Blessing | 317 Seiten
>>Der Ich-Erzähler Mr. Stevens, seit über 30 Jahren Butler im vornehmen Haus von Lord Darlington, nimmt uns mit auf eine 6tägige Reise „durch einige der schönsten Gegenden Westenglands“. Dass dabei die Landschaft fast auf der Strecke bleibt und stattdessen die Lebensgeschichte eines perfekten Butlers zum Vorschein kommt, verwundert wenig. Eröffnet doch Mr. Stevens seinem neuen, ihn zur kurzen Auszeit geradezu drängenden Dienstherrn Mr. Farraday, kein alter englischer Adel sondern dollarschwerer Amerikaner, dass es ihm „vergönnt“ war „im Laufe der Jahre innerhalb dieser Mauern das Beste von England zu sehen“ und er eigentlich wenig Bedürfnis verspüre sich im schönen England umzusehen. So bleiben denn auch die „Mauern“ von Darlington Hall auf der Reise in immer wiederkehrenden Erinnerungsepisoden fast beklemmend allgegenwärtig. Statt frischer Fahrwind im schicken Ford vor allem Eintauchen in die Innenwelt der englischen Aristokratie und die Sekundärtugenden ihrer Dienerschaft und damit ein großartig erzähltes gesellschaftskritisches Dokument Die Choreografie dieser Gesellschaftsschicht bewegt sich in einem starren nach außen abgeschotteten Regelsystem. Pathetische Zuschreibungen des Ich-Erzählers wie „Würde“, „Größe“, „Moralität“, „Loyalität“ erschöpfen sich letztlich im dienenden Perfektionismus. Wenig verwunderlich daher, dass Empathie in der Welt eines Butlers mit Helikopterblick und absoluter Selbstkontrolle als Störfaktor wahrgenommen wird. Kühler als der Abschied vom eigenen Vater kaum möglich, Fähigkeit zu lieben gar unmöglich, ein Gefühlston wie in der glänzenden Miss Kentongeschichte zart angedeutet schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt (großartig: die Schlüsselszene der Beziehung spielt an einer Bushaltestelle). Ishiguro verlegt die Erzählzeit ins Jahr 1956, die erzählte Zeit reicht in den Erinnerungen seines Erzählers bis in die 20 Jahre zurück. Die Zeitebenen von Erinnertem und gerade Erlebtem werden so kunstvoll verzahnt, dass auch die Vergangenheit unmittelbar gegenwärtig erscheint. Der Blick fürs Wesentliches oszilliert: Ein Nasentropfen, eine vergessene Kehrichtschaufel, eine Konferenz, die im März 1923 im Hause Darlington Geschichte schreibt – sie sind nur einen erinnerten Wimpernschlag auseinander. Dabei ist sich Ishiguros Erzähler auch seiner Sprunghaftigkeit und Lückenhaftigkeit bewusst ist („schweife ab“, „verliere mich in Erinnerungen“, „ich komme jetzt darauf zurück“ „was ich eigentlich sagen wollte“, „möglicherweise täuscht mich meine Erinnerung“, „ich bin mir nicht sicher“). Nichts vermag aus meiner Sicht die auch reichlich skurrile Butlerwelt besser zu charakterisieren als Stevens Zufallsreisebegegnung mit dem Dorf Mursden und dessen Bedeutung für die Weltgeschichte. Ursprünglich Sitz der Firma Giffon & Co für Politurkerzen führte deren Entwicklung einer neuen Silberpolitur zum Umschwung in der Kunst des Silberputzens in englischen Adelshäusern , ein Zustand der während einer Geheimkonferenz von Lord Halifax und von Rippentrop („Schwindler im Auftrag Hitlers“) im Hause Darlington für Stevens in der Erinnerung in dem Triumph endet „mit dem Zustand des Silbers einen bedeutenden Beitrag zu Entspannung des deutsch-englischen Verhältnisses geleistet zu haben.“ Dies ist der Hochglanzhorizont des Butlers, der „seinen Posten am Portal“ zum „Dienst an der Menschheit“ überhöht, der glaubt, der Nabe des Rades nahe gekommen zu sein, an der die großen Persönlichkeiten Weltpolitik gestalten („die gewöhnlichen Menschen können die großen Angelegenheiten nicht erfassen“), wo sich auch das „moralische Format eines Dienstherrns“ mit der Entlassung zweier jüdischer Hausangestellten verträgt, wenn es die Opportunität gegenüber dem deutschen Gesandten im Haus Darlington erfordert. So ist Stevens auch auf einer Reise immer dann kommunikativ blockiert, wenn das Gespräch auf das Leben und Werk Lord Darlingtons kommt. Das Bild der Nachwelt als Schachfigur im Spiel des Naziregimes verträgt sich nicht mit dem Bild, das Stevens von seiner Lordschaft verinnerlicht. Dass seine Dienerschaft „erstklassig“ gewesen sei, auch wenn letztendlich „Leben und Werk“ seines Dienstherrn „eine traurige Vergeudung“ gewesen sei, schützt den wahren Butler vor jedem Selbstzweifel.
