Das Land der Anderen – Leila Slimani

Luchterhand 2021 – 379 S.

>>Das „Land der Anderen“ ist der erste Band einer als Trilogie konzipierten „Familiensaga“.
Die Protagonistin Mathilde verlässt 1946 ihr elsässisches Dorf um ihrem Mann Amine  nach Meknès zu folgen. Amine hatte bei den Saphir-Truppen gekämpft und Karriere gemacht. Mathilde ist eine überdurchschnittlich sinnliche Frau. Ihre präzise geschilderten sexuellen Wünsche bergen das Risiko einer Überforderung männlichen Potenzvermögens.

Voll verliebt zerbricht sie sich nicht  den Kopf, was sie in Marokko erwarten könnte. Als sie das Hofgut erblickt „erstarrt sie zu Eis“. Oft wird sie den Satz „So ist das hier“ hören müssen.

Ein hartes Leben auf dem Land, auch wenn sie von ihrer Schwiegermutter respektvoll und freundlich behandelt wird. Ihrer Schwester schreibt sie Briefe, in denen sie die Realität beschönigt. Gelegentlich schämt sich Amine für seine Frau. Konflikte zwischen den Ehepartnern werden unvermeidlich. Nach und nach ist Amine nicht mehr derselbe, den sie im Krieg kennengelernt hatte. Nach dem Tode ihres Vaters kehrt sie nochmals in die Heimat zurück. Der viel freiere „lifestyle“ gefällt ihr. Und spielt sie mit dem Gedanken, nicht mehr nach Marokko zurückzukehren, obwohl dort Mann und Kinder warten.
Das Buch ist relativ leicht lesbar, da chronologisch geschrieben und in viele Einzelstories, manchmal auch Schmankerl, unterteilt. Das skurrilste dürfte die Weihwasserverdünnung mit weiblichem Urin sein. Hinzu kommt der erfreulich flüssige Erzählstil. Das Private wird auf dem Hintergrund der politischen Entwicklung geschildert. Diese spitzt sich wegen der Unabhängigkeitsbestrebungen zusehends zu. Der Rassismus der Siedler und der Fanatismus der Unabhängigkeitskämpfer verstärken sich gegenseitig. Offen bleibt, warum so viele Gebete schräg gedruckt im Original zitiert werden. Es soll doch sicherlich niemand bekehrt werden.
Ein „Zitrangenbaum“, (Zitrone/Orange), dessen Früchte ungenießbar sind, wird immer wieder erwähnt. Und Amine denkt, „dass in der Welt der Menschen dasselbe galt wie in der Welt der Botanik. Am Ende würde eine Art dominieren, die Orange würde eines Tages die Zitrone verdrängen oder umgekehrt, und der Baum würde wieder essbare Früchte tragen.“ Meint das Frau Slimani auch? Wäre das nicht zu schlicht gedacht?

Eine der beiden Widmungen, mit denen das Buch beginnt,  regt zu Spekulationen an: “Die Verdammnis dieses Wortes: Rassenmischung, schreiben wir sie riesengroß auf die Seite.“ (Edouard Glissant, L‘intention poétique). Warum verdammt, dürfen Rassen sich nicht mischen? Hätte ein VHS-Kurs „Interkulturelles Lernen“ Mathilde vor Enttäuschungen bewahren können? Kritiker spekulieren, dass Leïla Slimani das Drehbuch für einen TV-Dreiteiler im Kopf hatte. Der Wunsch nach Fortsetzung wird auf den letzten Seiten des Buches geschickt geweckt.
Wie geht es weiter? Wird die Familie überleben?  Note: 2  (ax) <<

