Nachtzug nach Lissabon – Pascal Mercier

Hauser Verlag 2004 – 495 Seiten

>>            Es ist der Roman einer Erkenntnisreise. Die Daseinsfrage Wer bin ich – hätte mein Leben ein anderes sein können? kleidet der Autor prosaisch in das Format einer Fuge – eines sich wiederholenden Motivs, dessen musikalische Glieder gegeneinander versetzt sind. Der Protagonist sucht sich heute selbst, indem er sich auf die Suche nach einem anderen von gestern macht. Die beiden Schicksale sind zwar grundlegend verschieden; die gemeinsamen Motive aber die gleichen: Ethik, Aufrichtigkeit, Einsatz, Zielstrebigkeit, Tiefgründigkeit, Selbstzweifel und geradezu versessene Huldigung der Sprache. Die Erwartung des Ersten ist es, durch das Durchdringen des Zweiten zu sich selbst zu finden. Der Antrieb dazu scheint nicht mehr als ein zufälliger Impuls zu sein. Aber plötzlich wird das Wollen überwältigend und sprengt alle Konventionen. Der Protagonist ist Gymnasiallehrer, tritt eines Tages wortlos aus dem Klassenzimmer und kehrt nicht zurück. Der unverstandene Auslöser war ein Schock, die Wegbeschreibung ein Zufall, die Suche hochkonzentriert, die Läuterung im Ungefähren. Selbst am Ende können wir kaum wissen, ob der Zug angekommen ist in jenem Leben.

Im beschaulichen Bern gerät der vergeistigte Lateinlehrer Gregorius durch den von ihm vereitelten Sprung einer Portugiesin von einer Brücke aus dem Jahrzehnte langen Gefüge seines kleinen, geordneten Lebens. Es hätte das Ende ihres Lebens sein können. Vielleicht drängt sich ihm die Frage auf, ob er nicht auch schon lange am Ende seines Seins angelangt ist. Als er am gleichen Tag das Buch „Der Goldschmied der Worte“ entdeckt, veranlasst ihn ein unbestimmter Drang die Spurensuche nach dem Autor des Buches aufzunehmen – hatte dieser sich doch als Archäologe der Seele gesehen. Der Name des portugiesischen Autors: Amadeu Prado aus Lissabon.

Ohne Nachricht zu hinterlassen, bucht er spontan den Nachtzug nach Lissabon. Es wird eine Reise in die Dunkelheit mit der vagen Erwartung, dass das Licht des folgenden Tages auch seine Lebensschatten auflöst. Die überstürzte Reise ist ein Kontrapunkt in seinem beengten Leben. Er: ängstlich, hilfesuchend, im Ungewissen, welches Ziel der Aufbruch hat, aber dennoch eine große Tragweite vermutend. Kaum des Portugiesischen mächtig, kämpft er sich durch die autobiographischen Aufzeichnungen von Prado und meint, Parallelen zu sich selbst zu erkennen. Vielsagend geht seine alte Brille zu Bruch. Mit der neuen, eleganteren, der er sich widerstrebend anvertraut, erscheint die Welt transparenter.

In Lissabon schlüpft er mit einem neuen Anzug in eine neue Haut und erlangt behutsam eine Leichtigkeit, die ihm den Mut gibt, sich auch anderen Menschen gegenüber zu öffnen. Den Aufzeichnungen des Autors folgend beginnt er nach und nach Zeitzeugen von Prada ausfindig zu machen bis aus den Mosaikstücken ihrer Erzählungen ein umfassendes Bild entsteht. Das dargestellte Leben von Prado scheint Charakterzüge von Gregorius widerzuspiegeln.

