Königshausen & Neumann 2012, 273 Seiten.
>> De Lazzer lässt nichts aus. Sündenpfuhl, das ist Sodom und Gomorrha, das volle Programm. Es dauert allerdings eine Weile, bis auch die bizarrsten Erscheinungsformen menschlicher Sexualität ausgeleuchtet werden. Bis es soweit ist, entwickelt sich der durchaus spannende Plot um den bigotten evangelikalen Prediger Seitz und seine nicht minder heuchlerische Gemeinde im Remstal und über muslimische Stuttgarter und deren Verführbarkeit für radikale Islamisten. Ein Gebiet, auf dem sich de Lazzer als Theologe und Jurist auskennt. Wie beim klassischen Tatortformat werden viele Fäden aufgenommen, als Prediger Seitz plötzlich mit durchschnittener Kehle tot aufgefunden wird. Diverse Verdächtige werden vom sympathischen Kommissar Schiller und seinem munteren Team vernommen. Man merkt deutlich, dass de Lazzer viel Erfahrung als Drehbuchschreiber hat und kann den Roman tatsächlich als Fernsehfilm Marke Tatort lesen. Literarisch auf akzeptablen Niveau, aber häufig doch ohne wirklichen Tiefgang. Die Dialoge wirken manchmal auch ein wenig künstlich, wenn etwas untergebracht wird, was da nicht hingehört, das aber die Handlung voranbringen soll. Mitteilungsprosa eben. Im Ermittlerteam herrscht ein erstaunlich sexuell freizügiger, lässiger Umgangston. Vor allem bei den Frauen. Man kann dies im Hinblick auf die aktuelle Sexismusdebatte höchstens wohlwollend als Wunschtraum des Autors nach Emanzipation der anderen Art interpretieren. Mit der Realität hat es eher weniger zu tun. Die Lösung der Täterfrage gestaltet sich durchaus spannend, obwohl schnell klar wird, dass eine ganze Reihe von Verdächtigen vorhersehbar ausscheiden. Dies ist kein Widerspruch, da das Motiv doch überraschend daherkommt und in Grenzgebiete des Gewohnten führt. Hier muss man de Lazzer Respekt für seinen Mut zollen, diese heikle Thematik überhaupt anzufassen und dazu hin noch diskussionswürdige, grundsätzliche Fragen von Moral und Anstand zu stellen. Note: 2/3 (ün)<<
>> Im Stuttgarter Umland gewinnt die pietistische Erweckungs-Gemeinde dank ihres medienversessenen Evangelistenpredigers Seitz enorm an Zulauf. US-amerikanische Eventformen Effekt-orientierter Missionstaktiken begeistern Jugendliche. Karaoke-Predigten, Marathon-Bibellesen und Gospel-Pop-Rallyes füllen die riesige zum Jesus Workshop umgebaute Industriehalle. Eine eigene Bibel- und Kampfschriftdruckerei sowie der kircheneigene Fernsehsender runden das strategische Konzept ab, um nicht nur Jesus in Reinstform sondern auch die neue Staatsbürgerschaft im Reich Gottes zu predigen. Für Andersdenkende wird der verbleibende Platz bedrohlich knapp. Nicht minder intolerant geben sich einige Anhänger der Islam-Gemeinde in der Nachbarschaft, deren saudiarabischen Wahhabiten Hardliner die Trennung von Religion und Staat zurückweisen. Das Gemeinwesen Umma und die religiösen Gesetzte, der Scharia, lassen auch hier keine zweite Staatsbürgerschaft zu, warum sich die Welt in das Haus des Islam und das des Krieges, das Haus des Jihad, teile. Als Seitzs Hetzschriften in der Moschee auftauchen, werden Seitz und sein Hund mit durchgeschnittenen Kehlen in einer Jauchegrube aufgefunden.
