etwa aus Polen Juden, Ukrainer und Deutsche vertrieben oder ermordet worden waren, bildete sich die weltweit homogenste Gesellschaft mit 98% ethnischen Polen heraus. Viele westeuropäische Länder dagegen waren und bleiben bis heute nach dem Zerfall ihrer Kolonialreiche und tolerierter Einwanderung gemischte Ethnien. Bemerkenswerterweise gehören osteuropäische Bürger jedoch selbst zu den migrationsfreudigsten in der EU. So haben z.B. mehr als 2 Millionen Bulgaren ihr Land, das nur 7 Millionen Einwohner zählt, verlassen.

Die europäische Integration Osteuropas ist nicht nur ein wirtschaftliches Projekt, sondern soll vor allem die Unumkehrbarkeit des demokratischen Wandels in den postkommunistischen Staaten garantieren. Das Verfahren stützt sich dabei auf das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche. Mit der schnellen Abfolge internationaler Krisen macht sich jedoch inzwischen eine illiberale Wende bemerkbar. Die Migrationskrise entwickelt dabei die größte Dynamik. Populistische Parteien mausern sich zur Stimme bedrohter Mehrheiten. Extrem im Osten, aber explosionsartig auch im Westen. Populismus wird zum europäischen Mainstream.

 

Das westeuropäische Paradoxon.

Warum hat die politische Mobilisierung der jüngeren Generation Westeuropas, die betont EU-freundlich und liberal eingestellt ist, nicht zu einer paneuropäischen Massenbewegung geführt? Vermutlich auch, weil sich die Bewegung selbst in einen unlösbaren Widerspruch verfangen hat. Einerseits favorisiert diese neue kosmopolitische Revolution die Auflösung der Nationalstaaten hin zu einer liberalen, grenzenlosen Europäischen Republik. Gleichzeitig werden aber regulative EU-Institutionen vehement abgelehnt, womit ein abgestimmtes europäisches Miteinander unmöglich wird.

Das Brüsseler Paradoxon.

Warum gibt es so viele Ressentiments der Brüsseler Führung gegenüber, wo sie doch die meritokratische Elite Europas darstellt? Eigentlich sollte eine Meritokratie als System mit den talentiertesten und fähigsten Menschen in Führungspositionen sogar gegenüber einer Demokratie (Herrschaft der Mehrheit) überlegen sein. Tatsächlich entsteht der Eindruck, dass meritokratische Politik Ungleichheit schafft und diese durch Unterschiede in der Leistungsfähigkeit begründet. Die Eliten selbst werden dabei als illoyal wahrgenommen, die aufbauend auf ihre Kompetenzen wie Hochleistungsfußballer beliebig die Vereine wechseln. Entsprechend versprechen im Gegenzug populistische Parteien, Eliten zu nationalisieren. Sie versprechen den Menschen nicht sie zu retten, sondern bei ihnen zu bleiben. Sie versprechen nicht Kompetenz, sondern Intimität. Ähnlich übrigens wie auch vom ehemaligen amerikanischen Präsidenten Trump praktiziert.

Das Paradoxon von Referenden

Eine Möglichkeit, die Arbeit der EU zu unterlaufen, sind Referenden. Diese werden als direkte Demokratie dem entrückten Brüsseler Diktat entgegengehalten. Manche sehen in Referenden die wirkungsvollste politische Teilhabe innerhalb einer Demokratie. Andere sehen sie als perverseste Möglichkeit zur Manipulation der Massen. Bei gleichzeitig gestellten Fragen: „Wollen Sie Steuerkürzungen?“ und „Wollen Sie die Erhöhung der Sozialausgaben?“ wird die Mehrheit beides bejahen, obwohl es sich widerspricht. EU-Skeptiker haben entsprechend z.B. in Ungarn (Nicht-Aufnahme von Flüchtlingen) und den Niederlanden (Nicht-Assoziation der Ukraine) mittels Referenden EU-Politik untergraben. Fairerweise muss angemerkt werden, dass Referenden wie z. B. während der griechischen Finanzkrise die europäische Fiskalpolitik phasenweise gestärkt haben. Referenden bleiben ein äußerst zweischneidiges Schwert.

Und Russland?

Russische und osteuropäische Eliten sehen in den Zersetzungsprozessen innerhalb der EU Reminiszenzen an den Zerfall der Sowjetunion. Von Russland wird der EU-Zerfall offensichtlich gezielt gefördert, worauf auch die zunächst erstaunliche Nähe zu rechtspopulistischen Parteien wie der AFD in Deutschland und der französischen Front National beruht. Für Russland ist ein sich zersetzendes Europa geopolitisch von Vorteil.

