Die Diplomatin – Lucy Fricke

Ullstein, 2022 | 254 Seiten

<< „Die Diplomatin“  ist die Ich-Erzählerin Friederike Andermann, genannt Fred. Sie ist Botschafterin in Montevideo und schiebt dort eine ruhige Kugel, bis die Entführung und Ermordung einer deutschen Touristin, Tochter einer mächtigen Verlegerin, alles  durcheinander wirbelt. Sie wird in die „Zentrale“ zurückbeordert. Zwei Jahre später kommt sie als Konsulin nach Istanbul, wo die diplomtischen Geschäfte heikler und schwieriger sind. Die Inhaftierung von mißliebigen Journalisten und Regimegegnern mit Verbindungen nach Deutschland binden alle Kräfte, auch die des Botschafters Philip, einem alten Freund von Fred. Die willkürlichen Verhaftungen und Prozesse sind nicht wirklich was Neues für den Leser, die  diplomatischen Fäden und Überlegungen im Hintergrund schon. Die Autorin hat Insiderwissen und gut recherchiert. Wird der Diplomatenalltag  im ersten Teil „Montevideo“ noch sehr witzig, unterhaltsam und sprachlich gekonnt geschildert, verflüchtigt sich das im zweiten Teil „Istanbul“ zusehends und wird deutlich flacher. Vieles ist vorhersehbar.
Schließlich entschließt sich Fred gegen den ausdrücklichen Rat von Botschafter und Freund Philip, drei  von der Polizei gesuchte oder zumindest mit Ausreiseverbot belegten Dissidenten im selbstgesteuerten Auto (Philip: „Niemals das Auto selbst steuern“) zur Südküste zu fahren und zur Flucht nach Griechenland zu verhelfen. Unzweifelfhaft das Ende ihrer Karierre, was allerdings offenbleibt. Im letzten Kapitel
„Hamburg“  besucht sie ihre Mutter im Krankenhaus, die kurz zuvor aus einer brennden Küche gerettet werden musste. Die von der Feuerwehr aufgebrochene Wohnung weckt Erinnerungen von Fred an ihre früheste Kindheit im Osten, als sie die Wohnung und das Land auch pötzlich verlassen mussten. Ihre Mutter weiß auch nicht mehr viel, was der Grund war. „Geheimdienst, oder so“.
Das Ende wirkt reichlich konstruiert. Note : 3 ( ün) <<

 

>> Ja, die ersten Kapitel sind vielversprechend. Was uns die Ich-Erzählerin Friederike Andermann als neue Botschafterin in Montevideo mitteilt, führt in die kleine große Welt der Diplomatie. Zwischen Bratwürstchen-Einheitsfest, Krisenmanagement und Bettkante bewegt sich die inzwischen 50-jährige Protagonistin. Das jugendliche Latzhosenmädchen, Tochter einer alleinerziehenden Kellnerin, aufgewachsen im Hamburger Arbeiterviertel, Jurastudium, einen „Fast-Ehemann“, zwei Fehlgeburten, jetzt eine selbstbewusste Frau, die „auf den Wunsch nach Ehe und Familie keine Antwort wusste“, eine Karriere auch durch späten Quotenvorteil, Heimatbezug durch Mutters Holsteiner Schinken, die Alltagserfahrung eines Lebens zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Stationenhopping im diplomatischen Dienst, Bagdad, Montevideo, Zentrale, Istanbul, all das wäre Stoff für eine großartige Geschichte gewesen. Und gerade Freds Sozialisation ermöglicht auch großartige Einblicke in diplomatische Verkehrsformen: Repräsentationsrituale, Sprachregelungen (CYA), Verhaltensmuster zwischen der Zentrale und den Außenstellen, brillante Charakterisierungen von Partnerbeziehungen im diplomatischen Dienst (köstlich nicht nur der MAP), Aufstieg einerseits, Verkümmerung anderseits, Altersruhesitz Südfrankreich oder Uckermark, ein Schmankerl die Leopardenfell-Prüfung oder in Ankara die „Honigdiplomatie“! Stattdessen rücken zunehmend Spannungspotentiale ins Zentrum. Die Stärke der Montevideo-Episode liegt im exemplarischen Detail: Ein Polizeipräsident-Macho wie Hector, Vertraulichkeit zwischen Alkohol und Mate-Tee, Gastgeschenk Solartaschenlampe, die Nazienklave und das kärgliche Eventmanagement einer deutschen Botschaft zum Jahreshighlight deutscher Wiedervereinigung, all das atmosphärisch dicht und sprachlich gekonnt. Doch dann tischt die Autorin auf, was das Unterhaltungsgenre fordert: Drogendealer entführt Tochter einer einflussreichen deutschen Zeitungsverlegerin, will Kontakt zu seinem in Deutschland lebenden Kind erpressen, dreht durch, ermordet Tamara Büscher. Die logische Folge Aktionismus im Krisenstab der Zentrale, natürlich auch das BKA involviert, da der Druck der Zeitungszarin groß. Am Ende steht zwar nicht die von ihr geforderte Schließung der Botschaft, aber die Versetzung Freds in die Zentrale. Dass Montevideo dann auch noch auf Anweisung „der Büscher“ das kurzfristige Aus für einen Journalisten und „Partyschreck aus Uruguay“ (85) bedeutet (zurück in die Lokalredaktion), ermöglicht jene Istanbuler Fred-Daniel-Beziehungsgeschichte, die zum schwächsten Teil des Romans führt. Zentral dagegen die politische Botschaft der nachfolgenden Handlung, die die aktuelle Situation der Presse in der Türkei beleuchtet. Willkürverhaftungen, Informationskanäle des türkischen Geheimdienstes (MIT), Investigativ-Journalismus unter Lebensgefahr, die Strukturen eines korrupten Justizapparats am Beispiel der Meral-Baris Geschichte. Aber eigentlich für die informierten Zeitungsleser auch nichts Neues. Hier werden Fred als Konsulin in Istanbul und Philipp als Deutscher Botschafter in Ankara, zu empathischen Akteuren, die gar die Grenzen der Diplomatie sprengen. Für mich mit dem happy-end einer doch recht platten Fluchthelfergeschichte etwas zu viel des Guten. Doch damit nicht genug: Die Schlusskapitel mit dem Schauplatz Hamburg präsentieren ein privates Wiedervereinigungspathos (Mutter, Tochter, Daniel), bei dem zu wünschen gewesen wäre, dass die Fernbedienung bei der Übertragung des Tags des Deutschen Einheit versagt hätte. Dann hätten wir auch nicht erfahren müssen, dass Schwarzrotgold jetzt nur noch schlapp weht statt knattert.