>>1944 lernt die 18jährige Mathilde aus einem elsässischen Dorf den 27jährigen in der französischen Armee dienenden Offizier Amine aus Marokko kennen, heiratet ein Jahr später, verlässt im März 1946 Europa um auf dem von Amines verstorbenem Vater ererbten Hof ein neues Leben zu beginnen. Wenig verwunderlich, dass diese Begegnung zweier Kulturen nicht konfliktfrei verläuft, werden doch schon mit Amines Entscheidung vorübergehend im Haus der Mutter in Meknes zu wohnen, die Rahmenbedingungen dieser Beziehung für Mathilde abgesteckt. „So ist das hier“ bestimmt Amine und die Erzählerin fährt fort: „Diesen Satz würde sie noch oft hören. Und genau in dem Moment begriff sie, dass sie eine Fremde war, eine Frau, eine Ehefrau , ein Mensch, der der Gnade des anderen ausgeliefert war. Amine war jetzt auf seinem Territorium, er war es, der die Regeln erklärte, der sagte, wo es langging, der die Grenzen des Anstands, der Scham und der guten Sitten zog“ (12) . Lassen wir einmal die Kategorie „begreifen“ zu diesem Zeitpunkt außer Acht, so erweisen sich die Jahre bis zum flammenden Inferno am Ende des Romans für Mathilde doch als ein aufopferungsvoller Kampf um einen Rest Eigenständigkeit, der sich als umso schwieriger darstellt, als Mathilde als Französin mit einem marokkanischen Mann auch im französischen Milieu der Kolonialisten Fremdheit und Alltagsrassismus erlebt. Auch für Amine ist die Rückkehr in seine Heimat nicht frei von Erfahrungen der Fremdheit (Misstrauen franz. Nachbarsiedler, Demütigungen durch koloniale Elite, Omars Vorwurf des Vaterlands u. Religionsverrats). Zudem durchdringt der wachsende Nationalismus immer wieder auch die Sphäre des Privaten, nicht nur in der Figur Omars.  Die Stärke des Romans sind bei aller Voraussehbarkeit des cultural clash die Zwischentöne. Da ist nicht alles Martyrium. Da gibt es die liebevolle Zuwendung der Mutter Mousala, da gibt es  Mutterglück mit Aicha und Selim, da gibt es auch einmal den Weihnachtsbaum und sogar Amine als Nikolaus, da gibt es Anerkennung für Amines erfolgreiche Arbeit, da gibt es die kleinen Fluchten in die Avenues der Ville Nouvelle, da gibt es die fast verschwörerischen Begegnungen mit Amines 16jähriger Schwester Selma, da verwirklicht Mathilde unterstützet von dem ungarischen Arzt Dragon Palosi ihren Plan der ländlichen Bevölkerung medizinisch zu helfen. Aber letztendlich überwiegt in Mathilde doch das Gefühl, „in einer Welt zu leben, wo sie nicht hingehörte“, ein Bekenntnis gegenüber der Schwester Irene, die sie nach dem Tod ihres Vaters im Elsass besucht, ein Schlüsselepisode, die die innere Zerrissenheit Mathildes psychologisch feinfühlig beschreibt.  Dass es bei Momentaufnahmen alternativer Lebensentwürfe bleibt, ist vielleicht nicht zuletzt der Empathielosigkeit der Schwester zu verdanken. Die Rückkehr ins Amines Haus ist mehr als der endgültige Abschied von der eigenen Kindheit im Elsass .Etwas zu pathetisch beschreibt die Autorin Mathilde in den Armen der 7jägrigen Aicha: „Ihre Mutter war ein Soldat, der von der Front heimkehrte, ein siegreicher, ein verwunderter Soldat, der unter seinen Medaillen Geheimnisse verbarg“. Der martialischen Metaphorik entkleidet, offenbart dies die Seelenlage Mathildes, der bewusst ist, dass sie für die Kinder „alles aufgegeben hatte. Glück, Leidenschaft, Freiheit“. Das rigide Korsett gesellschaftliche Zwänge bestimmt auch das Schicksal der zweiten zentralen Frauenfigur Selma, der erst 16jährigen Schwester Amines. Früh rebellisch, von „irritierender Schönheit“, der zehn Jahre ältere Bruder Omar weiß wie ihr Hang zur Auflehnung zu zügeln wäre „Besser, man prügelte sie vorbeugend, sperrte sie ein, ehe sie eine Dummheit beging und es zu spät ist.