Wie Kommissar Schiller viel später klären wird, hat beides nichts miteinander zu tun. Ebenso entpuppt sich der von Seitz in der Großdruckerei hintergangene Geschäftspartner Peters als unschuldig wie auch eine Reihe von Gemeindemitgliedern, denen Seitzs ausufernde Dominanz und Spendenhinterziehungen zuwiderliefen. Auch gehörnte Ehemänner, deren Partnerinnen sich begierig der monumentalen Libido von Seitz anvertrauten, sind nicht unter den Tätern. Der Täter ist der Vater einer Tochter, die nach einer perversen Sodomiebeziehung zu Seitz Selbstmord beging.
Mit der Figur des von eigenen Schicksalsschlägen gereiften Kommissars Schiller, den sachkenntnisreichen und denkschnellen Kollegen Fahnauer und Assistentin Katrin, sowie dem toleranzgeprägten Pfarrer Haegele schafft de Lazzer einen Kreis reflektierender Gesprächspartner, die Nachdenklichkeit nicht nur zur Klärung kriminalistischer Details nutzen. Ihre Überlegungen zu religionsgesellschaftlichen und psychologischen Zusammenhängen geben dem im Bereich von Sexualität mitunter überzogen inszenierten Roman eine gewisse Hintergründigkeit.
Die eigentliche über das zentrale Verbrechen hinausgehende Essenz des Romans gruppiert sich um zwei Mädchengestalten, die beide ihr Dasein einbüßen. Beiden gemeinsam ist das kompromisslose Elternhaus mit Vätern, die Ihren Töchtern mit Verweis auf religiöse Gesetzmäßigkeiten die Selbstverwirklichung gewaltsam untersagen. Die von beiden Vätern bemühten Religionen sind so verschieden wie die Stuttgarter Nachbarschaft mit Moschee und Jesus Workshop, ihre Auswirkungen sind jedoch ähnlich katastrophal. In dem einen Falle lässt ein türkischer, zum extremen Islamismus neigender Vater seine pubertierende Tochter AIsi strafvergewaltigen, weil er sie mit einem Freund beobachtete. Ihre opponierende Reaktion der Befreiung ist der Schritt in die Berufsprostitution – eben in jenen Tatbereich, für den ihr Vater sie vermeintlich bestraft hatte. In dem anderen Falle hält Vater Berwanger seine Tochter in einem pietistischen Zwangskorsett, aus dem das Mädel schließlich unter der Führung / Verführung von Seitz ausbricht. Sie verfällt seinen Begierden vollständig und sucht eine Lebensgemeinschaft mit ihm, die er ihr mit einem bigotten Verweis auf seine vierköpfige Familie natürlich verweigert. Es kommt zu Überschusshandlungen, bei denen sie gemeinsam auf einem Schweizer Gehöft von Sado-Maso bis Sodomie keine sexuelle Spielart auslassen. Den Höhepunkt bildet jene gespenstische Zeremonie, in der sie an Stelle von Seitz einen erregten Rüden heiratet. Als Vater Berwanger die mitgeschnittenen Videos in die Hände fallen, und er von der unendlichen Glücklichkeit im Gesicht seiner Tochter im Laufe des animalischen Koitus schockiert wird, wird ihm klar, dass er sein Kind schon unwiderruflich verloren hatte bevor sie Selbstmord beging. Die Erniedrigung und den Verlust der Tochter versucht er durch die Morde an Seitz und seinem sodomistischen Hund zu rächen. Als Kommissar Schiller auf seine ursächliche Mitverantwortung am entarteten Leben und Tod seiner Tochter pocht, erschießt sich der alte Mann. Auch der türkische Vater wird tot aufgefunden – vermutlich gerächt von AIsis Freund, so dass de Lazzer es sich nicht nehmen lässt, Seelenmord mit selbst- oder fremdbestimmter Tötung zu ahnden.
