Sommerhaus, später – Judith Hermann

Collection S Fischer, 1998 |188 Seiten

>>            Neun Erzählungen deutscher Bohemians und Menschen, die einem entleerten Leben frönen oder sich verloren haben. Im Ich verfangen driften die Menschen dahin. Von Drogen oder Interessenlosigkeit angefüllt, kommt ihnen vereinzelt ihre Einsamkeit zu Bewusstsein. Die Versuche, menschliche Nähe zu finden, scheitern durchweg an Missverständnissen, Angst oder unglücklichen Umständen. Manche Erzählungen sind von Stillstand geprägt. Andere beschreiben eindrücklich die inneren Konflikte und machen die wiederkehrende Beziehungslosigkeit schmerzhaft spürbar. Auch wenn die Themen ernüchternd sind, so sind sie doch häufig eindrücklich in Szene gesetzt. Hierin liegt die Stärke des Werkes.

  1. Das Einleitungskapitel „Rote Korallen“ setzt zwei Frauengestalten (Großmutter und erwachsene Enkelin) in Beziehung zueinander. Während für die Großmutter eine Korallenkette das gelebte Symbol einer verflossenen Liebe und stillen Befreiung aus der russischen Einsamkeit ist, wird dieselbe Kette für die Enkelin zum Zeichen von Verlusten einschließlich des Liebhabers.
  2. Mit krasser Intensität wird in „Ende von Etwas“ die seelische Verstümmelung einer bettlägerigen Alkoholikerin beschrieben, deren Lebensabkehr sich in immer neuen Gemeinheiten bis hin zum telefonisch inszenierten Selbstmord steigert.
  3. Von feinfühliger Intensität ist die Geschichte „Hunter-Tompson-Musik“. Ein Senior lebt in bescheidenen Ritualen in einem New Yorker Seniorenhotel weitgehend isoliert. Die Begegnung mit einer jungen Frau verflüchtigt sich schmerzhaft. Illusionen verwehen. Sein Verlangen nach menschlicher Nähe erschöpft sich in dem ergreifenden Geschenk einer für ihn zum wichtigsten Ritual gewordenen Musik an die junge Frau.
  4. In „Sommerhaus, später“ versucht ein Taxifahrer über Jahre einen hilflosen Kontakt zu einer Christiane aufzubauen, was in dem ruinösen Erwerb eines verfallenden Sommerhauses für sie gipfelt. Ihre Anteilnahme, als das Haus Brandstiftung zum Opfer fällt, erschöpft sich in dem lapidaren Seufzer: „Später.“
  5. „Camera obscura“ stellt eine Marie als eine nach sexuellen Exzessen gierende Frau vor, die einen sie ekelnden Lilliputaner anbaggert. Er ist Videokünstler, der ihren ungleichen Sex online aufzeichnet.
  6. Die „Bali-Frau“ scheint erotischer Direktimport eines gierigen Regisseurs zu sein. In unmenschlichen Reflexen spult sie Blondinenwitz als Herzstück deutscher Kultur ab.
  7. „Sonja“ umgibt mystisch Hexenhaftes, als sie einen Mann verzaubert. Geradezu süchtig folgt er ihr in platonischer Liebe. Als sie trotz bleibender Distanz eine spätere Heirat mit ihm einfordert, flüchtet er in eine andere Ehe.
  8. „Diesseits der Oder“ und
  9. „Hurrikan“ sind Erzählungen des Stillstandes. Ein ins Berliner Umland zurückgezogener Schriftsteller und ein in die Karibik ausgewanderter Altlinker stehen hilflos vor ihren Besuchern, die ebenso wenig alte Verbundenheit neu beleben können.

Wenn dem Leser gelingt, sich durch den seelischen Grauschleier der Erzählungen fortzubewegen, wird er die teils gekonnte Einheit von Inhalt und Form entdecken. Der niederdrückende Tenor des Buches bleibt aber dominierend.  Note: 2– (ur) <<