Bibliothek Suhrkamp 1974 , 238 Seiten .
Er saß vor dem Baum. LED Lämpchen streiften seinen Blick. Der kleine Hund war der Jungfrau ganz nahe, wäre da nicht das silbrige Nordmanntannengezweig. FISKALKLIPPE VERHIN- DERT; JAPANS AKWS WIEDER ANS NETZ. Er legte das Tagblatt beiseite und beobachtete die lila Rillen des Tretford, Auslegeware der Firma AR0. Wieder einmal liefen ihm seine Figuren davon, flatterhaft, beziehungslos, sie verblassten, lösten sich auf, Worte nur, sein Manuskript auch an diesem Tag eine einzige Melancholie des Scheiterns. Und dann dieser Abend. Wenigstens das Tiramisu war ihm gelungen, aber was bedeutete das schon angesichts der drohenden Niederlage im Kampf um die Deutungshoheit des Begrifflichen. Drohte erneut Versagen? „Es ist meine Schuld, dass ich nicht eingegriffen habe“. Warum habe ich Günter nicht unterstützt als es darum ging den Mohren zu retten?“ Max wäre der richtige gewesen ans Glas zu klopfen und „Halt“ zu rufen. Zurück zu den Wurzeln, der Kolonialismus ist der Nekrolog auf die Diskursivität. Schon Theodor W. hatte das ausgesprochen, aber wer von denen, die hier aus den riegelepigonalen Gläsern schlürften, hatte den im Augenblick noch auf dem Schirm. Am wenigsten Max, dessen Zunge sich im wohlgeordneten Mundraum schon aufs Ellwanger Stamperle vorbereitete um dann den Applaus abzuholen, der an diesem Abend eigentlich Marianne zugekommen wäre.“ Die Vorspeisen im Arbeitszimmer, Hauptspeise bitte in der Küche.“ Charly griff zum wievielten Male zum Fachinger, die 13,6 % aus Günters Beständen verlangten auch Pausen. Er musste den Eindruck erwecken, als wäre ihm das alles nicht entgangen, was ging es ihn an, wenn dem der Rote schmeckte, hatten doch alle am Tisch das zimtig-johannisbeerhafte Bouquet gerühmt – Burkhard verstieg sich gar zur Bemerkung er spüre auf der Zunge einen Hauch Fuerteventura-Wind. Er dachte an den schwäbischen Konditormeister, der den Zartbitterschmelz über den steifen Eischnee goss, in der Hoffnung seine Creation suebe werde kulinarische Meilensteine setzen, ja, es gab da noch Unschuld. Das aber war Vergangenheit. Jetzt, da Jutta mit verhalten triumphierender Geste zum argumentativen Finale ansetzte und Günter, der es in mehr als 40 Dienstjahren gerade einmal zu zwei bis drei dunkelhäutigen 5ern oder 6ern gebracht hatte ins schwarze Migrationsabseits geschickt zu werden drohte, wäre eigentlich Rainers Stunde gekommen. Aber er wankte, jetzt die Trumpfkarte Belesenheit ausspielen, flankiert durch die glorreichen Zwei des LQ – oder waren die durch Stewardess Anekdötchen oder postlyrische Insuffizienz schon zu sehr in Beschlag genommen – das brächte den nötigen Auftrieb, der dem schon etwas abflauenden Wortgefecht neuen Schwung verliehen hätte. „Der Neger und amerikanische Bürger Washington Price“ etwa, war er hier eine Hilfe? Edwin, der sich noch in der Stunde bevor Benes, Schorschis, Kares und Sepps Fäuste flogen zugleich als Sokrates und Alkibiades wähnte, nachgoetheanischer Brückenbauer zwischen den Kulturen – ein Hoffnungsschimmer? Susanne, die Odysseus, jetzt nachdem Bahama-Joe im Köfferchen verstummt war, nach dem “ Besuch im Negerclub“ gefickt hatte – er hatte sich nochmals vergewissert nicht er sie – war es erotische Verzweiflung oder dem erzherzoglichen Bettstümper geschuldet. „Carlas Negerkind“ oder „die schwarze Hand des Negers und die gelblich schmutzigen Hände der Griechen beim Würfelspiel“, nein, die „Tauben im Gras“ waren brüchiges Terrain beim Abbau von Ressentiments zumal gerade jetzt, wo ganz in der Nähe dem Sirenengeheul eines Polizeiwagens, wahrscheinlich ein kleiner Auffahrunfall, nur uniformierte Beamte des mittleren Dienstes mit Landeswappen und keine forschen schwarzen Militärpolizisten –„Die Militärpolizisten waren besonders große, besonders schöngewachsene Neger…Sie sahen wie nubische Legionäre des Cäsar aus“ entstiegen. Rainers von Koeppen alleingelassener hohler Blick fiel auf Meese. Günters schwarz Aluminiumumrahmter, vielleicht könnte der das Blatt wenden, dem Mohren, wenn nicht zum Siegen zu verhelfen, so ihn doch wenigstens nicht ganz ins Nirwana der Sprachlosigkeit zu verbannen. Meese, nein, er rührte sich nicht, er hing einfach da, als ginge ihn das ganze nichts an. Er litt nicht am Mohren, der mit dem eisernen Kreuz litt an der Kunst, wieder andere an ihm. Kein Badenweiler Marsch forderte jetzt zum Hauptgang auf, aber auch Dr. Behude hätte eine kleine Atempause verordnet, jetzt da sich das Schlachtfeld aufs Kulinarische verlagert hatte. Die Teller und nicht Obermusikmeister Behrend gaben fortan den Ton an.