Ein diskussionswürdiger Kriminalroman mit nachgewiesenen theologischen und sexualtechnischen Sachkenntnissen, Sympathieträgern, Widerwärtigkeiten und provozierenden Gedanken. Manche Dialoge wirken allerdings wie plattitüden-verpflichtete Filmbeschleuniger, was sicher dem Fernsehserienautor de Lazzer („Bienzle“ et al.) geschuldet ist. Dass das kriminalistische Menu mitunter zu stark gewürzt ist, wird vor allem im Bereich der Körperlichkeit deutlich. Note: 2– (ur)<<
>> Tübingen wird mehrmals erwähnt, aber natürlich nicht als „Sündenpfuhl“. Das ist schon mal positiv und stimmt auch völlig mit der eigenen lokalpatriotischen Wahrnehmung überein. Dieter de Lazzer hat viel in seinen „Roman eines Verbrechens“ gepackt: Eine pietistisch gefärbte Erweckungsbewegung mit Fernsehprediger im Remstal, Salafisten, die Welt der Ermittler und fast den gesamten reichen Kosmos der Triebmanifestationen, von denen manche als pervers angesehen werden dürfen, je nachdem. Die Welt der Triebe und das Reden darüber bilden eine Art Subthema in allen der geschilderten Milieus. Manchmal wird es bei aller Freude daran etwas zuviel, obwohl man noch nicht von notgeiler Schreibe reden kann. Ist es witzig, wenn der Autor einen Ermittler mehrmals sagen lässt: “Moos oder Möse. Wo ist das Motiv?“ Möse oder Moos, ging das in die Hos?
In vielen kurzen, oft kalauernden Dialogen erkennt man den erfahrenen und erfolgreichen Drehbuchautor. Der Leser erweitert seinen Horizont, Namen wie Lacan und Freud oder Begriffe wie Polyamorie tauchen auf und verlangen Vertiefung. In Krimimanier werden falsche Fährten gelegt. Man ahnt trotzdem früh, dass der Mörder nicht aus der Moschee kommen kann. Das wäre einfach zu schlicht. Immerhin kommt der salafistische Frauenmißhandler auch zu Tode. Das Gerechtigkeitsgefühl dankt. Wir lernen, dass eine zu strenge pietistische Erziehung dazu führen kann, dass das Unterdrückte später exzessiv und pervers (Sodomie) ausgelebt wird. So ist das. Insgesamt ein unterhaltsames Buch und oft auch spannend. Etwas Konzentration im Mittelteil (Bibelversand Triest?) hätte nicht geschadet. Note: 3+ (ax)<<
>>Sündenpfuhl-Ende statt einer Rezension : Mamoud war angekommen. Befreit vom bleischweren Gürtel ging die Fahrt schneller als er sie sich vorgestellt hatte. Rashid, der Imam aus der Hinterhof-Moschee in Feuerbach hatte Wort gehalten. Da lagen sie die mandeläugigen Hurimädchen, räkelten sich zu Ghaselen und Sufi-Musik während rhythmisch tanzende Derwische den Neuankömmling empfingen. Nein, nicht mehr der Diwan im Zimmer der Zwillinge Aisha und Berit, nicht mehr der bäuerische Lattengriff unter der Decke, Mamoud tauchte ein in ein liebkosendendes Tausendundeinenacht der absoluten Glückserfüllung, von jüdischen Psychoanalytikern als aus der Melancholie geboren diffamiert, während sehr sehr weit unten Kommissär Bärlach vor den rauchenden Überresten eines abgelegenen Gehöfts im Kanton Appenzell zwischen Gäbris und Ruppenpass stand und angesichts des süßlichen Brandgeruchs mit dem Würgreiz kämpfte.
Im Zimmer 201 B4 vorn im Marienhospitel liefen die letzten Tropfen Fluoruracil in Marcus Schillers Zugang am rechten Unterarm. Die vierte Chemo. Als er erwachte, kühlte Schwester Verena von der Ordensgemeinschaft der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul seine Stirn. Note: 3/4 (ai) <<