mikrotext 2022 | 213 Seiten.
>> Ein anatolisch deutscher Mikrokosmos, der 1965 mit dem neuen Leben Fatmas beginnt. Zwangsheirat mit dem „riesigen Kopf“ Yilmaz, er lebt schon in Deutschland. Dort „wo man das Geld von den Bäumen pflücken kann“ gilt es für Fatma auch den Weg für die beiden zurückgebliebenen (!) Brüder zu „pflastern“. Die Geschichte, die jetzt beginnt, wird uns im Wesentlichen in einer dialogischen Perspektive von Dincer und seiner Mutter erzählt. Was sich in der fremden neuen Heimat in Nettetal dann abspielt, ist sicherlich auch ein typisches Familiengenerationenschicksal türkischer Gastarbeiterfamilien, das zugleich die gesellschaftlichen Spannungspotentiale aufzeigt („Solingen brennt“), dem der eloquente Dincer in eindrucksvollen Bildern seine Sprache verleiht. Im Zentrum jedoch steht eine Mutter-Sohn-Beziehung. “Unser Deutschlandmärchen“ ist vor allem eine Hommage an Fatma. Die Schauplätze sind Fabrikhallen, Spargelfelder, Putzdienste im Kneipen- und Bordellmilieu (Doppelbödigkeit männlicher Familienehre!), ein schuldengeplagter Alltag, aufopferungsvoll, jährlich gabenreiche Pflichtbesuche nach Anatolien mit Rückfall in alte Rollenmuster. Yilmaz, Ehemann und Vater ein Totalausfall, ein spät erfüllter Kinderwunsch und dann die Hoffnung, dass Sohn Dincer als Mannersatz zur „zweiten Chance in ihrem Leben“ werden würde. Was die Pflichten anbelangt, werden diese Erwartungen zunächst auch erfüllt. Das Arbeitsethos des Kindes bewundernswert. Dass dann allerdings nicht der „Blaumann“ und wie bei Fatmas im klassischen Sinne erfolgreichen Brüdern das zweite Haus im Heimatland in Erfüllung gehen, sondern sich schon früh bei Dincer in vielfacher Hinsicht eine Gegenwelt auftut, bleibt der Mutter fremd. Bohème statt Drehbank, Lyrik statt Stechuhr, nach anatolischen Kategorien kein Mann sondern schwul, kein von der Oma gewünschter „Hodscha“ sondern ein 14jähriger, der in der Nettetaler Moschee die leerformelhafte Inszenierung der Koranlesungen durchschaut und nicht mehr bereit ist in dieser Zeremonie die Marionette zu spielen. Die Stärke des Buches liegt gerade darin diesen Entwicklungs- und Abnabelungsprozess, der sowohl bei Fatma und Dincer auch Schuldgefühle hinterlässt, eindrucksvoll zu erzählen.
Dem Amtsrichter Hoeke (ironischerweise ist Schuldnervater Yilmaz der Weichensteller), der dieses Buch letztlich erst möglich gemacht hat, wäre allerdings zu empfehlen gewesen, es mit dem literarischen Kanon für den jugendlichen Dincer und den späteren Heidenreich-Walser Connections etwas behutsamer angehen zu lassen. Der ganze formale und inhaltliche literarische Überbau (Gebet, Lied, Chor, Bühnendialog, Lyrik etc.) dieses Buches ist eher verstörend, weil er den eindrucksvollen Klartext dieses Familienschicksals trübt. Note: 2/3 (ai)<<
>> Das Realmärchen des Deutschtürken Güçyeter gibt sich als literarisches Experiment. 70 Episoden. Überwiegend Prosa, gelegentlich Lyrik. Einer gebrochenen Chronologie folgend erzählen der Autor und seine Mutter von anatolischer Heimat, deutscher Nicht-Heimat, schmerzhaften Traditionen, ekelhafter Männerherrschaft, Befreiungen und Gefangenschaft. Erheiterndes und Erschütterendes. Es funktioniert erstaunlich gut, ein und dieselbe Geschichte aus dem Munde von Mutter und Sohn zu hören. Es funktioniert erstaunlich gut, wie die große Zahl von Mosaiksteinen sich zu einer eindrücklichen Familienbiographie verdichtet. Es funktioniert, den Anklagen überzeugendes Gewicht zu geben, sind sie doch eingeflochten in das Gewebe belasteter Lebensläufe. Und daneben leuchtet dennoch Freude und Frohsinn auf.
Unser Deutschland Märchen reflektiert das individuelle Schicksal einer Gastarbeiterfamilie aus dem archaischen Anatolien in der industriell explositionsartig expandierenden Bundesrepublik. Der Roman durchleuchtet die Emanzipationsversuche des Autors als feingeistigen Einzelgänger gegenüber der rechtschaffenden Mutter. Die Befreiungsschläge der Frau in der Männer-dominierten Unendlichkeit. Die Fesseln und Widersprüche eines hochfrequenten Wirtschaftssystems im Kontrast zu lähmenden Gesellschaftsnormen in der jährlich besuchten türkischen Heimat. Es ist auch eine Sozialreportage der Wirtschaftswunderjahre.