Krastevs Empfehlung.

Bei allem Pessimismus empfiehlt Krastev dennoch, die Kompromissbereitschaft zu erhöhen. Versöhnung zwischen den Kontrahenten sollte höchste Priorität haben. EU-Mitglieder sollten nicht versuchen, den innereuropäischen Gegner zu besiegen, sondern u.U. Teile der gegnerischen Politik zu integrieren. Im Rahmen der Migrationskrise als ernsteste Bedrohung gehören gut geschützte Außengrenzen als eines dieser Entgegenkommen dazu.

Kritik an Krastev.

Trotz vieler interessanter Aspekte malt Krastev ein einseitig negatives Bild der EU. Die EU sei fortlaufend mit Krisenspaltungen konfrontiert, die in absehbarer Zeit den Zusammenbruch bewirken werden. Die Finanzkrise spaltete in Nord und Süd, der Brexit zwischen Kern und Peripherie, die Flüchtlingskrise in Ost und West, die Ukrainekrise 2014 zwischen Falken und Tauben bzgl. des Umgangs mit Russland.

Die vielen, teils bedrohlichen Krisen und ihre Bewältigungen (!) können jedoch ebenso als nicht endende Reihe von Erfolgsgeschichten interpretiert werden. Dies ist umso eindrücklicher, da es sich um völlig unterschiedliche Bedrohungen handelte (Binnenpartizipation an Arbeitsmärkten und den Sozialsystemen, Finanz-, Russland-, Migrations- und Coronakrise). Im Moment vollzieht sich mit dem aktuellen (2022) Russland-Ukraine Krieg ein schwer vorstellbares historisches Ereignis, welches eine ungeahnte Solidarität unter den EU-Mitgliedern befördert. Alle Binnenkonflikte treten weitgehend in den Hintergrund. Die EU ist so vital wie noch nie mit einer gewissen Nachhaltigkeitsgarantie. Da die russische Bedrohung vermutlich langfristig bleiben wird, ist mit dem alten Feind der befriedende Zwang zur Einheit wiederbelebt. Bizarr aber real, die kurative Wirkung eines Völkerrechtsverbrechens.     Note:3+  (ur) <<

 

>>Ivan Krastevs „Europadämmerung“ ist gewiss eine kluge Bestandsaufnahme des Dilemmas der Europäischen Integration. Vor allem sein Blick auf die so unterschiedlichen historischen Voraussetzungen der „mitteleuropäischen Staaten“ (gemeint die osteuropäischen Staaten) führt uns nicht nur in der Migrationsfrage die Krisenanfälligkeit der EU vor Augen. Dennoch erscheint mir sein anfangs geäußertes Untergangsszenario (Sturz des Kontinents in Unordnung, Zusammenbruch liberaler Demokratien an den Rändern Europas, Kollaps mehrerer Mitgliedstaaten, Traum eines freien und geeinten Europas dürfte ausgeträumt sein, s. S.17) nicht zu seiner nachfolgenden differenzierten Analyse zu passen. Krastev benennt zwar die Sprengkräfte: Finanzkrise, Schuldenunion, Migration, Brexit, Wiedererstarken von Nationalismen und Populismus, Institutionen- und Meritokratenbashing, verweist aber zugleich in seinem Schlusskapitel neben den Brüsseler „Kohäsionsbemühungen“ auf die ökonomischen und sicherheitspolitischen Bindungskräfte. Dabei stellt er aus meiner Sicht zu Recht fest, dass nur die Kunst „ständiger Improvisation und Flexibilität“ und die Bereitschaft zum Kompromiss (Interessensausgleich starker und schwacher , westeuropäische und mitteleuropäischer Staaten) das Überleben der EU sichern kann. Das bedeutet sich zu den Widersprüchen der Demokratie, der universellen Menschenrechte und des Liberalismus zu bekennen und das nicht nur bei Krastevs Forderung nach gut geschützten Außengrenzen und seiner Absage an Referenden.

