Der lange Marsch – Rafael Chirbes

K1024_Der lange Marsch

Verlag Antje Kunstmann 1998  | 320 Seiten.

>> Ein langer Marsch von zwei Generationen durch die Nachkriegszeit (in Spanien beginnt sie im April 1939) bis in die siebziger Jahre, als der antifranquistische Widerstand insbesondere an den Universitäten intensiver wird.
Sechs über die iberische Halbinsel zerstreute Familien aus unterschiedlichen sozialen Schichten werden in kleinen Kapiteln vorgestellt. Meist kämpfen sie ums Überleben als Tagelöhner, Straßenhändler oder Schuhputzer,  aber auch eine Großgrundbesitzerin aus der Estremadura   „marschiert“ mit. Der Roman könnte auch „Sieger und Besiegte“ oder „Vater und Söhne“ heißen, wenn die Titel nicht schon, Sie wissen ja was. Chirbes schildert keine großen Heldentaten, er beschreibt Gefühle, Abschiede, Erfahrungen auf dem Hintergrund von Familiengeschichten. Die Protagonisten standen mehrheitlich auf Seiten der Republik und haben sich jetzt auf unterschiedliche Weise arrangiert.
Die vielen Fäden aus dem ersten Teil des Romans vernetzen sich nach und nach in den 1960/70er Jahren in Madrid, wo die die Kinder am Aufbruch der europäischen Jugend teilnehmen. Dabei werden Gräben zwischen den Generationen sichtbar. Die jüngere Generation riskiert mehr und einige landen in den Folterkellern der Geheimpolizei an der Puerta del Sol.
Der Roman hatte, Reich-Ranicki sei’s gedankt, in Deutschland mehr Erfolg als in Spanien. Vielleicht hängt dies aber auch damit zusammen, dass die Bereitschaft sich mit der Franco-Diktatur auseinanderzusetzen in Spanien -ähnlich wie in Chile- nicht sehr ausgeprägt war und ist. Note:1/2 ( ax) <<

>> In kurzen Kapiteln nebeneinander gesetzt großartig erzählte Geschichten von Familien unterschiedlichster Milieus während des Francoregimes. Verwerfungen infolge des Bürgerkriegs, Gewinner und Verlierer, die lauernde Allgegenwart der Guardia Civil. In wenigen Bildern werden Landschaften lebendig, ein galizisches Dorf, die Estramadura, beide eher Heimat und Geborgenheit im Gegensatz zu Salamanca oder Madrid, Schauplätze eher des Unbehausten, des Fremden, aber auch des Aufbegehrens einer jungen Generation. Nicht die wenigen Erfolgsgeschichten des Großbürgertums, durch Anpassung ermöglicht (Sesena und Beleta Clan) sind erwähnenswert, sondern die menschlichen Tragödien. Der „zivile Tod“ des einst brillanten Chirurgen Don Vicente Tabarca, das Schicksal Pedro del Morals mit seinen so unterschiedlichen Söhnen, die Familie José Pulidos, deren Überleben einzig die „Bäcker-Lösung“ sichert – drei Beispiele nur, die berühren und zeigen, dass dieser Autor ganz sensibel einen Einblick in Seelenzustände zu geben vermag, die fesseln. Mit der Generation der Kinder werden die zunächst eher disparaten Geschichten im zweiten Teil des Romans zusammengefügt. Dass dabei außer der proletarischen Variante Gregorio die Kinder aller sozialen Milieus sich in der „Alternativa Comunista“ unter dem Banner Intellektualität und Rebellentum zusammenfinden, wirkt doch sehr konstruiert. Überzeugender als der politische Aktionismus der jungen Generation, es fällt zuweilen schwer das zunehmende Figurenarsenal zuzuordnen, ist die Empathie mit der der Erzähler etwa die Entwicklung José Luis beschreibt: die Vaterbindung, das Internat als Ausweg und tiefste Erniedrigung zugleich, die Bedeutung von Männerfreundschaft, erotische Zerrissenheit, Eifersucht, Politisierung, existentialistischer Lebensentwurf und daneben die Bruder Angelgeschichte als gescheitertes tragisches Gegenmodell.  Überzeugend auch die Entwicklung der Vater-Tochter Beziehung Don Vicentes zu Helena. Der überlebende Rebell, seine Ängste um die Gefährdung der aufbegehrenden Tochter, die Bücherverbrennung als Verzweiflungsakt. Auch er kann den langen Marsch, der in den Gefängnissen des Franco-Regimes endet, nicht aufhalten.

