Rowohlt Taschenbuch Verlag 1994 – 120 Seiten
>>Aufbauend auf autobiographische Elemente problematisiert der Autor die Gewalt der Religion in einer kindlichen Seele. Geschrieben in der 1. Person Singular schildert Delius einen einzigen Sonntag im Leben des elfjährigen Protagonisten. Es ist der 4. Juli 1954 in dem kleinen hessischen Nest Wehrda, gelegen im Abseits an der deutschen Zonengrenze. Im Bannstrahl des Radios erlebt der Bub, wie Deutschland an diesem Tag im Endspiel gegen Ungarn Fussballweltmeister wird (3:2). Die unmöglich geglaubte Befreiung wird zur leuchtenden Metapher im religiösen Dunkel des verengten Kinder-Universums. Es geht also nicht wirklich um Fussball.
Das Radioerlebnis wird für den Jungen zu einem befreienden Aufatmen in seinem protestantisch puritanischen Milieu, das ihn zu ersticken droht. Der Vater ist wortgewaltiger Dorfpfarrer. Die Mutter eine in stiller, aber bestimmender Pflichterfüllung Herrschende. Der Großvater vom U-Boot Kapitän zum Volksmissionar konvertierter Dogmatiker.
Auch am Weltmeister-Sonntag erwacht der Bub mit ohrenbetäubendem Kirchengeläut, das unschuldige Kinderträume zerschmettert. Beim Frühstück mahnt das Brot – leicht von dünnem Gelee gerötet – an den blutenden Leib Christi. Den Sonntagmorgen nimmt wie immer der rechtweisende Kirchgang ein. Mittags wird der Braten vom Vater zerteilt wie Abraham bereit war, seinen Sohn Isaak Gott zu opfern. Nachmittags folgen bedächtige Bewegungen, aber kein Ballspiel. Verbote, Gebote, Gottes Gegenwart immer und überall. Der Elfjährige ist angefüllt von diesem dumpfen Gefühl des unverstanden Schuldigen, den Jesus, der Menschenfänger, angelt. Jesus, der ihm, dem kleinen Unbedarften, mit dem Angelhaken den Kehlkopf ausreißt, und damit Luft und Sprache raubt.
Er fühlt sich als Sünder, der unwissentlich am Turmbau zu Babel teil hatte. Nur deshalb hat er die Sprache verloren, stottert, scheitert an jedem Doppelkonsonaten wie in „Gnade“. Er, der vom Fischer Jesus Gefangene. Will nicht Schwimmen lernen, ein ewiger Nichtschwimmer. Von Schuppenflechte gequält. Unvollkommener Fisch mit mehr Schuppen als Haut.
An diesem Sonntag sichert sich der Bub jedoch leise die Zustimmung, die Radioübertragung hören zu dürfen. Ein packender, mitreißender Reporter Herbert Zimmermann zieht ihn in seinen Bann. Eine Welt der Gemeinschaft drängt in den Raum. Die kollegiale Stärke, ein aufbauender Kampf für das eine Ziel. Worte wie „Gott sei Dank“ und „ein göttlicher Schuss“ überraschen ihn mit ihrer blasphemischen Leichtfüßigkeit. Im Angesicht religiöser Requisiten im väterlichen Arbeitszimmer, hin- und hergerissen zwischen Schuld und Befreiung, erlebt er einen anderen Gott, nein, elf Götter. Eine Idee, für die sich Opfer und Leid lohnt.
Seine Zunge löst sich. Doppelkonsonaten kennen keine Barriere mehr. Kurz vor der Verlängerung beim Spielstand von zwei zu zwei ist der Bann gebrochen. Die Euphorie wächst. Wenn auch stets unterlegt von einem lauernden Schuldgefühl und der Ahnung, dass die Befreiung am Montag bereits der Beklemmung weichen könnte.
Eine eindrucksvolle Erzählung in einem poetischen Sprachduktus. Eine berührende Psychologie disruptiver Erziehung. Eine kritische Darstellung einer auf Schuld und Sühne bauenden Religiosität. Die dreieinige Besatzungsmacht Gott, Jesus und Heiliger Geist (S.95) im Zonengrenzgebiet. Und eine überraschende Befreiung, als Fussballgötter in das Amtszimmer des Gottesdieners gotteslästernd eindringen: für den elfjährigen Bub der glücklichste Moment. An diesem Sonntag wird er Weltmeister vor sich selbst. Note: 2 (ur)<<