Ob es Europa noch dämmert – die Geschichte wird’s letztlich beantworten.
Note: 2/3 (ai)<<

 

 

>> Im Untertitel „Ein Essay“. Also der Versuch, Fragen in knapper Form zu beantworten. Die Themen: Risiken eines Zerfalls, einer Desintegration der Europäischen Gemeinschaft, Tendenzen zur Renationalisierung. Dem Risikofaktor Flüchtlingskrise (2015) wird dabei ein sehr großer Stellenwert eingeräumt. In West-und Mitteleuropa und vor allem Osteuropa wurde damals darauf sehr unterschiedlich reagiert. Inzwischen gilt das nicht mehr. Insgesamt wurde die Flüchtlingskrise meiner Meinung in den fünf Jahren nach Erscheinen des Essays akzeptabel bewältigt. Auch andere Aussagen sind überholt. Bulgarien, Griechenland und Slowenien würde heute im Fall einer größeren Sicherheitskrise sicher eher im Westen als bei Russland Beistand suchen (Seite 12).

Der Autor hat viel, sehr viel Material verarbeitet. Oft beginnen die Sätze in etwa so: Wie x oder y in seinem Buch x ausgeführt hat…“. Referate. Manchmal verzettelt sich der Autor. Zum Beispiel bei der Schilderung des Flugzeugabsturzes von Smolensk vom 10. April 2010. So verliert man den Faden. Man lernt aber auch manch Neues. Zum Beispiel was einen Meritokraten auszeichnet. Auch José Saramagos Roman„Eine Zeit ohne Tod“ war mir nicht bekannt. Wäre vielleicht mal ein Buch fürs Seniorenquartett?

Der Vergleich der Mauer in Berlin mit den inzwischen in USA und Mitteleuropa gebauten Zäunen scheint mir problematisch. Der „Antifaschistische Schutzwall“ sollte ja nicht die Westdeutschen daran hindern, das Gebiet der DDR zu betreten. Er war für die Bewohner des eigenen Landes gedacht und forderte vermutlich mehr Menschenleben als die neuen Zäune.

Insgesamt ist das Buch eine gute und hilfreiche Zusammenschau einer hochkomplexen Thematik. Wird es zum Zerfall der Europäischen Union kommen? Ich hoffe nicht, nicht nur weil Deutschland von der Integration profitiert. Ich vermute, dass die Europäische Union nicht zerfallen wird, solange Zahlungen in Milliardenhöhe nach Osten fließen.

Die Frage, ob und warum die Demokratien sich in einer Systemkrise befinden, beunruhigt mich stärker. Die Wohlstandszuwächse fallen in autokratischen Ländern höher aus als in Demokratien, zum Beispiel in China. 2021 lebt 45,7 Prozent der Weltbevölkerung in demokratischen Staaten. Ein Jahr zuvor waren es noch 49,4 Prozent. Wird sich der Abwärtstrend der Demokratien fortsetzen? Note: 2– (ax)<<

 

 

<< Krastevs Analyse über den Zustand Europas ist 2017 erschienen, also vor dem Einmarsch der Russen in die Ukraine. Ist sie von der Geschichte überholt worden und vielleicht sogar obsolet? Im Gegenteil!  Zwar sind die Europäer durch den Krieg in der Ukraine zusammengerückt, aber die Bruchlinien, die Krastev beschreibt und die seit der sog. Flüchtlingskrise 2015 offen zu Tage traten, sind immer noch vorhanden. Es ist ein Verdienst Krastevs, dass darauf aufmerksam zu machen, dass die osteuropäischen Mitglieder der EU in vielen Feldern eine ganz andere Sichtweise wie die klassischen westeuropäischen Gründungmitglieder der EU haben. Gerade dies zeigt sich nun auch im Ukraine Krieg, in der Staaten wie Polen oder die Balten viel offensiver agieren.
Die Renationalisierung der EU, die mit der Flüchtlingskrise begann, hat Krastev zufolge zu einer neuen OST-WEST Spaltung der EU geführt.  Diese Spaltung ist durch den Ukraine Krieg nicht etwa aufgehoben, sondern offensichtlicher geworden. Der kosmopolitische Kern der EU ist im Westen der EU akzeptiert, im Osten nicht. Osteuropa war in der Vergangenheit multiethnisch, sie wollen nicht dahin zurück. Polen baut einen Zaun zu Belarus. In Ungarn ist die Regierung immer noch ganz anders unterwegs als sich dies die Zentraleuropäer vorstellen, in Italien steht eine Regierung mit Neofaschisten vor der Türe, in Frankreich siegt Macron nur knapp und EU feindliche Kräfte von links und rechts  waren kurz vor einem Sieg.  Die Gefahr für Europa ist nicht vorbei. Die Dämmerung hält an.   Note: 2 (ün) >>