Bedürfte es eines Beweises, dass Chirbes ein großer Erzähler ist, ich wählte eine nur drei Seiten lange Episode, die einzigartig ist: Die Geschichte des angefahrenen Hundes. Note: 2 (ai)<<

>> Im ersten Kapitel „Das Ebro-Heer“ stellt Rafael Chirbes in 25 wunderbaren, kleinen Geschichten seine Protagonisten vor. Menschen aus der Provinz, der Extremadura oder aus Galizien. Raul Vidal etwa, den Lokführer aus Bovia, der mit fast 50 noch unerwartet einen Sohn bekommt und seine beiden Söhne schließlich allein großziehen muss, das seine Frau bei der Geburt des letzten Sohnes stirbt. Raul Vidal war wie sein Bruder Antonio bei den Republikanern und beide saßen nach dem Krieg deshalb im Gefängnis. Antonio sehr viel länger als sein Bruder, der ihn in dieser Zeit im Gefängnis unterstützt und über Wasser hält. Nach der Haftentlassung schlägt sich Antonio sehr rasch auf die andere Seite zu den Falangisten, was zur Entfremdung mit seinem Bruder Raul führt. Antonio heiratet sogar in eine einflussreiche, stramm francistische Familie hinein und stellt so ein Musterbeispiel eines opportunistischen  Emporkömmlings dar, während Raul Vidal seiner Gesinnung treu bliebt und so in seinem kargen Leben verharren muss.
Oder die großartige Geschichte des Schuhputzers Pedro del Moral aus Salamanca mit seinen beiden ungleichen Söhnen Angel und Joe Louis,  der an die Kraft der Namen glaubt. Pedro kehrt nach dem Krieg als Sieger zurück mit Empfehlungsschreiben und dem Versprechen seiner Vorgesetzten, eine wundervolle Nachkriegszeit zu erleben. Voller Hoffnung zieht er mit seiner Familie auf der Suche nach einem besseren Leben aus Fuentes de Esteban nach Salamanca und muss dort ernüchtert feststellen, dass er nur einer unter vielen ist, die mit den gleichen oder besseren Beziehungen das gleiche wollen. Die Bürde seiner bäuerlichen Herkunft wird ihm schmerzlich bewusst und so träumt er sich in eine glänzende Zukunft für seinen Sohn Angel als Boxer. Sehr berührend auch das Schicksal seines empfindsamen Bruder Joe Louis, der im Internat unmenschlich gedemütigt wird und sich später im Studium in Madrid in seinen Kommilitonen Raul verliebt.

Die Fülle der Namen in den Geschichten erschwert den Zugang etwas, zumal die Söhne oft die gleichen Namen tragen wie die Väter. Nach und nach verschränken sich die Geschichten um im zweiten Kapitel „ Die junge Garde“ schließlich zusammenzulaufen.

Chirbes ist ein großartiges Gemälde der spanischen Nachkriegsgesellschaft mit vielen kleinen Pinselstrichen gelungen, das von Enttäuschungen, Verrat, Liebe und Hoffnungen erzählt und die vielen Wunden und die Spaltung offenlegt, die der spanische Bürgerkrieg verursacht hat und dessen Folgen bis heute wenig aufgearbeitet sind. Note: 1/2 (ün) <<

 

 >> Chirbes schickt ein Ebro-Heer vielgestaltiger Unbekannter aus allen Teilen des ländlichen Spaniens auf einen langen literarischen Marsch, dessen Ende der Leser mit der Jungen Garde eine Generation später in der Metropole Madrid erlebt. Sternförming konvergieren Schicksale, Lebensanschauungen, Überzeugungen von Eltern und münden im politisch aufgeheizten studentischem Milieu der Söhne und Töchter. Allen gemeinsam sind Verlust von Gut und Gegenwart. Unvollendete Identitätsfindungen überschatten das grelle Licht der rissigen Sierra. Es ist der lange Marsch auf der Suche nach den besseren Standpunkten – für sich selbst und die gespaltene Gesellschaft. Am Ende jedoch lässt Chirbes das verzweifelte Stampfen der Füsse in den Folterkellern des um sich schlagenden Franco-Regimes verhallen: „Drinnen herrschte die Ewigkeit, die nach dem Augenblick kam, der vergangen war.“

Der Autor verzichtet darauf die Entwicklung des Landes unmittelbar zu beschreiben. Stattdessen bedient er sich der verwirrenden Unübersichtlichkeit von 30 Charakteren, die nicht nur ihre Geschichten leben, sondern kollektiv Geschichte schreiben. In einer langen Kette reiht der Autor tragische, tragikomische und triviale Lebensmomente aneinander, die aus gesellschaftlichen und ganz persönlichen Quellen der Protagonisten gespeist werden.

