Die Verwirrungen des Zöglings Törleß – Robert Musil

Manesse Bibliothek 2013, Zürich. 317 Seiten.

>>Robert Musil hat seinem Roman drei Sätze von Maurice Maeterlinck vorangestellt: „Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam (…).“

Wenn dem so ist, wäre es dann nicht besser, ich würde meine Gedanken über den Roman für mich behalten? Mit zehn Jahren wurde ich fast auch ein Zögling. Sicherlich nicht so vornehm wie in Mährisch-Weißkirchen, halt „nur“ in Rottenburg/Neckar. Es war nicht die Idee meiner Eltern, sondern die eines priesterlichen Onkels. Meine Eltern ließen mich entscheiden. Ich wollte lieber im warmen und vertrauten Dreigenerationenhaushalt im Jagsttal bleiben. War es schon damals die Angst vor dem Unbekannten? Nachträglich vermutlich die richtige Entscheidung.

Im Fall von Törleß war das Internat sicher die bessere Lösung. So wie er in Wien lebte, geschwisterlos, ohne Freunde, mit speziellen Eltern? Auch wenn Musils erfolgreichster Roman den Weg in die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher gefunden hat, mir blieben Sprache, Ausdrucksweise und Verhalten der vier Protagonisten insgesamt fremd. Am ehesten konnte ich mich noch auf den Beobachtermodus von Törleß einlassen.

So suchte ich Rat und Trost in allen drei Lektürehilfen, die in der Stadtbücherei Tübingen zu finden waren. Die im renommierten Klett-Verlag erschienene Interpretationshilfe von Dr. Hanns-Peter Reisner ist sicherlich die klügste und hilfreichste. Reisner zitiert Walter Jens, der den jungen Törleß als ein „janusgesichtiges, von verwegenen Erfahrungen und tollkühnen Gedankenaufschwüngen gezeichnetes Ich“ bezeichnet. Für den Rhetoriker, der es ja wissen muß, ist er „der erste moderne Mensch in der deutschen Literatur: dem Hofmannsthalschen Lord Chandos oder dem Rilkeschen Malte Laurids Brigge oder Thomas Manns Hanno Buddenbrook um ein halbes Jahrhundert voraus.“

Reisner verweist abschließend  richtigerweise auf die Zeitlosigkeit sadistischer Übergriffe und resümiert: “Wenn die aus dem Törleß zu gewinnenden Einsichten wenigstens ansatzweise dazu dienen können, mit geschärfter Aufmerksamkeit und strukturiertem Blick solche Ereignisse aufzunehmen und zu verarbeiten, haben sich die Mühen der Romanlektüre gelohnt.“

