<<Saturday ist die Geschichte eines Samstags im Leben des Londoner Neurochirurgen Henry Perowne, über dessen geordnetem Leben eine Kuppel von Bedrohungen liegt. Diese Bedrohungen provozieren Sinnfragen, Fragen nach einem ordnenden Prinzip, das vielleicht über allem steht und die plötzlichen Einbrüche im Dasein lenkt. Oder aber das Fehlen einer lenkenden Hand und stattdessen die Einsicht, alles Sein und Bewegen nichts weiter ist als die Summe unendlich vieler, logisch verknüpfter Prozesse. Alles physikalisch determiniert und kein Gott weit und breit.
Mit der Person Perowne steht nicht zufällig ein Neurochirurg im Mittelpunkt des Buches, also jener Humaningenieur, der nicht nur tiefen Einblick in das Bewusstsein bildende Hirn hat, sondern dieses auch operativ manipuliert um schwerste Erkrankungen zu lindern. Ohne dass McEwan sie formuliert, schwebt im Hintergrund die Frage, ob diese Form von Macht nicht Anmaßung und Missbrauch bedingt. Das Göttliche Regulativ durch die menschliche Ratio verdrängen – ist das nicht die Preisgabe des Humanen? Mit der Gestalt des Perowne beantwortet McEwan die Frage mit „nein“. Der Mensch und im Besonderen der rationale Mensch, trägt die Kraft des Humanen in sich.
Zur Profilierung des Hauptprotagonisten stellt McEwan Perowne die Person Baxter antagonistisch gegenüber. Der eine ein erfolgreicher Arzt, renommierter Retter in lebensbedrohlichen Notständen, glücklicher Ehemann und sorgender Familienvater in wohlhabenden Verhältnissen. Der andere ein dem Tod geweihter Kleinkrimineller mit Morbus Chorea Huntington als neurodegenerativer Erkrankung, psychisch bereits hochgradig destabilisiert, ohne familiären Halt und ohne Ich-Stärke. Beim Ausparken geraten beide aneinander als Perowne Baxters Außenspiegel abfährt. Sofort entwickelt sich eine bedrohliche Konfrontation, der Perowne nur entrinnt, weil er an Baxters fehlenden Augensakkaden dessen Erkrankungen erkennt und ihn darauf ansprechend völlig verunsichert. Unglücklich jedoch, dass sich Baxter dadurch vor seinen beiden Schlägerkumpanen dermaßen erniedrigt fühlt, dass sie abends in Perwones Wohnung eindringen, um sich die Ehrverletzung teuer bezahlen zu lassen. Baxter zwingt Perownes erwachsene Tochter sich zu entblößen. Doch seine Vergewaltigungsabsichten ersticken beim Anblick ihres schwangeren Bauches und eines sentimentalen Gedichtes, welches er sie zwingt vorzutragen. Die Situation wendet sich, als Baxter in einem Handgemenge im Laufe eines Treppensturzes schwer verletzt wird. Weil er mit seiner Hirnverletzung in die Neurochirurgie eingeliefert wird, ist es Perowne, der ihm in einer Notoperation das Leben rettet.
Mit seiner Absicht, Baxter nach seiner Genesung medizinisch als schuldunfähig einzustufen, zeigt er wahre Gnade dem gewalttätigen Kriminellen gegenüber. Gerade weil Perowne die kausalen biologischen Zusammenhänge kennt und nur diese als Leben gestaltende Kraft anerkennt, kann er einen humanen Realismus leben. Dafür bemüht er keine religiösen Normen. „Für ihn ist es keine Glaubensfrage, sondern eine alltägliche Tatsache, dass das Bewusstsein von bloßer Materie, vom Gehirn geschaffen ist. Eine ehrfurchtgebietende Tatsache, die auch Neugier verdient. Das Wirkliche, nicht das Magische, sollte die Herausforderung sein“ (S. 95).
Das Werk benutzt die Erscheinung vermeintlicher Zufälle als Aufhänger für Sinnfragen. Mit welcher Wahrscheinlichkeit treten Zufälligkeiten ein, wie dass ein bestimmter in den Tiefen der Weltmeere schwimmender Fisch an einem ganz bestimmten Tag in eine bestimmte Seite des Daily Mirror eingewickelt wird? Obwohl die Wahrscheinlichkeit gleich Null ist, trägt Perowne diesen Fisch genau so nach Hause, um das Abendessen zu bereiten. Mit dem Blick auf die kleinsten Details ergibt sich für jeden beliebigen Ablauf die größte Unwahrscheinlichkeit und trotzdem passieren all diese Dinge ununterbrochen. Bei so viel Normalität des Unmöglichen stellt sich für den ehrfurchtsvoll gestaltenden Materialisten Perowne das Leben als nichts anderes als die Summe aller Zufälle dar und gleichzeitig als die Freiheit von Gott. Perowne macht dabei die Erfahrung, dass sich die kleinen Abweichungen im alltäglichen Lebensstrom augenblicklich zu bedrohlichen Strudeln entwickeln können. Jeder – auch er – könnte der nächste eingepackte Fisch sein.
Perowne zahlt jedoch einen Preis für seine weitgehende, wenn auch menschlich-warme Abgeklärtheit in Form eines Mangels an irrationaler Tiefe. So kann er im Gegensatz zu Baxter die lyrischen Schwingungen seiner Tochter nicht wirklich wahrnehmen. Ebenso erahnt er nur, wie ausgefüllt sein Sohn durch seine Jazzmusik ist. Es bleiben Ängste. Letztlich ist auch das Altern und vor allem sein eigenes eine unbewältigte Bedrohung für ihn. Entsprechend stößt ihn mit Schuldgefühlen die Senilität seiner im Altersheim und ihrem immer enger werdenden geistigen Käfig schwankende Mutter ab. Nicht überraschend wirft das rationale Licht auch Schatten in das Leben des Perowne.
In fünf Kapiteln bettet der Autor die Zeiten eines Samstags in Bilder und Begegnungen ein, die jedoch genau so zufällig sind wie das Sein an sich: das brennende Flugzeug in der endenden Nacht, die größte Antikriegsdemonstration gegen den britischen Irakeinsatz am Morgen, die senile Welt des Vergänglichen im Altenheim am Mittag, die psychische Verstrickung eines umkämpften Squash-Spieles am Nachmittag und das familiäre Festessen am Abend, das in einem gewalttätigen Überfall endet.
Saturday ist ein Roman mit großer Dichte, der mit sprachlicher Akrobatik überrascht.
Ein gutes Buch. Note: 2+ (ur)>>