Eine redliche Lüge – Husch Josten

Berlin Verlag  240 Seiten

<<Husch Jostens Roman hätte auch gelingen können. „Dass die Dinge diesen Lauf nehmen würden“  lenkt den Focus der Leserneugier gleich zu Beginn auf einen zu erwartenden „Showdown“.  Allerdings bedarf es eines reichlich aufgeblähten „Panoptikums“ (eine Kategorie der 24jährigen Elise) von abendlichen Salondinners über mehr als 100 Seiten im Hause von Margaux und Philipp Leclerc bevor eine Dame namens Camille de Pape am 26.August 2019 um 2:10 nach einem marokkanischen Picknick den 2.Teil des Doppellebens Philipps (seriöser 62jähriger Geschäftsmann und Vermögensverwalter und Geschäftsführer einer Alibiagentur in Marrakesch) enthüllt. Mit diesem Paukenschlag entwirrt sich zugleich das eigentliche Geheimnis (1.Teil des Doppellebens) , das als roter Faden den Romans durchzieht. Das Romanmanuskript eines 22jährigen Franzosen namens Philipp Leclerc, das 1979 in Paris nach dessen Drogentod in die Hände seines studentischen Mitbewohners Nasire Lakhrif gelangt, ist der Ausgangspunkt, der eigentlich Stoff für eine spannende auch gesellschaftskritische Auseinandersetzung bietet. „Der deutsche Franzose“ ist eine merkwürdige Verklärung des Studentenführers Doron Mayer-Dos. Mich irritiert diese Grundkonstruktion von Husch Josten : Ein 22jähriger schreibt 1979 einen Roman über eine Lichtgestalt aus der 68er Bewegung (Daniel Cohn-Bendit als Vorlage), der 2019 zur Hollywood Verfilmung ansteht und der unserer im Jahr 2019  24jährigen Erzählerin wie „eine Offenbarung“ vorkommt. Jetzt muss nur noch Nasire die Lichtgestalt Doron treffen und vom Fleck weg dessen Nichte Margaux heiraten und das Setting stimmt. So schlicht auch das Arrangement, die Geschichte bekommt nun Tiefgang, weil mit der maghrebinisch-französischen Herkunft Nasires das Identitätsproblem gerade in Frankreich zum zentralen Thema wird. Hier wird Doron zum Akteur der Geschichte, indem er den Identitätswechsel von Nasire Lakhrif zu Philipp Leclerc realisiert. Mit der Heirat Philipps und Margeauxs wird auch das Geheimnis der „redlichen Lüge“ nachvollziehbar. Etwas zu pathetisch allerdings wird mit der falschen Autorenschaft des „deutschen Franzosen“ dem realen Autor „eine große Ehre erwiesen“ und Nasires „Schuld abgetragen“ und obendrein mit den Romaneinnahmen der „Drogenhilfe“ gedacht. Und als wäre es der Überhöhung nicht schon genug, lässt uns die Erzählerin Elise aus dem Perspektive des Jahres 2051 wissen, dem romantischen Kitsch nicht fern : „Die Ausschließlichkeit, die Philippe und sie ineinander gefunden hatten, verdankten sie ihm. Der chancenlose Träumer (gemeint der 22jährige reale Philippe) hatte ihnen von solcher Liebe erzählt.“(228).

Warum Husch Josten die Erzählperspektive ins Jahr 2051 verlegt, in dem die nun 56jährige Erzählerin als Schriftstellerin auf einem einsamen Hausboot im wesentlichen ihren vier monatelangen Aufenthalt bei Margaux und Philipp in der Domain de Tourgéville resümiert (die Adressaten scheinen 3 Literaturstipendiaten zu sein!?), bleibt ein Geheimnis der Autorin. Ist die Faszination gegenüber dem nach außen fast symbiotischen Ehepaares für die 24jährige Studentin Elise,  selbst aus einer schwierigen deutsch-französischen Familie kommend, nachvollziehbar, so bleibt die Idealisierung dieser Beziehung aus der Distanz von 32 Jahren ebenso schwer nachvollziehbar wie der doch recht unvermittelte „Knaller“ eines Internetsuchauftrags nach einem Geschäftsführer in Marrakesch. Die Gendergerechten dürften sich freuen: Es war eine 88jährige Geschäftsführerin. Note: 4 (ai) <<