So gesehen bereue ich nichts.  Note:  3+  (ax) >>

>> Was uns ein 26jähriger Autor in seinem 1906 erschienen Roman über das Internatsleben 16-18jähriger Zöglinge  berichtet, gibt sowohl einen Einblick in die Entwicklung zum Erwachsenwerden wie in die Elitenrekrutierung der Zeit. In dem Konvikte zu W. wurden die „Söhne der besten Familien des Landes“ für den späteren Militär- und Staatsdienst vorbereitet. Abgeschiedenheit, so lässt uns der Erzähler wissen, schien die Gewähr dafür zu bieten, „die aufwachsende Jugend vor den verderblichen Gefahren einer Großstadt zu bewahren“. Dass die Gefährdungen auf ganz anderer Ebene lauern, ist das Thema von Musils Roman. Stehen zunächst der Prozess des behutsamen Abschieds von den Eltern, die Erfahrung von Einsamkeit und Selbstzweifel,  Törless  Zuwendung zu Reiting und Beineberg und deren Gedankenwelt, etwa die erotischen Phantasien in der Bozena Episode im Vordergrund, so wird der Gelddiebstahl des Schülers Bansini  zum Wendepunkt der Geschichte. Zum Skandalon gegenüber Kameradschaftsideologie und Moralrigorismus  überhöhlt, erkennt der Schüler Reiting, vom Erzählers schon früh als Typus des „unnachsichtigen Tyrannen“ charakterisiert, die Chance, aus Bansinis „Gemeinheit“ ein „Vergnügen“ werden zu lassen und so nimmt das Verhängnis mit Bansinis unterwürfigem Bekenntnis zum „Sklavendienst“ seinen Lauf. In der Gegenwelt zum Lehrsaal unten, in der Dachstuhlkammer oben  offenbaren sich die Abgründe der Psyche in drei verschiedenen Typologien. Zum einen kühl kalkulierend , zynisch  sadomasochistisch  Reiting, der Basini am Ende gar der Lynchjustiz der Klasse ausliefert, ein strategisch perfider Plan, um die eigentlichen drei Täter in einer glänzend inszenierten „wohlverabredeten Komödie“ straffrei davon kommen zu lassen. Zum zweiten Beineberg, Sohn eines Reiteroffiziers,  der von einer kruden  buddhistisch, mystisch esoterischen Zauberwelt inspiriert, glaubt an Bansini gar ein Menschenexperiment durchführen zu können. Als diese lächerliche Hypnose der Seelenreinigung (Befreiung der Seele aus den Naturgesetzen) scheitert, kommt die Peitsche und der Revolver zum Einsatz, letzterer noch nicht in seiner späteren Realität . Und schließlich die Hauptfigur Törless.  Im Gegensatz zu seinen Mitschülern sensibel und verschlossen und von deren Andersartigkeit merkwürdig angezogen, reagiert er zunächst pragmatisch. Bansini müsse beim Direktor angezeigt und vom Institute entfernt werden. Zugleich spürt er, was die Entscheidung Reitings letzten Endes auch für ihn bedeutet. Dies ist eine Schlüsselstelle des Romans: „Alles, was sich in ihm regte, lag noch im Dunkeln, aber doch schon spürte er eine Lust in die Gefilde dieser Finsternis einzudringen“. Zunächst noch beobachtend, befremdet, Bedenken äußernd, ob der sich zunehmend steigernden Bestrafungsrituale wird schließlich auch Törless zum Mittäter. Im Zusammenprall zweier Welten, der Vernunft und der Irrationalität, siegt bei Törless die „mörderische Sinnlichkeit“. Doch während sich bei Reiting und Beineberg der Missbrauch ohne jede Irritation vollzieht, Basini zum Objekt verdinglicht wird, unterzieht Törless sein Handeln einer fortwährenden Selbstreflexion. Die Innenperspektive, sein seelischer Zwiespalt , Ich-Brüche stehen im Vordergrund und die wechselnden Empfindungen von Lust, Begierde, Zärtllichkeit, Erniedrigung Scham und Ekel offenbaren ihm zunehmend die Abgründe auf der Suche nach sich selbst. Dass ihm die finale Gewaltorgie, die Bansini durch Reiting und Beineberg erfährt, „als eine gedankenlose, öde, ekelhafte Quälerei“! erscheint, ist der Beginn einer Selbstbefreiung. Erst mit der späteren Lektüre seiner Erinnerungen erkennt er ohne Schuldbewusstsein, warum ihm jede „ethische Widerstandskraft“ damals fehlte. Wie wenig die Institution des Internats den Verwirrungen ihrer Zöglinge gewachsen war, belegt vor allem die Schlussszene des Romans, eine Bankrotterklärung pädagogischer Arbeit: Basini strafweise entlassen, Törless vom Direktor zur „sorgsamen Überwachung seiner geistigen Nahrung“ einer Privaterziehung anempfohlen, Beineberg und Reiting straffrei – „ in der Schule ging alles einen gewohnten Gang“.

Ein für die Jahrhundertwende sicherlich außergewöhnlicher Blick in die Irrungen der Adoleszenz, die sich heute bei 16 bis 18 Jährigen sicherlich weniger bildungsbefrachtet, aber vielleicht in anderer Weise gewaltaffin zeigen würden.