Dass Stevens die Welt außerhalb „der Mauern von Darlington“ letzten Endes fremd bleibt, dass Begegnungen mit „gewöhnlichen Menschen“ auf der kurzen Reise eher Unsicherheit als Offenheit befördern, zeigt, dass er im Korsett eines Gesellschaftssystems gefangen bleibt, das sich überlebt hat. Er wird dadurch zur tragischen Figur, die auch durch das abschließende Seeluftgespräch, in dem der Ich-Erzähler erstmals Empfindungen wie „Freude“, „Herzlichkeit“, „menschliche Wärme“ wahrnimmt, kaum noch zu retten ist. Wer zudem gar das Scherzen weiterhin als „Aufgabe“ gegenüber seinem künftige Dienstherrn Farraday versteht, der unterwirft sein Ich weiterhin der Pflicht.
Ishiguro entwirft am Beispiel einer authentischen Butlerfigur, auch sprachlich und erzählerisch souverän, eine großartige Gesellschaftskritik der englischen Aristokratie. Dass von diesen Tagen auch in der Zukunft nichts mehr übrigbleibt, ist nicht nur England zu wünschen. Note: 1,5 (ai) <<
>> Ein Butler im lebenslangen Einzelkampf, seine Dienste immer weiter zu perfektionieren. Sein Grundsatz, maschinenartig zu funktionieren und alle persönlichen Anteile zu eliminieren. Das ist der Goldstandard. Am Ende des Tages bleibt ein Mann, der entseelt auf seinen Lebensabend blickt. Mit kleinen Anekdoten schreitet der Leser durch den überholten Alltag des britischen Adels. Der Ich-Erzähler, der sich gezielt jeder Empathie beraubt und vielleicht für die erstrebte Fremdwahrnehmung auch den Leser belügt? Er will der beste Diener im Erdenkreis sein und dazu gehört die Tilgung aller Emotionen.
Ein mühsamer Roman. Ein Bühnenbild, das ermüdet. Und dann das belebende Versprechen des Bucheinbands („Eine bewegende Liebesgeschichte“), das so wahr ist wie die Behauptung von gymnastischer Beweglichkeit eines Betonnagels. Viel bleibt nicht übrig vom Tage und diesem Werk. Note: 4 (ur) <<
<< In Ishiguros sprachlich herausragendem und formal äußerst raffiniertem Werk geht es sowohl um die aus unserer Sicht grotesken und bizarren Mechanismen der britischen Klassengesellschaft, die bis heute nachwirken und die Menschen, die sie tragen als auch um die Frage aller Fragen: Worin besteht ein erfülltes Leben? Die äußere Klammer bildet eine 6-tägige Reise des Butlers Stevens, in der er uns in gut nachvollziehbaren Rückblicken sein Leben als Butler von Lord Darlington von den 30 er Jahre bis Mitte der fünfziger Jahre schildert. Selten koinzidiert die literarische Sprache so gut mit dem Gegenstand, den sie beschrieben soll. Stevens unternimmt die Reise zu einem Zeitpunkt, da sich sein langjähriges berufliches Leben als Butler dem Ende neigt. Er ist immer noch vollständig gefangen in seiner Rolle, die keine Gefühlsregung erlaubt und deren Kern er mit „Würde“ beschreibt, was bei den Menschen, denen er auf seiner Reise begegnet zu verständlichen Missverständnissen führt. Sie haben eine andere Vorstellung von „Würde“, die ihrer Meinung nach alle Menschen und nicht nur Butler besitzen. Überhaupt kommt er auf dieser Reise durch Cornwall wohl zum ersten Mal seit langem mit „normalen“ Meschen in Kontakt. Erst in der Rückschau auf dieser Reise erfahren wir nach und nach , dass sein verehrter Lord Darlington, der enge Kontakte mit hohen Naziführern hatte , nach dem Krieg gesellschaftlich isoliert war. Zweimal streitet Stevens sogar ab, jemals Lord Darlington gedient zu haben. Er rechtfertigt dies damit, dass er das Andenken an seinen Dienstherrn nicht beschmutzen lassen will. Ob er uns damit die ganze Wahrheit sagt, bleibt offen. Dies gilt auch für seine Zuneigung zur früheren Haushälterin Miss Kenton, die das vordergründige Ziele seiner Reise ist. Obwohl er auch ihr gegenüber stets kühl und förmlich bleibt, fragt er sie doch, ob sie in ihrer Ehe glücklich ist. Als sie dies bejaht, überspielt er seine Enttäuschung durch professionelle britische Höflichkeitsfloskeln.