Bedrückend die tiefgründige Qual des Don Vicente Tabarca. Einst angesehener Mediziner, als Linksintellektueller von Falangisten entmündigt, zum Tode verurteilt, begnadigt und in die Namenlosigkeit entlassen. Jeder Autoscheinwerfer erweckt die Grauen der Erinnerung. Gerüche mahnen an den Gestank von in Viehwaggons eingepferchten Menschen, die öffentlich ihre Notdurft verrichten müssen. Es wäre für ihn würdevoller, zerfetzt hinter Barrikaden zu verbluten als seines Ichs beraubt zu sein. Nichts erscheint ihm schmerzvoller als in der Würdelosigkeit zu versinken.
Eine ganz andere Erniedrigung erlebt José Pulido, dessen nächtlicher Esskastanien-Schmuggel nicht ausreicht, die Familie zu ernähren. In der quälenden Not muss er in den Abendstunden die kleinen Söhne fortschicken, damit ihre Mutter sich der Geilheit des Bäckers unbemerkt opfern kann. Ihre offenen Brotrechnungen, die sie weder lesen noch bezahlen können, werden angeblich immer höher. Erst Jahre später offenbaren sich dem Sohn Gregorio die bitteren Hintergründe, warum ihm ewig der Bäckerling anhing.            Der Schuhputzer Pedro del Moral, ein Bekenner zu Hygiene und Glanz, lebt eine ausgeprägte Arbeitsethik. Selbst der Kindsbetttod seiner Frau kann den Strom seiner Hoffnung nicht trüben, mit der er fortan den zarten Sohn José Luis umsorgt. Seine Selbstachtung wird erst brüchig, als er willenlos den Anordnungen des Sergeanten folgt, eine Greisin und ihre Enkelin kahl zu scheren, um sie als angebliche Huren zu brandmarken. Weil er die Fäuste nicht erhebt, werden die Schläge, die sein ältester Sohn Angel als Amateurboxer austeilt, auch seine. Doch der Sohn will mit dem Vater nicht teilen. So ist es kein Zufall, dass der Vater sich beim ersten großen Sieg seines Sohnes allein betrinkt und erst wieder erwacht, nachdem ihm im Suff ein Zug die Beine abgefahren hat.
Die Kinder dieser Eltern folgen dem verheißungsvollen Ruf der Zeit ins Zentrum aller Dinge nach Madrid: Lehrling, Student, Agitationsführer, Liebhaber, Schwindler, Verwandlungskünstler, Schwuler, Wohngemeinschaftsanwärter, Freundschafts-verräter, Geheimbündler, Weltverbesserer, Enttäuschter und grenzenlose Optimisten. Die Trampelpfade und Prachtalleen vieler Schicksalswege kreuzen und verlieren sich. Die Junge Garde formiert sich mit neuen Lebensentwürfen. Ein Teil versteht sich im politischen Zusammenhang, sympathisiert mit sozialistischen Idealen, organisiert sich im Verborgenen oder agitiert offen vor Fabriktoren. Doch die Schergen der Franco-Diktatur bringen sie ausnahmslos zum Schweigen. Letztlich zeichnet Chirbes das hoffnungslose Bild eines Landes, welches in Willkür und Lethargie erstarrt.
Dennoch pulst in dem Werk der nährende Blutstrom eines vitalen Organismus, reihen sich poetische Passagen an hässliche Wahrheiten, überraschen Wendungen, nachdem ein Kapitel bereits abgeschlossen schien. Eindrückliche Beispiele reiht Chirbes‘ feinsinnige Fantasie in literarischer Großzügigkeit aneinander. Im Kapitel über das traumatische Internatsleben beschreibt er die unsäglichen Qualen, die den zarten José Luis zerfransen. Auf dem Höhepunkt lässt der Leiter José Luis seinen abgefangenen Verzweiflungsbrief an den Vater über Mikrofon allen Schülern vorlesen – nicht ohne die Sätze brüllend zu unterbrechen und ihn der Lüge zu bezichtigen. Auch hier schafft Chirbes die verblüffende Umkehr, als er am Ende des Kapitels den unerwarteten Ursprung der Tyrannei in einem einzigen Satz formuliert: „ …warum willst du mich nie um Verzeihung bitten?“, wimmert der Direktor, während er den Kopf des Jungen an seinen Hals drückt. Auch er ein Verlorener, ein krankhaft Verarmter, dem nicht nur die menschliche Nähe fehlt, sondern dem auch die Werkzeuge abhanden gekommen sind, um sich aus dem Kokon der Einsamkeit zu befreien.
Der Autor wirft den erfahrenen Blick in die Abgründe und Lichtungen menschlicher Beziehungen, leuchtet die Verästelungen der Seele aus und kontrastiert die bedeutungslose Wichtigkeit für den einen und die wichtige Bedeutungslosigkeit derselben Sache für den anderen. Großartig ist auch, Chirbes zu erleben, wie er den Mikrokosmos des Banalen mit dem Makrokosmos der gesellschaftlichen Epoche verwebt. Unverstanden bleibt allerdings, warum das Werk durch einen überladenen Facettenreichtum verarmen musste. Hier wäre deutlich weniger erheblich mehr gewesen. Für den Neubeginn beim Lesen wird deshalb in jedem Fall Bleistift, Papier und ein erhellendes Organigramm empfohlen. Note: 2 (ur)<<