 

 

>>  Warum laden Menschen andere Menschen ein? Macht es sie glücklich einzuladen oder eingeladen zu werden? Diese Fragen bleiben unbeantwortet, obwohl es in weiten Teilen des Buches darum geht. Die Schriftstellerin Margaux und ihr Mann Philippe Leclerc bewohnen ein luxuriöses Anwesen am Meer bei Deauville. Beide soziale Aufsteiger, nebenberuflich Gastgeber für aufregende Gäste, die viel reden, am und im Pool feiern, von dort über die Seufzerbrücke nach oben in die Sauna gehen oder auch gleich zur kopulativen Tat schreiten. Da fallen die Parties in der Neckarmetropole nicht nur kulinarisch gewaltig ab, zumindest die, zu denen ich eingeladen werde. Philippe immer eher zurückhaltend, wirkt wie ein Privatier mit „haselnusscremiger Stimme“. Wie sich das wohl angehört hat? Aber auch Margaux ist diskreter, duldsamer als die meisten ihrer Gäste. Die 24jährige Deutschfranzösin Elise arbeitet einen Sommer lang als Hausmädchen bei den beiden, voller Bewunderung für das Paar, das sich exzellent versteht. Sie erzählt die Geschichte, 32 Jahre später. Elise, eine sympathische junge Frau. Offenheit zieht sie Festlegungen vor, die sogenannten festen Standpunkte um jeden Preis, wie sie ihre Eltern hatten, schätzt sie nicht. Auch wenn die Ich-Erzählerin um Geduld bittet für ihre detaillierten Schilderungen von Partysmalltalks, manchmal wird es dann doch anstrengend, platt und man möchte weiterblättern.

Zum Glück gibt es auch sehr anregende und kluge Gespräche über Komplementarität von Paaren, Untreue, über Begriffe wie „Lebensabschnittsgefährten“, die Coronazeit in Paris, Populismus, Identität, Rassismus, das Böse für und an sich, oder nicht ganz so überzeugend, über das Ende der NS-Zeit. Margaux‘ geheimnisvoller Erstling „Der deutsche Franzose“, sozusagen das Buch im Buch, soll verfilmt werden. Der deutsche Franzose, der jüngere Bruder von Magaux‘ Mutter Hanna, uns allen wohlbekannt als der „rote Danny“, heißt im Buch Doron Mayer-Dos. Die geplante Verfilmung gelingt nicht, obwohl ein Treff mit wichtigen Akteuren stattfindet. Das Niveau von Dorons Redebeiträgen hebt sich positiv von dem der meisten Partygäste ab. Mir gefallen insbesondere seine Überlegungen über die Notwendigkeit von Gruppen im politischen Streit. Die Spannung wird schlicht, aber effektiv aufrechterhalten. Zum Beispiel mit Sätzen wie „Niemand hätte erwartet, dass die Dinge diesen Verlauf nehmen würden…“. In der Buchmitte wird eine kommende „Tragödie in der Normandie“ erwähnt. Viel Neugier, da kommt noch was, da kommt noch was. Aber vielleicht erwartet man dann einfach zu viel… Am 25. August 1979 platzt eine Bombe. Ein aufregender Tag. In Tübingen feierte zeitgleich Freund Dieter seinen 75. Geburtstag. Das Bömbchen scheint mir etwas konstruiert, artifiziell. Eine Nachbarin entlarvt Philippes berufliches Doppelleben. Ihr Mann war Kunde in dessen Unternehmen „Lügen für alle Fälle des Lebens“. Danach ein Unfall, zwei Tote, Selbstmord?