Erst als Miss Kenton ihm zu verstehen gibt, dass sie auch darüber nachgedacht habe, wie ihr Leben mit einem anderen Mann, z.B. mit ihm verlaufen wäre, „bricht ihm das Herz“. Ein rarer Augenblick, in dem man Emotionen bei ihm sieht. Ob sich Stevens am Ende der Reise durch den Kontakt mit einer anderen Wirklichkeit außerhalb der engen Mauern von Darlington und die Begegnung mit Miss Kenton verändert hat, bleibt offen. Aus dem was Stevens äußert, muss man folgern, dass er in seinem lebenslangen beruflichen Korsett gefangen bleibt und er das „was vom Tage übrig blieb“ , das heißt den Abend des Lebens , nicht genießen wird, sondern weiterhin „der Butler“ bleibt.
Note: 1 ( ün) <<
>> Lieber Mister Stevens,
ich schicke diese Mail hinauf in die Cloud, wo sich die besten Butler der Welt in der „Hayes Society“ auch post mortem treffen. Jetzt haben Sie ja viel Zeit zum Lesen. Leider kann ich Ihnen nicht in der Sprache schreiben, die Sie gewohnt sind, also etwas gedrechselt und überelaboriert. Beim Lesen habe ich mich oft amüsiert über Ihre Formulierungen. Sätze wie „Sie messen der Angelegenheit eine zu große Dringlichkeit zu“, da muss man erst mal drauf kommen. Beeindruckt haben mich Ihre Überlegungen zu den Risiken, die mit witzigen Äußerungen verbunden sind. Ich habe damit auch einschlägige Erfahrungen gemacht, von der Ohrfeige einer an sich liebenswürdigen Grundschullehrerin vor vielen Jahren bis heute bei Leserbriefen. Aber was erzähle ich Ihnen da für Banalitäten. Ziemlich früh hatte ich geahnt, dass es kein Happy End für Sie geben würde. Freilich, Sie lebten in einer Zeit, in der man das Wort „Worklifebalance“ nicht kannte. Ich kenne Butler nur aus der Literatur oder aus Filmen. Insbesondere den Butler von Miss Sophie in „Dinner for one“. Und der sei in Deutschland gedreht worden wurde mir gesagt. Wegen Ihnen habe ich mein Butlerbild gründlich revidiert. Zum Besseren natürlich. Sie spielten in einer Liga, die es heute vermutlich gar nicht mehr gibt. Respekt, Respekt für Ihr außergewöhnliches Organisationstalent, Ihre Loyalität gegenüber Lord Darlington. Vermissen Sie ihn? Wo er wohl gelandet ist? Aber vielleicht waren die himmlischen Richter nicht so streng mit seinen politischen Rechtsabweichungen wie die britische Presse.
Schade, dass Sie so gar kein Feeling gegenüber den Avancen von Miss Kenton hatten… eigentlich unverzeihlich. Ich bin ja auch nicht gerade ein Draufgänger, aber wenn mir eine Frau so die Finger drücken würde, also da hätte ich zurück gedrückt, zärtlich aber bestimmt. Zu spät, Ihr Leben, aber auch das Leben von Miss Kenton hätte ein andere Wendung nehmen können, der Roman wäre kürzer geworden. Wenn Sie nur nicht so streng mit sich selbst gewesen wären, so dienst-und pflichtbeflissen, mon dieu. Auch beim Tod Ihres Vaters…, aber das war ein ganz besonderes Verhältnis.
Ihre einfühlsamen Landschafts-und Naturbeschreibungen beeindrucken. Mit der Wahl von Herrn Ishiguro als Autor hatten Sie ein außerordentlich glückliches Händchen. Er hat alles, was Sie ihm erzählt haben, großartig auf-und zubereitet, sicher besser als Sie oder ich es gekonnt hätten. Aber ja, ein Butler von Ihren Dimensionen, der tut‘s auch nicht unter einem Nobelpreisträger. Sie, aber auch ich als Leser, sind Herrn Ishiguro zu großem Dank verpflichtet. Alles Gute für die nächsten Jahrhunderte wünscht Ihnen
Ihr Max Steinacher vom weltberühmten Literarischen Quartett Tübingen. Note: 1– (ax)