Die LED-Lämpchen malten ins Nordmanntannenfirmament noch immer die Begegnung von kleinem Hund und Jungfrau, jetzt aber unbemerkt von einem weggesackt sanft schnarchenden Körper: eine Szenerie friedlich und unbeeindruckt vom Mohren und ganz frei von Schuld, wenn da nicht nur Rainers Manuskript gewesen wäre. R.S. 30.12.12
>> Zwei Dutzend Bürger irren wie Tauben im Gras durch diesen einen Tag im Nachkriegs München, gefangen zwischen den Trümmern der Geschichte und ihres Ichs. Auf der Suche nach Geborgenheit und den Anschluss an den zivilisatorischen Fortschritt anderswo verpfänden sie ihre kleinen Seelen und glänzenden Habseligkeiten. Eingeklemmt in die zeitlosen Verstrickungen schaler Liebe, nackter Habgier und ewiger Eitelkeit rebellieren sie und finden nur Nervenärzte, ausgegrenzte Weggefährten und eine leicht entzündliche Volksseele. Der Augenblick ist voller Scherben. Die Hoffnung ist, dass die Zeit irgendwann mit intaktem Porzellan überraschen wird.
Koeppen malt in seinem Roman ein atemloses Stillleben, das er mit einem Staccato einander hetzender Attribute für einzelne Begriffe literarisch inszeniert. Entsprechend ist dieses Unruheleben umherirrender Menschen in der Darstellungsform gespiegelt. Oft ohne erkennbare Übergänge und nie in Kapitel gruppiert werden die Erzählabschnitte verbunden. Reich, aber auch kräftezehrend zögern Sätze ihr eigenes Ende hinaus und fordern vom Leser eben jene Geduld, die ansonsten dem Inhalieren von Lyrik vorbehalten ist. Anfangs irrt der Leser wie die Protagonisten zwischen den ungeordneten Versatzstücken umher: ein vom Papagei gehasster Phillip, ein sein Hemd schließender Dr. Behude, eine in die Tür tretende Emilia, ein unter zu kühlem Badewasser leidender Edwin … Nach den einleitenden Irrungen in Koeppens Roman nimmt man dann umso dankbarer sich allmählich schließende Kreise wahr.
Phillip entpuppt sich als eigenbrötlerischer Redakteur mit zum Reflex verkommenden Besuchen beim Psychiater Behude. Dr.Behude versucht vergeblich Phillip in einen mentalen Ruhestand und sich selbst mit infantil-erotischen Fantasien über Phillips Frau Emilia in Erregung zu versetzen. Emilia leidet nicht nur darunter, dass die totale Inbesitznahme von Phillip scheitert, sondern auch, dass ihr die kriegsbedingte Mittellosigkeit ein pompöses Leben verwehrt. Gerade dafür müssten die Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen werden. Mit dem Erlös verpfändeter Wertstücke ertränkt sie ihre Entbehrungen im Suff. Ein kleines erotisches Glück gewährt ihr lediglich die amerikanische Junglehrerin Kay, die aus ihrer biederen Reisegesellschaft ausgebrochen ist. Gemeinsam erleben sie den öffentlichen Auftritt des amerikanischen Schriftstellers Edwin. Da Kay dem berühmten Denker Edwin nicht nahe kommen kann, wendet sie sich an den anwesenden Phillip, den sie fälschlicherweise für einen deutschen Dichter oder zumindest den Freund von Edwin hält. Edwin entpuppt sich wider Erwarten nicht als Vordenker des Freiheit-stiftenden Amerika. Sein nebulöser Vortrag mit Betonung der abendländischen Kultur ist gänzlich unverständlich. Infektiöse Müdigkeit breitet sich bei den Zuhörern aus, der vor allem Schnakenbach zum Opfer fällt. Schnakenbach hatte sich zu Kriegsbeginn mit Pervitin wochenlang schlaflos gehalten, um durch den körperlichen Verfall der Rekrutierung zu entgehen. Nachdem er seinen Schlaf dem Krieg opferte, fordert jetzt der Frieden den Schlaf zurück und versetzt Schnakenbach in einen chronischen Dämmerzustand, in dem auch ein abendländischer Goethe keine Erweckung mehr vollbringt – symptomatisch für eine Epoche.