Die Homepage von Philippes Unternehmen ( Seite 209) , ein literarisches Schmankerl. Die ersten drei Sätze: “Eigene Wünsche erfüllen. Träume verwirklichen. Geheimnisse hüten“. Mehr geht nicht. 32 Jahre später kehrt Elise an den Ort des Geschehens zurück. Vergeblich versucht sie einer Maklerin zu entlocken, was aus Margaux geworden ist. Die Suche im www führt nicht viel weiter. Da hilft nur Fantasie an die Macht. Warten Sie mit dem Kauf des Buches, lieber Leser. Die folgenden drei Besprechungen sehen den Roman wahrscheinlich viel kritischer als ich. Von daher…

Note: 2/3 (ax) >>

 

 

<< Ein Konversationsroman. Dialoge endloser Gesellschaftsabende. Sprecher sind wechselnde Scharen von aufrichtigen Freunden, ehrlichen Angestellten, exzessiven Parasiten und aufgeblasenen Scheinheiligen. Ein Panoptikum menschlicher Existenzen. Die Themen verwirrend vielfältig. Von Literatur über Life Coaching bis Fundamentalliberalismus. Von Träumen über Liebe bis zu Lügen. Vieles was Leben ausmacht und irgendwie identitätsstiftend wirken könnte. Identität, die passiert, die konstruiert wird, die gegeben ist oder vorgetäuscht wird. Und natürlich auch der Weg dorthin: Schicksalswege. Offensichtlich ist „Identität“ der rote Faden des Buches Eine redliche Lüge, das in seiner Mannigfaltigkeit allerdings zerzaust erscheint. Die Dialoge sind durchsetzt von Monologen der Ich-Erzählerin Elise, die ihrerseits Leitplankenbetrachtungen ihres familiären Straßennetzes beiträgt zu Fragen, wie Lebenswege eingeengt sein können und Zielorte verfehlt werden. Gerade diese Erfahrungen machen sie besonders empfänglich für die Offen- und Großherzigkeit, die intellektuelle Tiefe und Weitsicht der Gastgeber der besagten Gesellschaftsabende. Die Gastgeber sind Margaux und Phillipe Leclerc, bei denen sie in der Normandie über vier Monate hinweg als Hausmädchen und stille Beobachterin tätig ist. Zu diesem Zeitpunkt ist Elise 24, wissbegierig, grenzenlos lebensoffen und erfolgreiche Absolventin eines Literaturstudiums. Elise wird sich fragen, warum Margaux und Phillipe Woche für Woche mit größter Sorgfalt die Bühne für den endlosen Reigen bereiten, um diesen Tanz der Eitelkeiten und bizarren Selbstinszenierungen um sich herum zu ermöglichen? Elises Antwort wird 30 Jahre später lauten, dass die Lebensgeschichten anderer auch Referenz und Rechtfertigung für das eigene Leben sind. Vor allem auch für eigene Verfehlungen. Und wenn dieses Sich-Vergewissern so hochfrequent gelebt werden muss, dann dürften die eigenen Verfehlungen erheblich sein. Am Ende des Buches erfährt der Leser, dass dem in der Tat so ist.

Die Schriftstellerin erhebt ein literarisches Schriftstück zum alles in Bewegung setzenden Schicksalsgegenstand. Phillipe wurde als Nasire Lakhrif in Marokko geboren. In den unruhigen 68er Jahren fällt ihm als Student in Paris das literarische Manuskript seines drogenabhängigen, sterbenden Mitkommunarden in die Hände. Der Titel: Der deutsche Franzose. In Anspielung an Daniel Cohn-Bendit steht der französische Studentenführer Doron Mayer-Dos im Mittelpunkt des Werks. Realität und verherrlichende Fiktion des Romans gehen so überzeugend ineinander über, dass Nasire sich um die Mitarbeit bei Doron bemüht. Doron versucht den talentierten jungen Studenten Nasire zu protegieren. Als alle Bewerbungen auf Grund seiner marokkanischen Wurzeln scheitern, beschließen sie, das Gesellschaftssystem vorzuführen und Nasire zu europäisieren. Nasire nimmt den Namen des verstorbenen Mitkommunarden Phillipe Leclerc an, worauf prompt eine atemberaubende Karriere beginnt. Eine redliche Lüge.