Fatma ist die Mutter von Dinçer. Deren Mutter lebte noch als Nomadin von den Einnahmen ihres Tabak-schmuggelnden Mannes – bis er erschossen wurde. Die Regeln dieser Gesellschaft lesen sich so: „Ein obdachloses Weib zu behüten, ist die Pflicht eines jeden Mannes. Jetzt warteten … die nächsten auf sie, mit ihren steifen Werkzeugen. Bekamen die Möglichkeit, das Gewissen ihrer Schwänze zu beruhigen.“ Fatma und zwei Brüder werden gezeugt. Fatma wird einem Fremden als Gattin zugewiesen, um in Deutschland Geld für die beiden behinderten Brüder zu verdienen. Fatma will es nicht, muss es aber.
Der neue Ehemann wird sich als arbeitsscheu und wenig geschäftstüchtig erweisen. Fatma dagegen wird sofort die treibende Kraft der Familie. Hilft ihrem Mann in seiner schlecht laufenden Kneipe, quält sich mit seinen immer weiter auftürmenden Schulden ab. Arbeitet in Schwermetallfabriken, gebärt zwei Söhne und nimmt Zweittätigkeiten in der Landwirtschaft an bis der Zusammenbruch eintritt: ein schwerer Arbeitsunfall zwingt sie zu monatelangen Krankenhausaufenthalten und wiederholten Operationen, die ihren Gesundheitszustand fortlaufend verschlechtern. Und dennoch gibt sie nicht auf. Kommt den unstillbaren Begierden nach Konsumartikeln ihrer Verwandtschaft in der Türkei nach, versorgt bis zu acht Bewohner in ihrer kleinen Wohnung und beherbergt undankbare Flüchtlinge. Überraschend bewahrt sie sich ein offenes Herz. Sie kann gar nicht anders. Ein kleinwüchsiger Türke, der den Arsch nah am Boden trägt, eröffnet ein Bordell. In ihrer Kneipe verteidigt Fatma die kleinen Huren vor den sabbernden, geilen Böcken und versucht die jungen Dirnen wieder auf den rechten Pfad zu leiten. Sie werden in ihren wankelmütigen VW-Bus verfrachtet mit Ziel Frankfurt, Köln oder wo immer die Mädchen herkommen. Ihre Väter und Brüder werden bedrängt, die verstoßenen Töchter wieder aufzunehmen. Meist klappt es nicht. Dinçer wird später ihr Lebensgefühl so beschreiben: „Das hier ist nicht mein Leben. Das hier ist nur die Zeit, in der ich die Töpfe der anderen fülle…“.
Dinçer ist Fatmas lang ersehnter Erstgeborene. Er ist besonders, integriert sich kaum in den deutschen Kinderalltag, schreibt früh Gedichte. “Wenn ich vor meinen schönsten Jahre sterbe, soll keiner weinen.“ Das Testament, bereits mit acht Jahren verfasst. Dinçer leidet mit der Mutter, vernachlässigt die Schule, um schon als Grundschüler mit und für die Mutter Geld zu verdienen. Von den ersten Ersparnissen kauft er ungefragt für sie Stöckelschuhe. Leider passen sie nicht. Die Mutter trägt sie trotzdem bis die Blasen platzen. Dem Pubertierenden wird vom Onkel ein Putzjob angetragen. Auch er hat inzwischen ein Bordell eröffnet. Obwohl die versprochene Entlohnung nie gezahlt wird, fühlt Dinçer sich mit dem Erfahrungsschatz königlich entschädigt.
Das Verhältnis zur Mutter nimmt zusehends Schaden, wird zwiespältig. Er erfüllt nicht ihre Erwartungen. Sie auch seine nicht, als sie in der anatolischen Ferne die paternale Diktatur der Dörfer mitlebt. In Anatolien sind nicht Taten ein Verbrechen, sondern das Sprechen über die Taten. Also schweigt Fatma auch dann noch als eine rechtschaffende Frau geächtet wird, weil sie vor dem Missbrauch flüchtet. Dinçer macht die harte Schule einer Werkzeugmacherlehre durch. Irgendwie will er auch normal sein – und wird es doch nicht. Versucht sich bei einer Schauspielschule, fühlt sich als Schwuler entlarvt. Flüchtet von Zuhause, vagabundiert durch die Strichernächte Istanbuls. Verweigert sich. Wird dichtender Kneipier. Die Lyrik nimmt immer mehr Raum ein, auch wenn es die Familie verstört. Bis ein Herr Hoeke seine Begabung entdeckt und Dinçer nachhaltig fördert. Erste öffentliche Auftritte folgen. Die Presse berichtet euphorisch. Preise werden überreicht. Schließlich der literarische Gabelstaplerfahrer und Inhaber eines kleinen Eigenverlages. Bis heute. Das ist Dinçer Güçyeter.