“ Omar belässt es nicht bei Drohungen.  Die Abwesenheit der Brüder nutzt Selma zur Befreiung und findet anfangs in Mathilde eine Komplizin. Nicht die Gassen der Medina, die Avenues der Ville Nouvelle und ihre Verlockungen wecken Selmas Interesse. Und sie entdeckt, die gutgemeinten Ratschläge Mademoiselles Fabre missachtend, die „Versuchungen unter unseren Schleiern und Röcken“ und in der Gestalt eines jungen französischen Piloten nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Ein harmloses Schaufensterfoto des Pärchens, von Amine zufällig entdeckt, führt zum dramatischen Höhepunkt. Die Schwester entehrt, die Schande öffentlich gemacht, der junge Mann noch gar ein Franzose, dazu die eigene Frau als Mitwisserin, das verlangt in dieser „Un“kultur nach Rache. Blind vor Wut schlägt Amine Mathilde, richtet die Pistole auf die ganze Familie „Ich werde euch alle töten“ und nur der hilflose Ruf „Papa“ des kleinen Selim erinnert die männliche Bestie an einen Rest Menschlichkeit. Während auf den Straßen Marokkos der Kampf um Unabhängigkeit und Freiheit beginnt, herrscht im Haus der Familien vielfach Finsternis. Für die erst 8jährige Aicha ist der Anblick der blutenden Mutter und Selmas wenig überraschend. Sie „kannte diese Frauen mit den blauen Gesichtern. Sie hatte sie oft gesehen, die Mütter mit den halb zugeschwollenen Augen, den violetten Wangen, die Mütter mit aufgeplatzten Lippen. Damals dachte sie sogar, dafür hätte man Schminke erfunden. Um die Schläge der Männer zu verbergen.“ Die Antwort Mathildes auf diese Erniedrigung ist eine Demütigung Amines auf ganz anderer, sicherlich psychoanalytisch zu deutender Ebene. Mit fast animalischer Begierde (wir erinnern uns an Mathildes Lust und Leidenschaft am Romananfang!), Kategorien wie Scham und Sitte missachtend, gewinnt sie für einen Augenblick Herrschaft über das, was Amine mit der Rückkehr nach Marokko als Maxime vorgab: „Amine war jetzt auf seinem Territorium, er war es, der die Regeln erklärte, der sagte, wo es langging, der die Grenzen des Anstands, der Scham und der guten Sitten zog“. Dem Ausbruch folgt, die Realitäten einer rückwärtsgewandten patriarchalischen Gesellschaft anerkennend, die Unterwerfung. Aus Mathilde macht der islamische Rechtsgelehrte in einer an Lächerlichkeit grenzenden Zeremonie „Mariam“. Dass Selmas Vergehen zeitgleich mit der Zwangsverheiratung von Amines homosexuellem Waffenbruder Mourad bestraft wird, stellt nach Außen zwar die Ordnung wieder her, ist aber letztendlich eine Doppelbestrafung. Was folgt, bleibt für den Leser irritierend. Mathilde spricht Selma gegenüber von „innerer Freiheit“, davon, „dass man lernen müsse, sich drein zu schicken“. Das ist zwar Selbstaufgabe, aber Einsicht in die Notwendigkeit eines Systems, das noch einen längeren Weg zur Aufklärung hat. Zum Romanschluss weitet sich das Private nochmals in Politische. Die Unabhängigkeit Marokkos, die Vertreibung der Kolonialisten ist nicht mehr aufzuhalten. Vom eigenen Haus aus verfolgt Amines Familie den Feuerball, der die Ländereien der französischen Siedler zerstört. Dass gerade die 8jährgie Aicha, die entgegen Amines Botanikgesetz vom „Zitrangenbaum“, ja die Frucht zweier Kulturen ist, das Inferno und damit die Vertreibung der einen Kultur mit dem wenig kindlichen Schlachtruf „Sollen sie doch brennen….sollen sie verschwinden. Sollen sie krepieren“ begleitet, bleibt das Geheimnis der Autorin, das selbst in dem angekündigten Folgeband der Familiensage schwerlich zu lüften sein dürfte.  Note: 2 ( ai) <<

