Hiob – Joseph Roth

dtv 188 Seiten

<< Wenn einer am Ende das Wunder verdient, dann jener Mendel Singer, den Joseph Roth, seinem biblischen Vorbild folgend, durch qualvolle Schicksalsschläge schickt. „Fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich“ so wird der 30jährige Thoralehrer (was Analphabetismus nicht ausschließt) eingeführt. Die „Fruchtbarkeit seiner Lenden“ steht im Kontrast zu „seiner Hände Armut“ (anders als der biblische Hiob) und nachdem sich ersteres mit der Geburt des 4. behinderten Menuchim ebenfalls legt, folgen freud- und lustlose Jahrzehnte. Schonungslos offen sind die Bilder vom Zerfall einer Ehebeziehung. Gefangen im Korsett jüdischer Orthodoxie verweigert Mendel für Menuchim mögliche medizinische Hilfe. Bedingungslose Opferbereitschaft und Selbstaufgabe, das ist die kleine Welt Mendels. „Welche Hilfe erwartest du von den Menschen, wo Gott uns bestraft“ fragt Mendel Deborah, die sich wenigstens neben Ahnenkult und Fasten noch mit den Heilungs-Prophezeiungen eines jüdischen Rabbi zu trösten vermag. Brutalität der Geschwister gegenüber „dem missratenen Krüppel“, eine lustbetonte Tochter, die sich mit „Kosaken“ einlässt, ein für den galizischen Juden fremdes Zarenreich, das seine beiden Söhne zum Militärdienst zwingt, diese „Plagen“ scheinen mit der Amerikageschichte Schemarjahs eine Wende zu nehmen. Etwas klischeehaft der Aufstieg des Zarendienstdeserteurs zu Sam, dem Kaufhausbesitzer. Entgegen dem Rat des Rabbi wird Menuchim zurückgelassen. Das „gesegnete Land“ erweist sich janusgesichtig. Für Mendel überwiegt das Verharren in seiner alten Welt schlichter Frömmigkeit, für die junge Generation gilt ein zukunftszugewandtes Amerikabild. Brillant wie Roth in wenigen Zeilen diese vermeintlichen Verheißungen skizziert. Und gerade als im 58. Jahr zum ersten Mal „die Sorgen das Haus Mendels Singers“ verlassen (Kap.XI), folgen die unerbittlichen Schicksalsschläge. Sam fällt fürs amerikanische Vaterland in Europa, Deborah stirbt an Trauer über den verlorenen Sohn und die liebestolle Tochter Mirjam, von der der Vater schon seit der Kosakenepisode glaubt, der „Teufel sei in sie gefahren“ wird verrückt. Der verlorene Bruder, lieb ich Mac oder Herrn Glück, für sie und für mich als Leser etwas zu viel. Was folgt ist die Wende: Mendels Zorn auf Gott. Nicht mehr der „wacklige Körper“, der am ganzen Körper betet, sondern der aufbegehrende Mendel, der sein „rotsamtenes Säckchen“ (Gebetsriemen, Gebetsmantel, Gebetsbücher und mit ihm Gott „verbrennen will“. Dass nun gerade die jüdischen Freunde, deren Sinn eher nach Geld statt nach Sabbat stand und auf deren „alten Glauben“ der „Staub der Welt schon dicht lag“ Mendel vor dem endgültigen Abfall von Gott retten und ihn an die Hiobgeschichte erinnern, verweist auf ein reichlich pragmatisches Glaubensverständnis von Joseph Roth. Reichlich knitze auch, dass sich der lästernde und gottfluchende Mendel als zehnter Mann zum jüdischen Abendgebet für reine Anwesenheit bezahlen lässt. Nach so viel Abkehr vom Glauben naht beim jüdischen Osterfest im Hause Skowronnek mit der Lichtgestalt des jüdischen Komponisten Menuchim Kossak das mit dem Romantitel „Hiob“ schon erwartete Wunder: Die Heimkehr des verlorenen Sohnes und die Buße des sündigen Vaters. Das Schlussbild des Romans eine Fotografie der zukünftigen Singer-Kossak  Familie im Zimmer eines Nobelhotels  : filmreif amerikanisch verkitscht. Wohl dem, der wie Mendel angesichts seiner Lebensgeschichte noch an die „Größe der Wunder“ glaubt.

So fremd mir die bedrückende Welt dieses „gewöhnlichen Juden“ auch ist, Joseph Roth beschreibt sie sehr anschaulich. Erzählperspektiven und Erzählstile sind variantenreich. Meist nüchtern registrierend, wenn aus der Perspektive der Figuren gesprochen wird, etwa die Beschreibung der Mendel-Deborah Entfremdung, die Kutschfahrten mit Sameschkin oder – ein highlight – Mendels Dokumentenepisode in Nummer 84. Daneben poetisch liebevoll Stimmungen und selbst bei allem Unglück für Mendel einzelne Mirjam Episoden.

