Aufbau Verlag 1994 (Der Spieler – Späte Prosa) – Seiten 348 – 530
>>Dostojewski skizziert in seiner Erzählung Charaktere gehobener Gesellschaftskreise im Ausnahmezustand. Die dekadente russische Gesellschaft gibt sich im fiktiven deutschen Roulettenburg dem ruinösen Glücksspiel hin. Es ist ein Spiel mit und gegen sich selbst. Spielsucht, Eitelkeit, Eifersucht und Liebe, Standesdünkel und Machtkalkül sind die Kugeln, die durchweg ungünstig fallen.
Da ist der alternde General, der nicht nur beim Militär Geld hinterzog, sondern auch sein Hab und Gut einem falschen Adeligen verpfändete. Da ist die Stieftochter, deren Lebenslust sich aus dem provozierten Leid ihrer Mitmenschen speist. Da ist der Graf, der als Hochstapler zum Blutsauger wird und sich am Unglück anderer bereichert. Da ist die Madame, die beliebig die Seiten wechselt, um Ansehen und Luxus zu mehren. Und da ist der Ich-Erzähler, der mit einem Mangel an Kampfgeist zum Treibgut in der aufgewühlten See wird. Und alle verbindet, dass sie ihr Leben mit einem plötzlichen Vermögen richten wollen. Die Quelle dessen soll das Glücksspiel sein. Und dieses entfaltet eine ganz eigene Dynamik. Einmal im Casino, wird jeder zum festen Mobiliar in diesem. Eine Sucht, dem kein Widerstand gewachsen ist.
Der französische Graf hatte dem General Geld geliehen. Jetzt versucht der Militär das Geld beim Glücksspiel zurückzugewinnen. Zudem erwartet er fiebernd den Tod einer Großtante, um deren Erbschaft anzutreten. Wie eine Klette hängt der Franzose am gemütsschwachen General. Noch tragischer wird es für den Uniformierten, als er sich unsterblich in Madame Blanche, eine deutlich jüngere, affektierte Schönheit, verlieben musste. Madame Blanche diskutiert ihrerseits die Möglichkeit einer Hochzeit – freilich nur, um an die erwartete Erbschaft und vor allem an den Titel einer Madame General zu gelangen. Doch die Großtante will nicht sterben. Stattdessen erscheint sie mit Donnergetöse, worauf Madame Blanche mit einem taktischen Manöver kontert und sich dem Franzosen in die Arme wirft. Natürlich nur bis zu dem Zeitpunkt, zu dem man den falschen Graf als Schwindler entlarvt.
Die Abhandlung kreist um den Ich-Erzähler Alexej, der seit einigen Monaten für die Familie des Generals als Hauslehrer tätig ist. Sein verkrampftes, lautes Herz gehört ganz Polina, der Stieftochter des Generals. Polina fühlt sich in einer hochgradig gestörten Art von Alexej angezogen. Sie kann ihre Zuneigung nur in einen missbräuchlichen Umgang kleiden. Zu ihrem bloßen Amusement veranlasst sie ihn, sich entgegen aller Standesunterschiede einer Adligen zu nähern. Diese reagiert prompt mit einem Eklat. Alexej verliert seine Anstellung als Hauslehrer. Polina drängt Alexej mit ihrem Geld zu spielen, obwohl er Roulette für ganz und gar verwerflich hält. Überraschend gewinnt er. Das Geld könnte ausreichen, Polinas umfangreiche Schulden zu tilgen. Mit dem Argument, dass sie sich nicht kaufen lasse, bleibt sie ihren sadistischen Ambitionen treu. Theatralisch schleudert sie die Geldbündel in den Schmutz, obwohl sie Alexej im Innersten zugetan ist. Liebe kleidet sie in Hass, Aufmerksamkeit in Unterwerfung.
Alexej taumelt. Tief verletzt sucht er Trost bei Madame Blanche. Sie bekundet offen, dass sie an seinem Vermögen partizipieren will. Bereitwillig liefert sich Alexej aus, ist Wohlstand doch ohne jeden Reiz für ihn. Sie reisen gemeinsam nach Paris, wo es leichtfällt, in wenigen Wochen das kleine Vermögen zu verprassen. Er lässt es geschehen. Die dabei empfundene Absurdität ertränkt der junge Mann im Alkohol. Auch moralisch vernebelt kehrt er zurück an die Spieltische. Es ist ein Spielwahn, der nicht auf Reichtum gerichtet ist, sondern der abenteuerlichen Versuchung erliegt. Seine erklärte Ablehnung ist vom Virus der Spielsucht ins Gegenteil verkehrt worden. In der Folge findet er sich im Gefängnis wieder. Anonym kauft Polina ihn frei. Wieder kann sie ihre positiven Empfindungen nicht offen leben. Durchschaut und in scheuer Distanz kommentiert, wird die destruktive Gemengelage von einer britischen Gestalt. Mit seiner Prophezeiung vom völligen Niedergang endet die Erzählung. Dostojewski untermalt damit nochmals den fatalen Werdegang. Auch die offen formulierte Analyse, vermag bei Tätern und Opfern keinen Einfluss auszuüben.
Der Rezensent urteilt: literarisch wird in der zentralen Person des Alexej der Typus des Spielers nicht überzeugend ausgeformt. Die prosaische Charakterprofilierung gelingt lediglich bei der Beschreibung der Großtante, die beim Eintreffen in Roulettenburg augenblicklich von der Spielsucht befallen wird, im Spiel Qualen durchlebt, von polnischen Ratgebern wie Kakerlaken beraubt wird und letztlich vereinsamt. Die Erzählung versteht sich vermutlich auch Gesellschaftskritik. Die Figuren sind allesamt in ein fatales Wechselspiel verwickelt, in dem jeder jeden ausbeutet und damit die Entwicklung einer aufrichtigen Identität verhindert. Der Autor musste selbst diese Erfahrung an deutschen Spieltischen machen. Autobiographisches ist Teil der Erzählung.
Trotz einiger gelungener Passagen ein unvollendetes Fragment. Note: 3– (bu)<<