Mein kleines Prachttier – Marieke Lucas Rijneveld

Suhrkamp 2021|  364Seiten.

>>An diesem Werk werden sich die Geister scheiden! Darf man den Missbrauch eines 49-jährigen Tierarztes an einem 14- jährigen  Mädchen komplett aus der Sicht des Täters erzählen? Ja, man darf. Wenn man es so brillant macht wie Marieke Lucas Rijenveld.  Die Kraft und Macht der Literatur wird selten so eindrucksvoll deutlich, wie in diesem atemlosen Monolog über 364 Seiten. Wir können in den Kopf und die Seele eines Täters blicken, der sich seiner Schuld bewusst ist und doch nicht von seiner Obsession loskommt. Angesiedelt im ultra- religiösen Bibelgürtel der Niederland schwingt auch immer das beklemmende Milieu mit, in dem beide, Täter und Opfer aufgewachsen sind. Die Leute halten sich mit Bibelzitaten aufrecht und schauen ansonsten weg. Das androgyne Mädchen träumt davon, ein Junge zu sein, einen Penis zu haben. Ihr Halt sind Rockmusiker wie Kurt Cobain und deren Texte. Insofern gibt es eine austarierte Entsprechung zu den Bibelstellen und Psalmen.  Wir müssen uns das Mädchen auch als eine Border-Linerin vorstellen, deren Phantasiewelt grenzenlos ist.
Seine berufliche Sprache benutzt der Tierarztes immer wieder in stimmigen Metaphern um seine Liebe, seine Obsession und auch seine Leiden zu beschreiben. Die Welt des Mädchens erfahren wir allerdings, wie eigentlich alles in dem Roman, ausschließlich aus der Perspektive des Mannes. Eine echte literarische Erfahrung. Note:  1 (ün) <<

>> Der Roman beginnt mit dem Satz: „Mein Augenstern: ich sag es dir besser gleich:“ „Ich“ ist ein Veterinär in fortgeschrittenem Schwabenalter, „Augenstern“ eine Vierzehnjährige. Kind oder Jugendliche? Mein lieber Leser*, ich sag es dir besser gleich: ich möchte dir vom Lesen des Buches eher abraten. Du wirst zwar manch Neues erfahren über die Penislänge von Blauwal und Elefant, aber interessiert es dich? Oder über Hitler und Mussolini, dass sie „berühmte Nasenwühler“ waren und Rotz die „köstlichste Leckerei“ sei (Seite 223). Hitler und sein Geburtstag geistern durch das Buch, wohl weil die Jungmaid und der Führer geburtstagsidentisch sind. Darf man das Buch „den Hasen geben“, wie ein guter Freund zu sagen pflegt, wenn er etwas entschieden ablehnt? Eher nicht, sie würden vielleicht erschrecken, da wird doch mal ein Karnickelpenis erwähnt.

Sommer 2005. Die mehr als grenzwertige und übergriffige erotische Beziehung zwischen dem verheirateten Viehdoktor und der namenlosen Vierzehnjährigen, die mit Vater und Bruder auf dem elterlichen Hof lebt, wird von der niederländischen Erfolgsautorin in 42 Kapiteln erzählt, von Punkt und Komma weitgehend befreit. Will sie Mannschen Stil imitieren? Das Mädchen lebt in einer intensiven und komplexen Phantasiewelt, die perplex macht. Sie möchte wie ein Junge im Stehen pinkeln. Ich habe mir mühsam das Stehpinkeln abtrainiert. Vermutlich soll der Roman hier die viel diskutierte Trans-Problematik anschneiden. Der Tierarzt selbst war als Jugendlicher Opfer mütterlicher Übergriffe. So hat jeder sein Päckchen plus Folgen zu tragen.

Mehrere Zettelkästen werden versenkt. Viele viele Fetzen aus meist banalen englischen Popsongs, von den Bee Gees, Lou Reed, Leonhard Cohen bis zu den Stones. Erleichtern sie die Kommunikation zwischen den beiden Protagonisten? Sonst wären sie funktionslos, blattfüllend halt, überflüssig. Auch Psalmen und Bibelstellen fehlen nicht. Das Hohe Lied Salomons passt gut. Horaz-Zitate belegen, dass die Autorin höhere Bildung genossen hat.
Ein schöner Regieeinfall: Der Sohn wird, ohne es zu ahnen, zum Konkurrenten seines Vaters, den die Eifersucht zu Schweißausbrüchen treibt. „Du warst das Feuer meiner Lenden“ liest man mehrmals. Ist das nicht Kitsch? Oder die bemühte Geweihmetaphorik. Gehörnt? Das Quartett um Denis Scheck bejubelte das Buch im Südwestrundfunk. Ich habe beim Lesen eher gelitten und war erleichtert, als ich endlich auf Seite 364 angekommen war. Vielleicht ist der Roman im Lauf einer Schreibtherapie entstanden, als Versuch, verschiedene Obsessionen loszuwerden. Dann hätte er einen Sinn. Michel Butor verwendete in „La modification“ (1957), einem  Schlüsselwerk des Nouveau Roman, ein identisches Erzählverfahren. Nur mit „vous“ statt „Du“ (Erster Satz: „Vous avez mis le pied gauche…“.) Das kleine Prachttier, nouveau roman plus.