Die Entschlüsselung des doch recht kryptischen Stasi-Geheimdienstbezugs gelingt vielleicht einem mir bekannten Leser durch die ihm vertraute Kontaktaufnahme mit der Autorin. Note : 3 – ( ai) (schade, der „Roman“ hätte Potential)<<

 

<< Die Diplomatin ist Fred, eine maskulin harsch bestückte Friederike. Karrierebewusste Botschaftermentalität mit steter Sicht auf die Berliner Zentrale. Anfänglich Montevideo, Uruguay. Das Land, in dem die Friedlichkeit die Gedanken zum Erliegen bringt. Die Restsedierung erfolgt im Mekka der Rindersteaks durch den über allem schwebende Grillkohlestaub. Goethe und seine Statuen werden hier nicht gehuldigt, sondern nur von Hunden bepinkelt. Freds Aufgabe erschöpft sich darin Deutschland zu sein. Zum Tag der Deutschen Einheit kontert sie vorschriftsmäßig mit dem legendären Kulturhöhepunkt: Bratwürste urdeutscher Machart. Doch dann wird ein deutsches Verlegermädel ermordet, man kann nichts tun, Fred wird versetzt, mausert sich später zu einer innerlich bewegten Fluchthelferin als Konsulin in Istanbul und trifft letztendlich im Halbschatten der alternden Mutter in Hamburg einen David, den sie – ergänzend zu ihrem zweiten Ehemann – liebhaben kann. Dann ist fertig. Dazwischen erheiternde Passagen einer kaltschnäuzigen Mannsfrau , die zur Fraufrau wird. Satirisch-reale Einblicke in Diplomatiefacetten, türkische Staatswillkür und über allem die wenig geglückte Metamorphose-Darstellung eines gefühlsarmen Weibes, das zum teilempathischen Charakter changiert. Zwar ist der Leser der Protagonistin stets auf den Versen, doch wird es ihm schwer gemacht, ihre handwerklich dürftig in Szene gesetzten Entwicklungen nachzuvollziehen.

Fred ist 50, beginnt gerade in Uruguay Netzwerke aufzubauen, als die extrovertierte Tochter der einflussreichsten deutschen Verlegerin von einem polizeibekannten Kleinkriminellen entführt wird. Er möchte seine in Deutschland bei der getrennten Ehefrau lebende Tochter sehen. Liebe macht unberechenbar. 200 km weiter findet man Tage später die Leiche der Verlegertochter – jedoch ohne eine Spur des Täters. Die Medien sind voll von der Tat, Fahndungsmisserfolgen und nationaler Rufschädigung. Der Tourismus bricht ein. Die deutsche Botschaft gerät in einen desaströsen Abwärtsstrudel. Zur Stimmungsaufhellung wird Fred zwei Jahre in das Berliner Krisenzentrum versetzt, wo sie in abgedunkelten Räumen auf Tsunamis, Vulkaneruptionen und Bürgerkriegsausbrüche wartet, um deutsche Staatsbürger evakuieren zu können.