Später wird der neue Phillipe die Nichte (Margaux) von Doron heiraten, woraus eine überaus glückliche Ehe zweier zutiefst zugewandter Menschen hervorgeht. Am Ende des Buches platzt die Bombe, als ruchbar wird, dass der so vertrauenswürdig wirkende Phillipe in einem Doppelleben das Prinzip Lüge gewinnbringend kommerzialisiert. In seiner alten Heimat betreibt er eine Verschleierungsfirma, die untreuen Ehegatten Alibis verschafft, Steuerbetrügern gefälschte Finanztransaktionen ermöglicht und Kriminellen neue Identitäten garantiert. Nichts bleibt unmöglich. Als die schockierte Margaux davon erfährt, entzieht sich Phillipe. Der tödliche Autounfall in derselben Nacht ist vielleicht ein Suizid. Nach Nervenzusammenbruch und Psychiatrieaufenthalt flieht Margaux vor dem öffentlichen Shitstorm nach Kanada. Jahrzehnte später wird die Öffentlichkeit erfahren, dass sie Geschäftsführerin der Verschleierungsfirma geworden ist. Eine redliche Lüge um aus Liebe das Werk des toten Gatten fortzuführen? Merkwürdig. Grenzwertig. Schmalzig. Diese wie etliche andere Details des Romans befremden den Leser. Warum muss die Literatin Josten die Protagonistin Elise eine Literatin sein lassen, die ein Buch über die Literatin Margaux schreibt, nachdem sie im ehemaligen Domizil der Leclercs Literaturstipendiaten ihre wiederbelebten Erinnerungen als Einstieg in ihr geplantes Literaturwerk dargelegt hatte? Musste Margaux ausgerechnet mit dem unter ihrem Namen veröffentlichten Plagiat Der deutsche Franzose so berühmt werden, so dass sogar ein Oskarpreisträger in der Verfilmung die Hauptrolle übernimmt? Mussten Salongespräche über gefühlt hunderte Themenkomplexe zwingend Zweidrittel des Werkes ausmachen und wie stützt dieser Potpourri die Intention des Buches? Ja, was ist die Intention? Ist es am Ende Elise als ewig und vergeblich Suchende? Elise ist es, die ein Leben lang an dem Narrativ der edlen Leclercs festhält. Gleichzeitig bleibt Elise diejenige, die sich der Integration, der Verbindlichkeit und jeder Bindung verweigert. Sie reduziert das Sozialleben auf wechselnde Bekanntschaften und verweigert auch symbolisch den festen Wohnsitz. Nicht zufällig ist ihr Zuhause ein Schiff, das jederzeit ablegen kann, wie sie sagt. Auch in dieser Hinsicht nähert Josten ihren Plot an das Werk Kein Ort. Nirgends von Christa Wolf an. In der Luchterhand Ausgabe von 1986 zeigt das historische Titelbild ein zum Ablegen bereites Wohnschiff. Der Roman beschreibt einen Gesellschaftsnachmittag mit weitläufigen Salongesprächen zahlreicher Gäste. Für die beiden (authentischen) Hauptprotagonisten Heinrich von Kleist und Karoline von Günderode bleibt kein Ort. Nirgends. Sie ringen vergeblich um ihre Identität in der Gesellschaft. Beide haben sich im wahren Leben das Leben genommen.

Der Roman von Josten trägt kaum deprimierende Züge. Dazu fehlt ihm schon die Geradlinigkeit und der Fokus. Man bleibt eher verloren zurück im lauten Geräusch der Salongespräche. Was dennoch beeindruckt, sind stilistische Sprachelemente und die Überzeugung, das Werk einer gebildeten Autorin gelesen zu haben.  Note: 3 – (ur) >>