Small World – Martin Suter

Diogenes, 1997 – 324 Seiten

>>            Bemerkenswerter Roman für eine gerontologisch voranschreitende Gesellschaft. Die Alzheimer Erkrankung wird ernst und zugleich unterhaltend beleuchtet. Dabei ist das Plotgerüst aus kriminologischen Stangen aufgestellt. Einfache Sprache kontrastiert mit einer ausgeklügelten inhaltlichen Schachtelung. Am Ende steht die unorthodoxe Auf– und Erlösung. Dem Protagonisten Konrad Lang wird durch Verwerflichkeit anderer das wahre Leben geraubt. Mit progressivem Gedächtnisverlust büßt er es ein zweites Mal ein. Und gerade das schenkt ihm ein neues Dasein und erhellt das vorangegangene.

Konrad Lang (63) ist Verwalter und Hausmeister des Kochschen Feriensitzes auf Ibiza. Seine ersten Anzeichen von Alzheimer werden deutlich, als er fälschlicherweise die repräsentative Villa in Brand setzt. Er hatte einen Holzstapel neben statt im Kamin entzündet. Die Kochs – unter strenger Führung der alten Unternehmergattin Elvira – internieren den hilflosen Mann in einer Mietwohnung unweit ihres Wohnsitzes in der Schweiz. Aus einem unverstandenem Grund fühlen sie sich verantwortlich.

Konrad versucht sich zwischen bescheidenen Ritualen von Mittagessen in der Sozialstation, Alkoholsucht und wenigen Sozialkontakten einzurichten. Bis Rosemarie Haug in sein Leben tritt und eine rührige Seniorenliebe entfacht. Rosemarie bestärkt ihn in seiner Selbstfindung, gibt ihm ein neues Wertgefühl und die Kraft, dem Alkohol zu entsagen. Am schwersten wiegt die Loslösung von der dominierenden Familie Koch. Ein Leben lang war er als Sohn einer angeblichen Freundin des Hauses integriertes Mitglied der Familie. Als solches war seine ihm zugeschriebene Rolle die des Spielgefährten und Adjutanten des Chefsohnes Thomas Koch. Nun, parallel zur voranschreitenden Loslösung von der Familie, hat er das Gefühl, zum ersten Mal in seinem Leben einen ihn erfüllenden und selbstständigen Platz einzunehmen.

Tragischerweise schreitet die Demenz so weit voran, das sie letztlich die erhoffte Ehe mit Rosemarie unmöglich macht. Er findet nicht mehr aus dem Supermarkt heraus, vergisst den eigenen Namen, trocknet vollgenässte Wäsche im Backofen. Eines nachts verläuft er sich im verschneiten Forst. Man findet ihn, doch sind drei Zehen abgefroren. Er wird stationär eingewiesen. Er entgleitet sich selbst.

Eine zweite Frau, die er als solche jedoch kaum noch wahrnimmt, tritt in sein Leben. Simone Koch (23). Als frustrierte und betrogene Gattin des designierten Familienoberhaupts Urs Koch (28) bietet ihr der samariterhafte Einsatz für Konrad die Möglichkeit, sich in der Familie zum ersten Mal zu behaupten. Sie holt Konrad aus der geschlossenen Klinik und richtet ihm auf dem eigenen Anwesen eine perfekt eingerichtete Sozialstation mit ausgebildetem Personal ein. Videokameras helfen, Konrad vor gefährlichen Dummheiten zu bewahren. Gerne würde sie Konrads Erinnerungsvermögen mit Bildern aus der Kindheit stabilisieren, doch verweigert die Hausherrin und Schwiegermutter die Alben. Simone kopiert kurzerhand die Erinnerungsstücke und beginnt mit Konrad eine geduldige Gedächtnistherapie. Konrad formuliert erstaunliche, wenn auch rätselhafte Zusammenhänge, die vermuten lassen, dass die öffentlich bekannte Familiensaga verfälscht wurde. Auch der Hausherrin bleibt dieser Erkenntnisprozess nicht verborgen. Ihre hochgradige Verunsicherung treibt sie schließlich zu einem Mordanschlag. Sie infundiert Konrad eine Überdosis Insulin. Konrad kann knapp dem Tod entgehen, während die Hausherrin prompt durch Videoaufzeichnungen belastet wird.

Der Schuld überführt, suggeriert Elvira den zukünftigen Kocherben, dass sie ihr Erbe verlieren werden, sollte der Mordversuch publik werden. Nachforschungen würden dann ergeben, dass Thomas Koch in Wirklichkeit der Sohn von Elviras Schwester sei und Konrad ein leiblicher Sohn aus erster Ehe von Elviras verstorbenem Gatten. Elvira gesteht, dass sie und ihre Schwester den alten Koch durch eine Überdosis Insulin ermordet hätten. Durch ein Stilllegen des Haussitzes samt Personal verbunden mit einer langen Abwesenheit, wäre es den Schwestern gelungen, die Spuren zu verwischen. Den beiden kleinen Buben wäre durch einen bewusst verwirrenden, gemeinsamen Mutter-Mutter-Sohn-Sohn Alltag ein verändertes Familienbewusstsein eingetrichtert worden. Elvira wäre zur Mutter von Thomas, die Schwester zu Konrads Mutter geworden. Das Vertauschen der Kinder hätte Elvira ermöglicht, Thomas, den Sohn ihrer Schwester, zum Alleinerben des Koch Imperiums zu machen. Tatsächlich lassen sich Konrads diffuse Erinnerungsäußerungen so deuten. Wenn der Leser durch diese Verschachtelung in der Verschachtelung nicht nachhaltig verwirrt wurde, wird er ahnen, dass diese Darstellung erlogen ist.

Weil sie mit den zwei Insulinanschlägen hochgradig belastet bleibt, sieht die Hausherrin nur den Ausweg, aus dem Leben zu scheiden. Der folgende Suizid bleibt jedoch als solcher unerkannt, geht er doch in einem tödlichen Autounfall unter.

Am Ende durchschlägt der auktoriale Erzähler den gordischen Knoten der Familiensaga. Elvira war zunächst Hausmädchen bis sich eine Liaison zwischen ihr und dem verwitweten Koch entwickelte. Koch war Vater des kleinen Thomas. Die verschlagene Elvira (19) erwirkte die Ehe mit dem alkoholsüchtigen Witwer (57). Elvira hatte inzwischen ihre Schwester mit deren vermeintlichen Sohn Konrad ins Haus geholt. Tatsächlich war Konrad der aus einer Vergewaltigung hervorgegangene Sohn von Elvira selbst. Nachdem die damals 14-jährige schwangere Elvira aus ihrem Heimatdorf verwiesen worden war, war der älteren Schwester der neugeborene Konrad angehängt worden. Im neuen Domizil der Kochs angekommen, eigneten sich die beiden Schwestern die schönreiche Unternehmerwelt kaltblütig an, indem sie schon ein Jahr nach Elviras Hochzeit dem alten Koch eine Überdosis Insulin verabreichten.

Wie allen anderen bleiben auch Konrad diese Hintergründe verborgen. Literarisch folgt der Lichtung der Familientragik eine Aufhellung des Krankheitsverlaufs. Als schließlich ein forschender Neurologe Konrad eine noch nicht zugelassene anti-plaque Therapie ermöglicht, kann das Fortschreiten der Degeneration gestoppt werden. Sogar regenerative Besserungen deuten sich an (seien wir großherzig – ein wenig Kitsch muss erlaubt sein).

Ein Roman, der dem Vergessenen die Kraft des Erinnerns verleiht. Note: 1 – ( ur)<<