Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto – Mario Vargas Llosa

Suhrkamp Verlag 1997 – 470 Seiten

>>Die geheimen Aufzeichnungen folgen den bekannten erotisch-literarischen Exkursionen des peruanischen Autors. Erneut gibt er hier seiner poetischen Libido freien Raum und setzt mit dem Personal des vorangegangen Romans Lob der Stiefmutter (1988) deren Lebenskrise fort. Dort war Don Rigobertos zweite Gattin der engelhaften Verführung seines fünfzehnjährigen Sohnes Fonchito aus erster Ehe lustvoll erlegen. Im Folgewerk leben die Eheleute aus diesem Grund getrennt, auch wenn ihre gegenseitige Liebe unverwüstlich bleibt. Der Plot stützt sich also auf eine verwandtschaftliche Dreierbeziehung, mit der ohne große Handlungsanstrengungen jongliert wird. Jeder der drei Protagonisten setzt eigene Akzente im sexuellen Ausnahmezustand, wobei auf eine vertiefte Sinnebene verzichtet wird. Literarischer Eros ohne Hintergedanken könnte man meinen. Das Ehebett als sakraler Raum.

Doch damit das Setting nicht allzu flach erscheint, ist es in eine eigenwillige Architektur verbaut. Jedes Hauptkapitel wird von vier Unterkapiteln mit sich wiederholenden Schwerpunkten gebildet. Warum vier? Vielleicht entsprechend den vier Daseinselementen Feuer (Hitze), Wasser (Tiefe), Erde (Standfestigkeit) und Luft (Kommunikation). Könnte sein. Ausformuliert sind dies a) Begegnungen von Sohn und Stiefmutter, b) Don Rigobertos alltagsphilosophische Ergüsse, c) Don Rigobertos erotische Fantasien und d) Liebesbriefe samt erotisierenden Skizzen. Dieser Themen-Reigen pulst mehrmals durch die Gesamtkomposition.

Don Rigoberto leitet ein Versicherungsunternehmen. Im Gegensatz zur grauen Aktentristesse des Büroalltags blüht seine Fantasie umso lebhafter, wenn er sich allabendlich in die Enge seines Singledasein zurückzieht. In abenteuerlichen Wachträumen (wiederkehrende Unterkapitel c) arrangiert er seine verstoßene Frau in unendlichen Sexepisoden. Mal kopuliert sie mit Bediensteten, dann mit Schulkameraden, die zwingend beim Koitus singen müssen. Schließlich amüsiert sie sich mit einem kastrierten Motorradfahrer. Mit einer Botschafterin praktiziert sie exotische Exzesse im Whirlpool. Mit anderen zelebriert sie ritualisiertes Urinieren. Da viele Szenen nicht bis zum Ende ausformuliert sind, lässt Vargas Llosa noch ein gewisses Maß an Unbestimmtheit und erhält damit einen Restreiz. Mit den Ausschweifungen der anderen Protagonisten sind die sexualisierten Passagen in der Summe jedoch ermüdend.

In den sich wiederholenden Teilen (b) konfrontiert Don Rigoberto den Leser mit einem Potpourri von erotikfernen Themen: ausufernder Umweltschutz, bizarre Massensportveranstaltungen, gefährliche Islamexpansion, abstoßendes Verbandswesen und vieles mehr. Da diese Einschübe zum Fortgang des Werkes nicht wirklich betragen, wurde schon vermutet, dass der Autor, als Vorsitzender der Liberalen Partei Perus und gescheiterter Präsidentschaftskandidat seinen Ansichten zu dezidierten Politbelangen einen Platz in der literarischen Ewigkeit verschaffen wollte. Das ist nicht sehr poetisch, aber vielleicht patentwürdig.

Bemerkenswert im Plot dagegen ist die Person Fonchito. 15 Jahre alt, engelsgleicher Knabe mit ultramariner Anziehungskraft auf seine Stiefmutter. Intelligent, belesen, begabter frühreifer Maler, Identitätsverschwommenheit bis ins Psychotische. Er glaubt, die Reinkarnation des österreichischen Malers Egon Schiele zu sein. Egon Schiele, dieser egomane Päderast der frühen Jahre des vorigen Jahrhunderts, der unbekleidet mit seinen Modellen spielte, bevor er sie malte. Dabei wurde die ganze Palette von erotisch bis pornographisch bedient. Sexualität als ästhetisches Element. Auch Fonchito gelingt es spielend mit seiner Stiefmutter Lukrezia allein oder mit ihrer nackten Hausgehilfen, expressionistische Schiele-Motive nachzustellen. Lukrezia weiß um die Verdorbenheit, kann und will jedoch dem erotischen Sog nicht widerstehen.

Derweil fühlt der Bube sich völlig frei. Nicht nur, dass er kein Schuldgefühl entwickelt, weil er seine Eltern entzweite. Im Gegenteil wünscht er nichts sehnlicher, als dass sie wieder vereint sein mögen. Tatsächlich gelingt ihm das mit Hilfe gefälschter Liebesbriefe
(in den zahlreichen Unterkapiteln d mit Schiele Skizzen). Raffiniert formuliert er Tagebuchaufzeichnungen seines Vaters und Passagen einer Kitschheftserie zu anonymen Verehrungsbriefen um. Diese lässt er Vater und Stiefmutter zukommen, um beide Glauben zu machen, dass der verflossene Partner die Versöhnung sucht. Das totgeglaubte Glück wird reanimiert. Die Familie rückt wieder zusammen. Allerdings verbleibt das Damoklesschwert in Scheitelhöhe. Lukrezia gesteht, dass es ihr unmöglich sein würde, dem Reiz des Jungen zu widerstehen, sollte er im gemeinsamen Haushalt verbleiben.

Vater und Sohn teilen also in der Gattin/Stiefmutter denselben erotischen Fixpunkt. Die Art und Weise des Alten erscheint dabei eher antiquiert mit der Tendenz zur stillosen Pornographie. Die Art des Jungen dagegen wirkt ausgefallen und kultiviert. Erotik als spirituell-künstlerischer Akt. Die Jugend glänzt mit Innovation.

Für Freunde des südamerikanischen Literaturbarocks wird auch dieser Roman ein Genuss darstellen. Sprachlich glänzt der Text durch Wort-Reichtum, geniale Assoziationen und Charakterstudien. Merkmale, die den späteren Literaturnobelpreisträger (2010) Vargas Llosa auszeichnen. Letztlich bleibt das Werk jedoch ein erotisch verstaubter Zettelkasten, aus dessen Einzelnotizen in der Tat ein fulminanter Roman hätte werden können.  Note: 2/3 (ur)<<