Josef Roths Roman entstand 1930. Auch sein „Hiob“ lässt die Theodizee-Frage unbeantwortet.  Note: 1/2 (ai )<<

 

 

>> Wie im Alten Testament geschrieben steht, war Hiob ein Mann Gottes. So gottesfürchtig, dass Gott sich beim Disput mit dem Satan weit aus dem Fenster lehnte: dem Teufel würde es nicht gelingen, Hiob vom rechten Weg abzubringen. Darauf nahm der Teufel dem wohlhabenden Hiob sukzessive alles. Doch nach jeder weiteren Katastrophe lobpreiste Hiob seinen Gott: „Der Herr hat es gegeben. Der Herr hat es genommen. Gelobet sei der Herr.“ Der Herrgott wusste es zu schätzen und belohnte den Gottesdiener überreichlich, da sich dieser jeder Versuchung widersetzte.

Roth hat die alttestamentarische Episode in das Ostjudentum des frühen zwanzigsten Jahrhundert transformiert. Sein Jude heißt Mendel Singer, lebt unter ärmlichsten Bedingungen im russisch-polnischen Grenzgebiet und gibt sich ähnlich gottesfürchtig. Doch als die nicht enden wollenden Schicksalsschläge überhand nehmen, verdammt der alte Singer schließlich seinen Gott. Diese Verfremdung spiegelt vermutlich die tiefe Enttäuschung des Autors wider, der als Jude im aufziehenden Nazideutschland die alte Theodizeefrage aufgreift: wie ein allmächtiger Gott größtes Leid geschehen lassen kann. Roths Protagonist emanzipiert sich von der orthodoxen Frömmigkeit. Als am Ende des Romans ein verloren geglaubter Sohn Mendels wie ein auferstandener Messias den Vater aus dem Elend errettet, driftet die Darstellung in märchenhafte Klischees ab. Der Text lässt die Vermutung zu, dass Mendel nicht bekehrt wird – oder doch?  Was will uns das sagen?

Mendel ist mittelloser Gebetslehrer für eine Handvoll Vorschulkinder. Mehr nicht. Verachtet von seiner Frau Deborah ob seiner Erfolglosigkeit, führt Mendel dennoch ein in sich ruhiges Dasein, weiß er sich doch im Einklang mit den göttlichen Geboten. Drei Kinder toben durch die winzige Hütte bis schließlich noch ein viertes dazukommt. Als ob Deborahs Leib nicht mehr ausreichend Lebenssaft hatte spenden können, wird der kleine Menuchim als von epileptischen Anfällen geschüttelter Krüppel geboren. Die Geschwister hassen ihn, versuchen den sprachunfähigen Bruder zu ertränken. Doch etwas Unbestimmtes verleiht Menuchim eine unsterbliche Zähigkeit. Die Eltern empfinden eine besonders tiefe Verbundenheit mit ihrem behinderten Kind, die die Liebe zu den drei anderen Kindern fast vergessen macht.

Als die älteren Brüder das wehrfähige Alter erreichen, drohen beide für 25 Jahre zwangsrekrutiert zu werden. Einem kann die Mutter einen Schleuser ins Ausland finanzieren, für den zweiten reicht das Ersparte nicht. Doch dieser hat zum Entsetzen der Eltern inzwischen Gefallen am Militärdienst gefunden und wird Kämpfer der zaristischen und später weißen Armee. Ein grausamer Tod scheint ihm sicher. Währenddessen pubertiert sich Tochter Mirjam durch die benachbarten Kornfelder, wo ihr als hormonwütiger Heißsporn auch gern mal drei Kosaken gleichzeitig gerade genug sind. Der Vater ist entsetzt, während die Mutter schon lange aufgegeben hat. Als dann Post vom inzwischen in die USA geflüchteten Sohn Schemarjah kommt, beschließen sie nach Amerika auszuwandern, um die Tochter dem Sündenpfuhl zu entreißen.

Was folgt, ist ein kafkaesker Spießrutenlauf durch den korrupten Bürokratensumpf, wo auch den Nackten noch in die Tasche gegriffen wird. Es scheint lange Zeit unmöglich, die Ausreisepapiere zu erhalten. Kaum vorstellbar gelingt der Familie schließlich doch die Überfahrt nach Amerika. Mit Nachbarn einigt man sich, dass Mendels Hütte ihr neues Eigentum wird, wenn sie sich um den schwer behinderten Menachim kümmern, den sie zurücklassen müssen.