Währenddessen kämpft Fatma und fügt sich dennoch dem Diktat ihres Schicksals. Und dies, obwohl sie angefüllt ist von tiefster Enttäuschung. Ihre Erfahrung ist: solange der Mensch das Dasein prägt, wird die Welt nicht für Menschen sein. Der Mensch bleibt das ewig blutende, rohe Fleisch. Egal ob in der Heimat oder Heimatlosigkeit, unter Türken oder Deutschen, in der Familie oder allein. Gerade wegen dieser abgründigen Tiefen berührt es umso mehr, wenn wir von Sohn und Mutter ein gemeinsam verfasstes Deutschland Märchen lesen. Es ist eine Heimkehr. Das sanfte, ehrliche Aufarbeiten, das Zusammenführen von Welten, von Werten, die so lange unvereinbar schienen, hatte die Mutter sich doch einen geschäftstüchtigen, starken Gattenersatz erhofft. Stattdessen brachte Dinçer sanfte Worte nach Hause. Jetzt erlebt die Mutter vermutlich zum ersten Mal als Koautorin die Stärke des Wortes durch den Mund ihres Sohnes. Ein wahres Märchen mitten in Deutschland.
Auch wenn das Werk zum Ende Gefälle offenbart, bleibt es eindrücklich.
Note 2 –(ur)<<
>>Mit der Frage „Wann wirst du dein eigenes Lied singen, Alamanya ?“ endet das „Lied der Mütter vor dem Parlament.“
Ich habe versucht, die Frage zu beantworten und angefangen zu dichten und zu singen. Den Titel „Das Brummeln der Kartoffeln“ hatte ich schnell gefunden, aber der Rest ist leider ziemlich misslungen, weshalb ich m e i n Lied der geneigten Leserschaft ersparen möchte. Vorsichtshalber habe ich es zerrissen. Die Mahnung von Mutter Fatma an ihren Sohn Dinçer gilt nicht für meine Zeilen: “Dinçer, sei nie zu schnell mit deinem Urteil, weder jetzt noch später. Die Wahrheit bleibt oft ein Geheimnis.“ Hut ab vor Dinçer G., einem Autor, der die zweite Grundschulklasse wegen mangelnder Deutschkenntnisse wiederholen musste und jetzt Prosa, Lyrik und mehr veröffentlicht. Genreübergreifend. Er spielt mit der Sprache, wirkt aber manchmal artifiziell, manieristisch. Und manchmal so anspruchsvoll, dass der native speaker nur mit Mühe versteht, was ihm der Autor sagen will.
Der Mutter-Sohn Dialog berührt durch seine Ehrlichkeit und seine Authentizität. Dinçrt enttäuscht die Erwartungen der Mutter auf einen soliden Sohn an der Werkbank. Eigentlich ein klassischer Konflikt, Kinder erfüllen nicht die Erwartungen der Eltern. Wohltuend für meine Kartoffelseele, dass Dinçer Güçyeters Deutschlandbild sich nicht auf rassistische Anschläge beschränkt, sondern auch die Unterstützung und Hilfe erwähnt, die er von deutschen Nachbarn erfahren hat.
Eine bewegende Lektüre. Lohnend. Note : 2/3 (ax) <<
<< Unser Deutschlandmärchen: Eine formal ungewöhnliche Montage aus über 60 Szenen, Gedichten, Chören, Gebeten, ja offenbar authentischen Fotos aus dem Familienalbum. Die an vielen Stellen sehr berührende Geschichte einer Einwandererfamilie aus Anatolien, die -so lässt sich vermuten- die Geschichte des Autors und seiner Familie, ist. Dinçer Güçyeter gibt auch seiner Mutter Fatma eine Stimme, in dem er zahlreiche Szenen aus ihrer Sicht erzählt. Die Frauen halten den Laden zusammen. Männer kommen eher schlecht weg bei Gücyeter. Sein Vater ist ein Versager mit „riesigem Kopf“, sein Onkel betriebt ein Bordell, in dem auch der junge Dincer aushilft. Die Männer in den Kneipen geile Böcke. Einzig Amtsrichter Hoeke- ausgerechnet- hebt sich von der negativen Folie ab. Er hilft dem 14-jährigen Dincer und erkennt sein Talent als Dichter und fördert ihn. Ein Märchen.
Im zweiten Teil wird das Buch schwächer. Zuviel gewollt und überfrachtet. Schade.
Note: 2/3 (ün)<<