Note: 5+ ( ax) <<

 

>> 364 Seiten Neuland- Literatur, die verstört und Dimensionen von Abgründen aufzeigt. Es ist die kleine Welt um den niederländischen Bauernhof von De Hulst, Schauplatz eines Tabubruchs, einer obsessiven Liebe eines 49jährigen Tierarztes zu einem 14jährigen Mädchen. Was in jenem Sommer 2005 geschah und warum es geschah, wir erfahren es ausschließlich aus den Erinnerungen des Täters und dessen Erinnerungen haben eigentlich nur einen Adressaten: das Opfer „für dich“  Ich als Leser folge seinem Erklärungsversuch nicht ohne Irritation, einem Kaleidoskop von Realität und Alptraum, einem sezierenden Psychogramm (frühe Traumata), einer Selbstanalyse („Handlanger des Wahnsinns“),  anteilnehmend und erschütternd zugleich: Das Urteil der Magistrate: nicht meines-. Auch sprachlich beeindruckend.

Note :1 (ai)<<

 

>>  Wir lesen einen 364 Seiten-Monolog mit nur gelegentlichen Punkten, gefühlt ein endloser Satz. Er entpuppt sich augenblicklich als atemlose Liebeserklärung in Gestalt eines literarischen Tagebuchs, geschrieben in der Gefängniszelle. Straftatbestand: Sittendelikt. 49-jähriger Tierarzt nötigt sexuell 14-jährige Landwirtstochter. Obwohl Rahmenfakten und Schuld offensichtlich scheinen, bemerkt der Leser schleichend, dass die klassische Missbrauchsanklage schwer fällt. Rijneveld gelingt diese Überraschung durch einen Perspektivwechsel, indem nicht das Opfer, sondern nur der Täter zu Wort kommt. Da es zu diesem Zeitpunkt nicht (mehr) um Wahrheitsfindung und Objektivität geht, spielt es auch keine Rolle, ob der Ich-Erzähler Momente verklärt oder verfälscht. Entscheidend ist der Tenor hinter all dem Gesagten. Dieser Tenor ist Ausdruck einer aufrichtigen Liebe, einer tiefen Zuneigung, die nicht auswechselbar ist. Hintergründig stellt sich sogar die Frage, wie diese Reinheit befreit werden könnte von der auch dieser ungleichen Beziehung innewohnenden Gewalt. Der Ich-Erzähler stellt diese Frage nicht, sondern schließt mit der Sicht, dass er diesen wunderschönen Schmetterling nicht hätte berühren dürfen, um seine Flügel nicht zu verletzen. Dann hätten sie mehr von dem Glück sanfter Zweisamkeit bewahren können.

Wir bewegen uns irgendwo durch die holländischen Niederungen, wo der geschätzte Tierarzt die Tiere der Massentierzüchter täglich in ihrem Geschäft medizinisch betreut. Die heranwachsende Tochter eines Kunden wird er später einmal mein kleines Prachttier titulieren und meint damit meine himmlisch Auserkorene. Mit der zunehmenden Reife wächst auch ihre erotische Ausstrahlung. In Anspielung an die kunsthistorischen Pädophilieverherrlichungen nennt er sie fortan mein Putto entsprechend den pausbäckigen, nackten Engelchen, die zweideutig Kirchengewölbe zieren.