Note: 2 ( ai) >>

>> Mit dem Internatsschüler Törleß behandelt Musil vermutlich eigene Verwirrungen: Sinnsuche, Wahrheitsverbundenheit, Ethos und Logik, Instrumente der Reifung einschließlich Gewalt, Homosexualität, Erotik, Lebenszweifel, kollektive Grenzerfahrung, Verrat, Schuld und Flucht. Eine eher düstere Thematik – und darüber hinaus eine, die überwiegend in Überlegungen verläuft. Wenig Bewegung, meist nur tastendes Fortbewegen in aschfahlen Gedankengewölben. Obwohl thematisch zeitlos, leidet die Rezeption des Romans zudem an seinem hundertjährigen Sprachduktus, der die heutige Wahrnehmung zumindest herausfordert. Man quält sich durch die Seiten und leidet auf inhaltlicher und formaler Ebene.

            Törleß drängt seine wohlhabenden Eltern, ihm einen Internatsaufenthalt zu ermöglichen. Die Trennung fällt dennoch auch dem Sohn schwer. Im Internat gefangen, quält den Jungen Heimweh, vergeistigt im stillen Abseits einer Gemeinschaft von Jungen aus meist standesbewussten Elternhäusern. Seine drei ungleichen Weggefährten sind umstrittene Burschen mit zwielichtigen Ambitionen. Basini kämpft gegen das Unterschichtdasein seiner mittellosen Herkunft, bestiehlt andere um materiell anerkannt zu werden und verstrickt sich in Lügen und Abbitten. Seine kleinen Untaten erlauben den anderen ihn zum gemeinsamen Opferobjekt zu profilieren. Reiting schult seine körperliche Widerstandsfähigkeit mit ausdauernden Schlagübungen gegen Zimmerwände und kennt kein größeres Vergnügen als Menschen gegeneinander aufzuwiegeln. Er ist der berufene Nachwuchstyrann. Auch Beineberg entpuppt sich als der Praktikant des Bösen, der Nachschlüssel für alle ungenutzten Verschläge und Dachkammern des weitläufigen Schulgebäudes besitzt, geladene Revolver hinterlegt und mit Strenge Gewaltanwendung einfordert. Törleß hingegen besitzt in all diesen Dingen kein Geschick, ist jedoch der geistig Beweglichste. Entsprechend avanciert er still zur theoretischen Autorität des Trios.

Törleß verharrt als Grenzgänger. Grenzgänger zwischen den Geschlechtern, Grenzgänger zwischen den erotischen Zielen, Grenzgänger zwischen den Logikwelten in der verzweifelten Suche nach Wahrheiten, verunsichert durch un-eindeutige Signale seiner Seele und seiner Erzieher. Als Kind war es im unbegreiflich, warum er kein Mädchen sein durfte. Bei grausamen Gewaltritualen seiner Kameraden überrascht ihn beim Anblick des blutüberströmten, nackten Basini eine Erektion. Die verschwommenen Antworten seines Lehrers auf Fragen mathematischer Logik enttäuschen ihn zutiefst. Das Verständnis seiner Eltern für Basinis Verfehlungen stellen seine Wertvorstellungen in Frage. Und auch die Wahl der Mittel für den Erkenntnisgewinn bleiben unbeholfen.

Als ein verlängertes Wochenende ihn und Basini allein im Internat zurücklässt, gibt er sich einem erotischen Impuls hin. Schon in nächsten Moment wird die homosexuelle Annäherung von Gewaltpraktiken durchdrungen, die sich kaum von denen seiner Weggefährten Beineberg und Reiting unterscheiden. Musil färbt die Szene ein und gibt ihr den Farbton einer Sinnsuche: „Ja, ich quäle dich. Aber nicht darum ist es mir; ich will nur eines wissen: Wenn ich all das wie ein Messer in dich hineinstoße, was ist in dir? Was vollzieht sich in dir?“ Basini als Medium und sexualisierte Gewalt als Methode um eine universelle Lebenserkenntnis zu erwirken? Musil bleibt vage, worum es eigentlich geht: Moral? Körperlichkeit? Identität? Genuss der Ohnmacht? Mathematik? Als Leser möchte man sich so wie der später vergeblich nach Erklärungen suchende Direktor von dieser Verschwommenheit trennen. Törleß wird vom Internat verwiesen. Zuvor hatte Törleß Basini schützend empfohlen, den Fall und damit auch sich selbst bei der Direktion anzuzeigen. Die Tortur findet ein Ende – Musil lässt Basini kurzentschlossen im Off verschwinden.