 

>> Das Land der Anderen ist nicht nur ein geographischer Ort. Tatsächlich sind es Territorien verschiedener Modalitäten. Seelische Zustände, Kulturräume, Wertesysteme, politische Überzeugungen, Ethnien, Nationen und Nationalitäten, Hautfarben. Slimani gruppiert diese Daseinsflächen um ihre Protagonistin Mathilde. Mathilde: zunächst in wilder Aufbruchstimmung beginnend in den letzten Kriegstagen im Elsass, dann der Liebe folgend nach Marokko auswandernd, zweifelnd. Zurückkehren wollen und dann doch nicht können. Begleitet von Auseinandersetzungen akzeptiert sie schließlich die bleibenden Widersprüche und findet dadurch ihre Bestimmung. Doch es geht nicht nur um ihr Irren in fremden Gefilden. In ihrem Umfeld suchen, straucheln und verzweifeln ebenso ihr marokkanischer Ehemann, ihre Kinder, Verwandte, Bekannte und werden zu Tätern und Opfern zwischen den Welten.

Die zwanzigjährige Mathilde aus der französischen Provinz sehnt sich nach Liebe. Die Kriegsängste lernt sie mit sexueller Obsession zu besänftigen. Dann ziehen Soldaten durch das Dorf. Unter ihnen der schöne Amine aus Marokko. Er gewinnt sofort ihr Herz und das Versprechen, ihm nach Marokko zu folgen. Der Muslim heiratet die Christin. Mathilde träumt von Freiheit, vom Ausbrechen aus den heimatlichen Kerkern, von den Farben Afrikas. Doch schon bei der Ankunft in Rabat 1947, erscheint Amine wie verwandelt, die Welt wirkt fremd, die Regeln abweisend. Nach Monaten der Notunterkunft bei der Schwiegermutter, ziehen sie in die dürre Einöde, wo Amine ein Stück Land vom Vater geerbt hat. Die Wohnbedingungen sind primitiv, das Dasein einsam und niederdrückend. Mit unbändigem Eifer versucht Amine dem verwaisten Stück Erde Erträge abzuringen. Der Ackerbau scheitert an der dünnen Krume, die wenigen Rinder werden ihm gestohlen. Erst mit Hilfe eines emigrierten ungarischen Arztes gelingt ihm nach vielen Jahren der Anbau von Datteln und Orangen. Doch dann droht der Bürgerkrieg.

Währenddessen werden Tochter Aïscha und Sohn Selim geboren. Die verschlossene Aïscha erweist sich als hochbegabt, überspringt Klassen und wird von älteren Klassenkameradinnen gemobbt, worauf auch die Nonnen des Tagesinternats kaum Einfluss haben. Mathilde besteht auf dem kostspieligen Bildungsweg, während Amine die Entscheidung immer wieder in Zweifel zieht. Als Vater tritt er ebenso wenig in Erscheinung wie als liebender Ehegatte, ist er doch ganz der Entwicklung seiner Landwirtschaft verpflichtet. Von Kindern und Ehegattin fordert er stattdessen Härte, Gehorsam, Unterordnung und Leidensbereitschaft. Mathilde verzweifelt, droht an der Einsamkeit und der strengen Bindung an Hof und Herd zu zerbrechen. Trotz des Unmuts ihres Gatten richtet sie schließlich eine – wenn auch ärmliche – medizinische Beratung ein, die von der kranken Landbevölkerung dankend angenommen wird und ihr eine Sinnbestimmung in der ewigen Wiederkehr häuslicher Routinen gibt.

Als ihr Vater stirbt, bricht sie allein nach Frankreich auf. Die Entfremdung vom nordafrikanischen Eheleben lassen den Entschluss reifen, die Familie zu verraten und nicht nach Marokko zurückzukehren. Als sie jedoch im Moment größter Zweifel sich ihrer Schwester Irène offenbart, lebt der alte Hass der Schwestern erneut auf. Irène zeigt nicht das geringste Interesse, auf die Schwester einzugehen. Über Jahre hatte auch Mathilde in Briefen Irène belogen und von den paradiesischen Zuständen im Ausland fabuliert, um ihren Neid zu entfachen. Mathilde akzeptiert schließlich, dass sie ihrem gewählten Lebensweg ausgeliefert ist. Mit dem festen Willen, die Schicksalsumstände anzunehmen, kehrt sie gefasst nach Marokko zurück. Angekommen, nimmt sie zusätzlich zu ihren kräftezehrenden Aufgaben auch Amines senile Mutter Mouilala auf. Sie war standesgemäß als muslimische Ehefrau stets eingesperrt. Ihre einzige Begegnung mit dem städtischen Leben waren gelegentlich verbotene Blicke durch die Ritzen der verschlossenen Fensterläden.