Die Wiederauferstehung von Fred als Konsulin wird in Istanbul inszeniert. Unzählige Oppositionelle sind der Erdogan Justiz bereits zum Opfer gefallen. So auch die deutschkurdische Historikerin Meral. Seit Monaten in Untersuchungshaft versucht deren deutscher Sohn Baris sie zu besuchen, gerät jedoch sofort in die Fänge des Polizeistaates. Ein Ausreiseverbot wird verhängt. Zusammen mit dem deutschen Botschafter aus Ankara, dem diplomatischen Justizveteran Christof und einer nahkampferprobten Rechtsanwältin zeigt man hektische Präsenz beim Prozess gegen Meral. Überraschend wird sie – auch bedingt durch das große Medieninteresse –  freigesprochen. Verdeckt soll sie sofort abgeschoben werden. Am Flughafen gelingt es gerade noch, desorientiertes Wachpersonal von ihrer Freilassung zu überzeugen. Nun gerät der Plot irgendwie ein bisschen albern – aber schön, dass alles noch einmal gutgegangen ist.

Um einen Zusammenhang zum isolierten Uruguay Abschnitt herzustellen, muss schließlich der Reporter David wieder auftauchen, den Fred bereits in Montevideo als Abgesandten der rachesüchtigen Verlegerin kennenlernte. Statt Angst provoziert die Begegnung diesmal jedoch Liebe. Gegen später werden beide sich im gegenseitigem Einverständnis die Kleider vom Leibe reißen. Aber ach! Der noch lahmende Spannungsbogen soll noch einmal nachgeschärft werden, weshalb jetzt auch David ins Visier des türkischen Staatsschutzes geraten muss. Seine Wohnung wird durchsucht und verwüstet. Fred gewährt ihm im Konsulat Unterschlupf, Pizzahälften und sanfte Berührungen. Mit einer Prise Emotionen verschnauft das Geschehen, holt dann aber zum finalen Paukenschlag aus: die Putzfrau vermittelt einen Enkel, der mit seinem kleinen Motorboot Meral, Baris und David von der türkischen Küste zu einem rettenden griechischen Eiland schippert (3 km Luftlinie). EU-Land, Freiheit, Rechtstaatlichkeit. Ein liebliches Episodenende. Geht doch.

Zu guter Letzt dann noch was ganz Persönliches. Die betagte Mutter von Fred ist gestürzt. Fred eilt also zügig heim, trifft in Hamburg erneut David – auch ins Herz. Und wird von dessen Verlegerin freundlich gegrüßt. Selbst Rache kann in diesem Setting zuverlässig befriedet werden.

Nur eine Frage bleibt offen: Warum wird im Roman nicht auch mal Sauerkraut gegessen?  Note: 3 – (ur) <<

 

>>  Montevideo. Im ersten Satz des Romans „knatterte die deutsche Fahne im Wind.“ Im letzten Satz in Hamburg „wehte schlaff die deutsche Fahne im Wind.“ Ein windiger Wink der Autorin Lucy Fricke für die Einordung des Romangeschehens? Ich bin nicht sicher, was sie gemeint haben könnte. Die Autorin gewährt uns überzeugende und tiefe Einblicke in den diplomatischen Alltag, schreibt mit Humor und trockener Ironie, der besonders in den zahlreichen Dialogen besticht.  Da spielt sie in einer ganz anderen Liga als zum Beispiel unser letzter Autor  Fitzek (Elternabend).
Die „diplomatische“ Taktik „Cover your ass“ (CYA) findet sich allerdings nicht nur im Diplomatischen Dienst. Die enge Zusammenarbeit zwischen türkischen und deutschen Geheimdiensten finde ich skandalös. Leider muss man davon ausgehen, dass hier nicht übertrieben wird. Mesale Tolu hat diesbezüglich im Weltethos-Institut über ihre Inhaftierung in der Türkei berichtet. Vielleicht hat ihr Fall die Autorin auch etwas inspiriert.
Zum Schluss ein paar Sätze, die mir besonders gut gefallen haben:

„Es gab Liebe, die war so rational, dass sie durch nichts zerstört werden konnte.“ (S.22) Der Satz bezieht sich auf Ehepaare im Diplomatischen Dienst.

„Deutsche Touristen waren ein Elend.“(S.27).

„Wer die höchste Strafe verhängt, steigt auf.“ (S.125)  Über die türkische Justiz.

Insgesamt ein spannendes und lohnendes Buch, auch wenn der Schlußteil etwas aufgesetzt rüberkommt.  Note : 2+ ( ax) <<