Schlüssiger erscheint dagegen der perverse Gewaltcharakter der anderen Protagonisten. In immer perfideren Verfahren hatten sie ihre brutalen Orgien verfeinert, bis Basini in einem Prozess der Selbstaufgabe Schmerz und Angst verloren hatte. Damit verflüchtigte sich jedoch der orgastische Reiz der Quälerei, weshalb Reiting und Beineberg schließlich Basini der gierigen Klassengemeinschaft auslieferten. Ihre Darstellung, dass sie sich vergeblich aufgeopfert hätten, ihn durch mühevolle Zucht auf den rechten Pfad zu führen, wird allseits wertgeschätzt – die Gewalttäter werden zu Wohltätern stilisiert. Dieser Teil des Romanplots ist eindrücklich und beschämend zugleich. Auch Exorzismus versteht sich als religiöse Läuterung.

Musil lässt Törleß später zu einem feinsinnigen Erwachsenden werden. Hat die harte Schule somit doch ihre Sinnhaftigkeit nachweisen können? Oder ist es am Ende die aufwertende Selbstdarstellung des Autors, der in der Tat trotz einer problematischen Schulprägung zum empathischen Seelenschriftsteller wurde? Womit will uns Musil entlassen?  Note: 3/4  (ur) <<

>> Als der junge Törleß einmal eine Reclamausgabe von Schriften KANTs in die Hände bekam, verstand er kein Wort und es war ihm „als drehe eine alte, knocherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopf“. Das Buch hat er bei seinem Mathematiklehrer liegen sehen, der ihm mit Kant die Erkenntnis vermitteln will, dass es sowohl in der Mathematik wie auch in der Philosophie Denknotwendigkeiten, Axiome sind, die am Anfang stehen und deren Bedeutung und Sinnhaftigkeit man erst dann verstehen kann, wenn man sich intensiver mit der Materie beschäftigt hat. Törleß will zu den Grundlagen der Erkenntnisfähigkeit vordringen, ein für heutige 17-jährige schwer nachvollziehbarer Drang und sicher auch für die Verhältnisse vor hundert Jahren, sagen wir mal, außergewöhnlich. Er ist auch die Triebfeder dafür, dass er sich in das unheilvolle Spiel seiner Mitschüler Beineberg und Reiting  hineinziehen lässt, die den Außenseiter Basini in ein immer qualvolleres, psychisches Abhängigkeitsverhältnis treiben. Törleß beobachtet mit Neugier und mit dem nüchternen Blick des Forschers, was seine Beteilung an den Quälereien Basinis in seinem Inneren bewirkt. Seine erwachende Sinnlichkeit analysiert er ebenso kühl als Kampf zwischen Verstand und Trieb. Der psychologische Blick, der Wechsel der Perspektive, das Zusammendenken von Qual und Lust, von Ekel und Anziehung gehört zweifelsohne zu den starken Passagen des Buches. Später wird Törleß seine Erlebnisse und Grenzerfahrungen als Bereicherung seiner persönlichen Entwicklung sehen.

Die sadistischen Exzesse, die empathielose Haltung der restlichen Klassenkameraden, das Versagen des Lehrerkollegiums als Vorboten des 1. Weltkrieges und des Faschismus zu deuten, ist nicht abwegig. Ob die Qualen des Erwachsenwerdens, in der Sprache Musils erzählt, für heutige Abiturienten, die den Törleß lesen müssen, noch nachvollziehbar ist, darf allerdings bezweifelt werden.  Note: 2 (ün) >>