Währenddessen spitzt sich die nationale Kolonialfrage zu. Bewaffnete Aufstände fordern zunehmend die französischen Besatzer heraus. Brandschatzungen, Hinterhalte, Terrorakte und brutale Vergeltung prägen den Alltag. Amines Bruder Omar, der sich dem bewaffneten Untergrund angeschlossen hat, verurteilt Amine als verräterischen Kollaborateur der Franzosen, hat dieser doch im zweiten Weltkrieg mit Auszeichnung in der französischen Armee gegen Nazideutschland gedient, das drauf und dran war, das koloniale Frankreich niederzustrecken. Omar prophezeit, dass die Nationalbewegung auch Amine abstrafen wird.

Währenddessen mausert sich Amines deutlich jüngere Schwester Selma zur begehrenswerten Persönlichkeit. Prompt von einem französischen Piloten schwanger geworden, droht Amine mit Mord nicht nur an Selma, sondern auch an Mathilde, die er als Kupplerin verdächtigt. Nach zweitägigem Rückzug in die Wildnis, kommt er zu einem milderen Urteil: Mathilde wird gezwungen, die französischen Wurzeln endgültig zu kappen und zum Islam zu konvertieren. Selma wird mit dem kriegsgeschädigten, gewalttätigen Mourad zwangsverheiratet. Mourad war Weggefährte von Amine, dem er in homosexuellem Verlangen bis auf dessen Hof gefolgt war. Bemerkenswerterweise bewahrt diese an sich verurteilte, sexuelle Andersartigkeit Selma vor Übergriffen durch Mourad.

Slimani rückt das Schicksal der europäischen Mathilde in der nordafrikanischen Fremde in den Vordergrund. Erwartungsgemäß kollidieren auf dieser Lebensbühne Kultur-, Moral- und Religionswidersprüche. Verbunden damit werden auch Wunden geschlagen, die das unterschiedliche Rollenverständnis in Ehe und Familie bluten lassen. Das Bühnenbild des Romans ist jedoch vielfältiger. So wie Mathilde unter der unerträglichen Enge ihres marokkanischen Daseins leidet, beklagen beim Heimatbesuch auch ihre ehemaligen Freundinnen, in welcher Eintönigkeit sie in ihren elsässischen Familien leben und kaum das Dorf verlassen können. Weitere Szenen in diesem Schauspiel sind die konkurrierenden Welten der marokkanischen Brüder ebenso wie die der französischen Schwestern, wenn auch mit ganz anderen Inhalten. Nicht verschont von der Zerrissenheit bleibt Amine als zweiter Hauptprotagonist. Er fühlt sich einerseits dem Wertekanon seiner Heimat verpflichtet, andererseits versucht er europäische Fortschrittlichkeit zu leben. Den Franzosen zwar ergeben, wird er von diesen als dunkelhäutiger Afrikaner deklassiert, entsprechend einem lupenreinen Rassismus in kolonialer Tradition. Von den Landsleuten wird er als Handlager der Kolonialherren und Verräter arabischer Sitten verurteilt, der die Ausbruchsversuche seiner Gattin toleriert. Amine ist Vertriebener in allen Lagern: der Nation, der Kultur, der Ehe.
Ein kolonialgeschichtlicher Roman, dessen individuelle Aspekte zeitlos gültige Konflikte problematisieren. Nur schade, dass offensichtlich die Übersetzung von Fehlgriffen durchsetzt ist. Oder muss den Lesern das französische Original verwundern? Sonst bleibt der Roman sprachlich unauffällig. In jedem Falle interessant die Ausgestaltung des Plots.  Note: 2 – (ur) <<