Sohn Schemarjah ist inzwischen in den USA bestens assimiliert, trägt jetzt den Namen Sam und avanciert zum erfolgreichen Geschäftsmann. Die Familie findet im jüdischen Viertel Unterkunft, die Tochter einen Mann, der Sohn eine Frau, die ihm schon bald eine Familie beschert. Amerika, das neue gelobte Land. Doch dann bricht der erste Weltkrieg aus. Überraschend treten die USA in die Kämpfe ein, so dass auch Sam aus Überzeugung für seine neue Heimat freiwillig in den Krieg zieht. Er überlebt nur wenige Wochen. Mit der Todesnachricht bricht sowohl die Mutter zusammen und verstirbt, wie auch Mirjam, die eine degenerative Psychose entwickelt, die nur in einer geschlossenen Anstalt behandelt werden kann. In kürzester Zeit hat sich Mendels paradiesische Geborgenheit in eine grausame Hölle verkehrt: der älteste Sohn vermutlich in Russland umgekommen, der zweite im Weltkrieg gefallen, der jüngste verkrüppelt und lebensunfähig in der fernen Heimat, die Tochter unheilbar vom Teufel besessen und die Gattin ob dieser Qualen tot umgefallen. In der Interpretation des Geschehens wird auch die ewig umstrittene Frage berührt, ob die Assimilation orthodoxer Jude an veränderte Lebensumstände nicht nur Verrat am Ursprünglichen ist sondern auch den Untergang vorwegnimmt.

Für Roth markiert der Roman einen Wendepunkt: Aufgabe seiner engagiert kritischen journalistischen Arbeit hin zur traditionellen Literaturform auf Grundlage jüdischer Ursprünge. Roth selbst spricht von einer „anderen Melodie“, die ihn bewegt.  Eingebettet ist dieser Wandel in eigene Schicksalsschläge, die der gläubige Autor als göttlichen Fluch empfindet. Die Parallelen zum Roman sind offensichtlich. Während Mendel Singer sich schuldig macht, als er den verkrüppelten Sohn in der verruchten Heimat zurücklässt, glaubt Roth seine geliebte Frau Friedl verraten zu haben, als sie unheilbar an Schizophrenie erkrankt.

Ein kontrovers interpretierter Unterschied zwischen dem Alten Testament und Roths Hiob liegt in der Inszenierung der Protagonisten. Hiob ist Milliardär seiner Zeit, Mendel von Anfang an verarmt und hat damit eine nur geringe Fallhöhe. Hiob hält am Glauben fest und wird dafür göttlich entschädigt. Mendel verliert seinen Glauben und kehrt vermutlich nicht (?) zu ihm zurück. Dennoch wird auch Mendel erlöst und belohnt: sein ehemals schwerst behinderter Sohn ist zwischenzeitlich wundersam geheilt, mittlerweile berühmter Dirigent und findet in Umkehrung den verlorenen Vater. Die metaphorische Belohnung ergibt sich mit dem gemeinsamen Umzug ins legendäre Hotel Astor. Vermutlich ist diese Wendung parodistisch zu verstehen, war Amerika doch für Roth die Entwicklung von der Barbarei zur Dekadenz ohne den Umweg über die Kultur. Dazu könnte auch der als Mendels Tod interpretierte letzte Buchabsatz passen: „ Während sie sich langsam schlossen, nahmen seine Augen die ganze Heiterkeit des Himmels in den Schlaf hinüber…“

Ein Roman der alten Schule, interessant für Interessenten jüdischer Geschichte, sprachlich auch mit Höhepunkten z.B. in der Beschreibung Amerikas. Note: 2/3 (ur)<<

 

>>  Mendel Singer, Du Allerärmster. Leben mit einem Gott, der nur danach trachtet zu kontrollieren, zu strafen, zu richten. „Gott ist grausam, und je mehr man ihm gehorcht, desto strenger geht er mit uns um.“ Um Gottes willen.

Das ist keine Hilfe für den Alltag, für das Leben. Unglück oder Pech kann nur als göttliche Strafe gedeutet werden. Ohne Gott zu leben, was wäre das für eine Befreiung. Mir wurde ein anderes Gottesbild vermittelt. Manchmal fällt er mir erst ein, wenn Not am Mann ist. Dann werde ich zum Bittsteller. Ihn anzusprechen kann beruhigen. Er hilft, aber nicht immer… Aber ich weiß, Unglück oder Pech, das mir begegnet, ist nicht von ihm geschickt. Eher von Mitmenschen verursacht oder auch von mir selbst. Richtig gefallen hat mir nur ein einziger Satz:“Denn die Genüsse sind stärker, solange sie geheim bleiben.“ (Seite 16).  Note: 3+(ax) <<