Putto sei in einem Zwischenzustand. Intellektuell und hormonell sei sie der Zeit voraus und dennoch drängle sich noch eine Herde von Kuscheltieren in ihrem Bett. Im Schwimmbad knutsche sie mit den Boys, zuhause lege sie sich mit seinem Sohn ins Bett: Küsse, Fummeln, geniertes Reiben. Ein Leben erklärt in Popsongzitaten. Dazwischen sehnsüchtige Bibelzitate und eine merkwürdige Literaturtiefenkenntnis. Ihr Sein weiche von der Norm ab, stehe sie doch im steten Dialog mit S. Freud und A. Hitler (Sexualität und Machtgewalt). Dass sie nicht stabil geerdet sei, spiegele sich auch in den uneinheitlichen Transformationen wider, die sie häufig zitiere. Mal Frosch wie einer der ersten Kuschelboys; mal Otter, das Tier mit dem eindrucksvollen Penisknochen; mal Vogel oder Flugzeug. Gerade die Flugzeugsymbolik trägt etwas Pathologisches. Gelegentlich stünde sie unter der Dusche, um erschüttert von der eigenen Gewalttätigkeit Blut und Trümmerreste von ihren Flügeln abzuwaschen, nachdem sie in den zweiten Turm des World Trade Centers geflogen sei. Eine empfundene Schuld, die sie immer wieder einhole. Metamorphosen durchlebe sie auch bezüglich ihrer eigenen Geschlechtlichkeit, neige sie doch (wie Rijneveld selbst) dazu, sich non-binär zu empfinden. Will Frau werden und auch Mann sein. Die Suche nach Identität. Einen kleinen Jungen habe sie gedrängt, sich den Penis abzuschneiden, um sich diesen mit UHU später selbst anzukleben. Nur wegen der stumpfen Schere sei der Versuch gescheitert. Selbst das männliche Pinkeln im Stehen wäre ihr zur Wunschvorstellung geworden. Später habe sie einmal den Urinstrahl des Ich-Erzählers lustvoll dirigiert.

Diese Daseins-und Sinnsuche kulminiere wiederholt in einer Todessehnsucht. Sie lege sich in einem Jutesack auf die Fahrbahn, sei vom Futtersilo gesprungen, schlitze sich mit dem Skalpell den Schenkel auf oder dränge den Tierarzt sie zu sezieren. Vielleicht Fortführungen tragischer Verlusttraumata der frühen Kindheit, als ihr zweiter Bruder überfahren worden wäre und in der Folge ihre Mutter in aller Verzweiflung die Familie verlassen hätte ohne je zurückzukehren. Neben seiner grenzenlosen Liebe sähe der Ich-Erzähler sich berufen, dem beängstigend herumirrenden Geschöpf Halt und Richtung zu geben.

Er versuche geradezu süchtig in ihr Leben zu kriechen, ihre Luft zu atmen, sich ihre Weltsichten anzueignen. Beglückt ließe er sich fortan Kurt nach dem verstorbenen Sänger Kurt Cobain nennen. Kurt & Putto. Einen Sommer lang habe die Annäherung gebraucht, in kleinen Schritten, in vielen Gesprächen, erst die Hand auf ihrem Schenkel im Kino, sein ärztlicher Trost unter der Decke im Krankenlager in ihrem Kinderzimmer, Fahrradtouren, Streichelabende auf der Matratze in seinem Fiat, dann der gemeinsam geplante Geschlechtsakt, sein brutaler Fellatiozwang als sie fast bewusstlos im Krankenhaus gelegen sei, die Vergewaltigung als sie sich von ihm trennen wollte. Diese Taten seien Verbrechen – im Kontext des Buches machen sie jedoch nur eine Oberschwingung im vielschichtigen Klanggebilde aus. Trotz des Wissens um die Schuld würde er im Zuchthaus vor Sehnsucht schreien. Ein verhaltener Erklärungsversuch unternimmt er mit dem Verweis, dass er nach sexuellen Übergriffen seiner verhassten Mutter, nie erwachsen werden wollte und noch heute die quasi gleichaltrige Jugend suche.

Bezeichnend die lange Zeit zurückhaltender Reaktionen von Nachbarschaft, Kirche und Justiz. Selbst die entsetzte Ehefrau vermied die öffentliche Anklage. Verdrängung aus Angst vor Gesichtsverlust oder Toleranz oder Gleichgültigkeit der Institutionen? Die Verurteilung zu zwei Jahren Haft erfolgte erst Jahre später, nachdem Putto schon als Sängerin international gefeiert wurde. Für den Ich-Erzähler sei das Eingesperrtsein die letzte Möglichkeit, dieses verzweifelte, poetische Manifest seiner ewigen Verbundenheit zu verfassen.

Es fällt schwer in der erstickenden Monotonie der Thematik, dem anhaltenden Sperrfeuer assoziativer Ablenkungen und der erschöpfenden Endlosigkeit des formalen Aufbaus, die Poesie der Autorin zu würdigen. Aber ja, es gibt sie in großer Zahl – die feinfühligen Metaphern, die leisen und lauten Seitenblicke in versteckte Lebensnischen, die anrührenden Momente einer Dichtung. Schade nur, dass sie von der Flut literarischer Innovation überflutet werden als ob die Niederlande zwingend unter dem Meeresspiegel liegen müssten.  Note: 4  (ur) <<