Unbemerkt von den Ermüdeten im Inneren vollzieht sich draußen das Hässliche. Dem schwarzen amerikanischen Soldaten Odysseus stiehlt die deutsche Nutte Susanne das Geld. Im folgenden Aufruhr fällt die deutsche Meute über Odysseus her– nicht anders als es in seiner freiheitlichen Heimat Baton Rouge geschehen wäre. Als auf der Flucht der kleine deutsche Nazimitläufer Josef erschlagen wird – von Odysseus oder einem Stein der Meute ? – ist der Volksseele klar, dass das alliierte Negerpack auch den deutschen Buben Heinz ermordet hat. Tatsächlich versucht Heinz, dem amerikanischen Jungen Eszra Dollarnoten zu entreißen, wobei beide von einer Ruinenmauer stürzen, aber unverletzt bleiben. Als vermeintlichen Mörder macht die entbrannte Masse den schwarzen Baseballspieler Washington aus. Zufällig ist er mit der weißhäutigen Clara im gleichen Club, wo Odysseus bestohlen wird. Hier zerbricht für Washington zweimal ein Versöhnungstraum: der zwischen den Rassen und jener zwischen ihm und Clara. Sehnsüchtig wünscht er das noch ungeborene Kind mit ihr, doch Clara will nur seinen Schokolade-spendenden Wohlstand, nicht aber seine „Brut“. Doch auch diese Wünsche zerrinnen blutig unter der Steinigung des aufgebrachten Pöbels, der Mutter mit Kind zum Opfer fallen.
Als Spiegel des Nachkriegs-Deutschland malt der Roman ein abgedunkeltes Bild mit verfinsterten Charakteren. Selbst die Jugend ist verroht oder wird zu Wesensverformungen gezwungen wie die kleine Hillegondo, die hilflos nach Schuld in sich sucht, nachdem ihre puristische Kinderfrau Emmi ihr den allmächtigen, strafenden Gott vorhält. Andere laden Schuld auf sich oder sind schicksalsverhaftet so gezeichnet, dass man ihnen die ausbleibende Läuterung nachsieht. In diesem Licht wird auch der Literaturbetrieb beleuchtet: gescheiterter Autor Phillip, nichtssagender Schriftsteller Edwin, der von vier Schlägern liquidiert wird, Affekt-haschende, Dichter-suchende Lehrerkolleginnen, oder der symbolträchtige Papagei, der sogar das stupide Nachäffen von Edwins Texten aufgibt. Ein nicht uninteressanter Roman, jedoch in gewöhnungsbedürftigem Duktus, der nicht jedermanns Begeisterung erntet.
Note: 3 (ur)<<
>> Zugegeben, es ist nicht einfach den Überblick über alle handelnden Personen zu behalten. Abrupte, übergangslose Wechsel der Szenarien machen das Lesen wirklich mühsam. Wie die Trümmer, die im Nachkriegsdeutschland des Jahres 1950 noch allerorten herumliegen, wirft uns Koeppen die Splitter menschlicher Existenzen vor die Füße, die sich allerdings nach und nach zu einem großartigen Kaleidoskop dieses einen Tages zusammenfügen, in dem sich alle grundlegenden Fragen des Lebens fokussieren. Note: 2+ (ün)<<
>> MRR, der sogenannte Literaturpabst, nennt Koeppens Roman „herrlich“. Das macht dann schon mal neugierig. Ein Tag in der Nachkriegszeit mit vielen vielen Personen, von denen sich viele in der wahren Bedeutung des Wortes irgendwann über den Weg laufen. Über hundert Sequenzen, die von Zeitungsüberschriften unterbrochen werden. Trotz des vielen Personals kann man nicht sagen, dass Koeppen ein Panorama der Nachkriegsgesellschaft beschrieben hätte. Er beschränkt sich auf ein, zwei Milieus. Insgesamt viel viel Bewegung. Oft scheint sie ziellos. Leben und Tod verwischen, wenn todbringende Steine durch die Luft fliegen. Es bleibt offen, wer sie geworfen hat. Hat der Autor einen Augenblick lang auch an die Leserin, den Leser gedacht? Sicher, man könnte sagen, ohne Anstrengung kein Genuss, aber dieses Buch fand ich im wesentlichen nur anstrengend. Als auch am Ende immer noch kein Genuss aufkommen wollte, war ich enttäuscht. Hätte der Verlag nicht eingegriffen, hätte Koeppen den Roman ohne Punkt und Komma geschrieben, im Endlosfluss. Hätten sie ihn doch machen lassen.
Was ich über sein Leben gelesen habe, macht ihn mir sympathisch. Seine Tauben weniger. Dann doch lieber einen bescheidenen Lese-Spatzen in der Hand. Note: 3 (ax)<<