Prado entpuppte sich früh als unglaublich intelligenter Knabe, dem – wie Gregorius – Sprache ein Heiligtum war. Der strenge Vater und höchster Staatsrichter fürchtete früh, vom Sohn ob seiner Intelligenz bloßgestellt zu werden. Fortan rang der kleine Prado schmerzhaft mit seiner unerfüllten Vaterliebe. Diese Erfahrungen verdichtete Prado zu der Annahme, dass Eltern stets qualvolle Lasten auf ihre Kinder übertragen. In Folge entschied er sich gegen eigene Kinder und ließ sich sterilisieren. Aufrichtigkeit war ihm unverzichtbar. Umso quälender waren die Selbstvorwürfe, als er seine Zeugungsunfähigkeit seiner früh verstorbenen Frau Fatima verheimlichte, die allzugerne auf eine Familie gebaut hätte.

Während der Salazar-Diktatur war Prada als Arzt von seinen Patienten sehr geschätzt worden. Nachdem er jedoch aus ärztlichem Pflichtgefühl auch einem Polizeischlächter das Leben gerettet hatte, wurde Prada allgemein geächtet. Im Sinne einer Wiedergutmachung schloss er sich im Untergrund dem Widerstand an, den sein alter Freund O`Kelly mit seiner Lebensgefährtin Estefânia leitete. Als O`Kelly aus politischen Motiven seine Freundin ermorden wollte, rettete Prado auch sie. Auf der gemeinsamen Flucht ins spanische Finisterre versuchte Prado den Lebensanschluss, war er doch von Estefânia geradezu besessen. Doch sie verweigerte sich ihm. Prado musste erkennen, dass es ihm wie O`Kelly erging. Dieser hatte extra einen Flügel gekauft, um Estefânias Lieblingslied einzuüben bis ihm klar wurde, dass er dieses Lied in seinem verbleibenden Leben nicht mehr würde lernen können. Die Lebensenttäuschung dieser Reise zermürbte Prada bis auch er schließlich einem Hirnaneurysma erlag.

Gregorius offenbart sich im Laufe der vielen Gespräche ein Beziehungsgeflecht voller Widersprüche, Forderungen, Anfeindungen, erfüllter und unerfüllter Liebe, Anerkennung und Ablehnung. Der Sohn möchte den Vater lieben, der ihn aus Angst jedoch ausgrenzt. Die Lehrer sind geblendet von der frühreifen Intelligenz des Schülers und fürchten ihn zugleich. Der Ehemann verheimlicht den schicksalsträchtigen Sterilisationseingriff seiner Frau. Seine Schwester liebt den Bruder abgöttisch und drängt sofort in sein Leben, als dessen Gattin stirbt. Der Arzt setzt die ärztliche Ethik über die politische Verantwortung und verliert damit die Wertschätzung vieler. Der Freund schenkt dem anderen Freund eine Apotheke, entführt ihm aber später die Freundin. Die Freundin will von ihm nicht geliebt werden und untergräbt sein Lebensrettungsmotiv. Der Freund stellt die politischen Motive über die humanitären und will seine Freundin eliminieren, weil ihr lückenloses Gedächtnis eine Gefahr für den Widerstandskampf darstellen könnte, sollte sie unter Folter der Diktatorhäscher Geheimnisse verraten.

Beim Anblick all dieser Details ist Gregorius entflammt, fasziniert, zweifelt, flüchtet vorrübergehend zurück in die Schweiz, recherchiert weiter,  bis er an das Ende von Prados Buch gelangt. Gregorius kehrt schließlich von Lissabon – seinem Finisterre – an den eigenen Ursprungsort zurück. Doch hat der Erkenntnisprozess ihn befreit? Das Leben bleibt ein Torso. Auch für ihn. Zu guter Letzt ist auch er wie Prado tödlich am Organ der Erkenntnis erkrankt und endet mit einem Hirntumor.

Ein feinfühlender, wortgewaltiger Roman eines Autors, der wegen frühen Selbstzweifeln ein Pseudonym wählte und im wahren Hier und Jetzt Peter Bieri heißt. Note: 2/3 ( ur)<<