Diue kleine Stechardin – Gert Hofmann

Deutscher Taschenbuch Verlag 1996 – 213 Seiten

 Der für seine Zeit unorthodoxe Gelehrte G.C.Lichtenberg (1742 – 1799) lebte und lehrte in Göttingen, vermaß für Kurfürsten die steuerpflichtigen Reiche und führte mit dem englischen König geistreiche Gespräche. Er war seiner Zeit voraus. Gesundheitlich als Behinderter aber hintendran und dennoch ein legendärer Schürzenjäger. Also Stoff genug für literarische Ewigkeiten. Die historische Gestalt wurde wiederholt Gegenstand von Romanen, Filmen und Wissenschafts Features. Auch G. Hofmann griff kurz vor seinem zu frühen Tod 1993 die Materie auf. Er hinterließ einen Roman, von dem das Zeit Feuilleton urteilte, dass dem Werk eine längere Lebenszeit des Autors und damit eine Veredelung gut getan hätte. Das strengere Urteil hier und jetzt: Werk missglückt. Denn es geht auch anders wie Daniel Kehlmann später zeigte: eine ähnliche Persönlichkeit am gleichen Ort. In Die Vermessung der Welt wird der kauzige, hypochondrische aber erotisch beeindruckende Mathematiker Gauß literarisch glänzend in Szene gesetzt.

Da ist also am Ende des 18. Jahrhunderts in der verschlafenen Universitätsstadt Göttingen der Professor der Physik. Invalide, Gnom mit 143 cm Scheitelhöhe, Buckel, großer Kopf, dünne Beine, Haarausfall. Gespött und stilles Spektakel für die Nachbarschaft. Aber anerkannter, viel aufgesuchter und zitierter Wissenschaftler für die akademische Gemeinde. In seinem Heim bringt der Professor Massen von Studenten aus wohlhabenden Häusern Naturwissenschaft nahe. Sein Leben stellt sich jedoch einsam und überschaubar dar: die Wohnung, der Hörsaal, der Spazierweg.

Ohne offensichtliche Vorgeschichte zieht die 13-jährige Tochter der Familie Stechard bei ihm ein. (Auch das ist authentisch.) Das unbeholfene Mädchen soll ihm im Haushalt zur Hand gehen. Sie stammt aus bescheidenen Verhältnissen, ist engelhaft hübsch, unbedarft und anfänglich verschüchtert. Doch die Annäherung zwischen den beiden bleibt nicht aus. Lichtenbergs langsam erwachende Begierden finden begehrlichen Widerhall. Es folgen drei Jahre engster symbiotischer Vereinigung, die für beide gleichermaßen Erfüllung und Glück bedeuten, welches sie in völliger Zurückgezogenheit kultivieren. Während er multimorbid an vielerlei Krankheiten laboriert, doch dem Ableben erfolgreich Widerstand leistet, stirbt sie im Alter von nur 17 Jahren an Fleckfieber. Den Platz der jungen Stechardin wird später eine andere einnehmen, die dem Professor 8 Kinder gebären wird – auch das ist belegt.

Ein merkwürdiger Roman. Die Kommunikation zwischen den beiden Protagonisten ist von Banalitäten und Sprachlosigkeit geprägt. Sprechfragmente, Stereotypen, Leere, Fahrigkeit, naives gedankliches Vagabundieren, kein Anfang, kein Ende. Kaum ein Gedankengang wird abgeschlossen. Dasselbe gilt für Handlungsstränge, die an wenigen Stellen vielversprechend beginnen, aber den Plot nicht vorantreiben. Der Autor unternimmt keinen Versuch, an sich interessante Strukturelemente literarisch zu vertiefen. Zum Beispiel die Liebe zwei damals erotisch Illegitimierter: ein körperlich Behinderter und eine Jugendliche im Lichte moralischer Zwänge. Oder die verbotene Trauer des verkrüppelten Kindes Lichtenberg, das wegen seiner Erscheinung der Beerdigung seines Vaters nicht beiwohnen darf. Ebenso wenig überzeugend ist der orientierungslos plappernde Prof. Lichtenberg selbst. Vorder- und Rückseite eines akademischen Charakters? Das Herabsteigen des Gelehrten auf die Ebene der geliebten Analphabetin? Funktioniert der konstruierte Widerspruch?

Man könnte das Werk in diesem Sinne interpretieren, dass genau dieser Aspekt die Originalität und Intention des Romans spiegelt. Vielleicht soll von der historischen Professorenfigur ein kontroverses und provokantes Gegenbild geschaffen werden: trivialer, triebhafter Charakter, der keine bleibenden Zeitspuren hinterlässt. Für Leser verdichtet sich jedoch das Werk zu einer ermüdenden Monotonie des Bedeutungslosen – wie der Titel, bei dem das Versprechen, die kleine Stechardin in den Mittelpunkt zu stellen, nicht eingelöst wird.

Summa summarum: eine Zumutung.  Note: 4 – (ur)