S. Fischer Verlag 288 Seiten
>> Neben der Legislative, Exekutive und Judikative diskutieren die Autoren die Medien als vierte Gewalt (Publikative), der eine kritische Kontrollfunktion ohne Verfassungsrang zukommt. Ein offensichtlicher Wandel im Wechselspiel zwischen Politik und politischem Journalismus erweckt jedoch inzwischen den Eindruck, dass die Medien nicht neben, sondern über den Verfassungsgewalten stehen. Politiker werden öffentlich zu massenmedial formulierten Entscheidungen getrieben. Selbsterhaltungsbewusste Politiker passen sich in vorauseilendem Gehorsam Tendenzen der Leit- und Direktmedien an. Das Mediensystem scheint das politische System zu kolonialisieren. Eine Transformation der Demokratie zur Mediokratie?
Wirkgrößen dieses Prozesses sind Skandalisierung, permanente Empörung und Polarisierung, die gezielt selbst in den Leitmedien wie FAZ, Welt und Süddeutsche oder in den Sendern der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vermehrt zu beobachten sind. Inszenierte Empörung wird millionenfach multipliziert und steigert damit den Unterhaltungs- und Publikumswert. Die Reichweite als alles dominierende Messgröße wird in die Höhe getrieben. Verlust von Sachinhalten und gleichzeitiger Personalisierung sind weitere Merkmale. Es geht zunehmend nicht mehr um politische Positionen sondern um Politiker, die medial wesentlich effizienter instrumentalisiert werden können als komplexe Gesellschaftszusammenhänge. Überraschend ist dabei jedoch das neue Phänomen, dass die konkurrierenden Medien Einheitsmeinungen einnehmen, ohne dass eine von oben oktroyierte Manipulation ersichtlich wäre.
An verschiedenen Ereignissen werden von den Autoren Detailaspekte illustriert, wobei der Krieg in der Ukraine eine besonders eindrückliche Periode darstellt. Nachdem von Politik und Medien der intensive Wirtschaftsaustausch mit Russland über mehrere Jahrzehnte zelebriert wurde (Wandel durch Handel), galt dieser plötzlich als größter historischer Fehler, wobei die Presse sich frei von Selbstkritik präsentierte. Namhafte Verfasser eines öffentlichen Briefes gegen die Lieferung schwerer deutscher Waffen, Exbundeskanzler Schröder sowie Exkanzlerin Merkel, die beide nicht ihre Außenpolitik widerrufen wollten, wurden zu Objekten des nationalen Fremdschämens stilisiert. Selbst der amtierende Bundespräsident wurde zum Schuldeingeständnis genötigt. Schämen und Widerruf als von den Medien öffentlich erzwungenes Gelöbnis.
Auch hier war wieder in Ziel und Stil ein einheitliches Vorgehen aller Leitmedien zu beobachten. Ursache dieser Entwicklung schreiben die Autoren vor allem dem Auftreten der Direktmedien als quasi fünfte Gewalt zu. Youtube, Twitter und andere Onlinemedien brechen das Informationsmonopol etablierter Medien auf. Jeder und jede wird zur RedakteurIn, immer und überall filmt schon ein Mobiltelefon, Inhalte und deren Wertung sind global und vor allem kostenlos verfügbar. Filterung erfolgt nicht mehr in wenigen Redaktionsstuben durch Gate-keeper mit althergebrachter Deutungsmacht. Charakteristisch ist für Direktmedien meist eine extreme Verkürzung von Inhalten, ausgesprochen subjektive Wertung und häufig gefährliche Emotionalisierung bis zur Diffamierung. Den Leitmedien brechen in der Folge auf ganzer Front Märkte weg. Werbeeinnahmen sind im freien Fall, Redaktionen werden eingeschmolzen. Recherchejournalismus wird unbezahlbar. Als entscheidende Lösung sehen die Alten vor allem das Imitieren der Neuen. Die neue Währung sind Klicks und Visits, um Anzeigenpreise höher zu halten. Redaktionseigene SEO (Search Engine Optimization) Mitarbeiter optimieren Artikel, damit das eigene Medium möglichst hoch im Ranking der Google Suchmaschinerie klettert.
Da das Publikum vor allem auf Sensationen reagiert, wird konsequent versucht, Extreme zu präsentieren oder notfalls spannungsarme Themen zu dramatisieren, Konflikte willkürlich zu konstruieren und Teilnehmer gegeneinander in Stellungen zu bringen. Gerade der letzte Punkt hat sich zum Goldstandard entwickelt. Die Personalisierung von Information ist ein neues Medienmerkmal geworden. Das kurze Lachen von Ministerpräsident Laschet bei einer Visite im zerstörten Ahrtal und seine darauf folgende Demontage als Kandidat für den CDU-Vorsitz durch die Medien (ein Präsident der angeblich seine leidenden Wahlbürger auslacht) ist ein Beispiel, in dem der politische Inhalt bewusst aufgegeben und eine Nebensächlichkeit zerstörerisch moralisiert und zum alleinigen Medieninhalt erhoben wurde. Skandaljournalismus als wirkstarkes Geschäftsmodell.
Einer von mehreren Gründen, dass dieses Modell im politischen Umfeld funktioniert, liegt auch daran, dass die Politik natürlich um die enorme Macht und Reichweite der Medien weiß und sich deshalb permanent den Medien als Multiplikatoren andient. Die Medien nehmen dankend das kostenlose Rohprodukt entgegen, so dass ein rotierendes Selbstgespräch zwischen Politik und Medien resultiert. Dass die Medien sich trotzdem immer wieder einzelne Persönlichkeiten oder Politikinhalte herausgreifen, um sie nach eigenem Gutdünken zu manipulieren oder zu zerstören, bremst den Kreislauf keineswegs, da es auch in diesen Situationen unter den politischen Gegnern immer auch lachende Gewinner gibt. Es entsteht ein vermarktbares Perpetuum mobile mit erheblichem Unterhaltungswert.
Teil des Infotainments ist der so genannte Unmarked Space, das bewusste Weglassen von Informationen. Auch wenn nie die vollständige Komplexität einer Sachlage erschöpfend wiedergegeben werden kann, sollte eine ausgewogene Berichterstattung erfolgen. Stattdessen bilden sich unter den Medien wie etwa im Ukraine Krieg fast völlig homogene, einseitige Positionen unter den Teilnehmern heraus. Merkmal ist dabei eine Indexierung von Sachinhalten. Der barbarische Krieg wird nur vom russischen Autokraten geführt, der selbst seine eigenen Soldaten in den Tod treibt. Zehntausende Tote und Verletzte haben nichts mit der Kriegführung der sich verteidigenden Ukraine zu tun. Der ukrainische Soldat, der wie jeder Soldat zum Massenmord verpflichtet ist, kommt nicht vor. In deutschen Medien wird dieser Teil der Wahrheit moralisch sanktioniert, d.h. unmarked. (Übrigens ganz anders als in der polnischen Kriegsberichterstattung, in der vernichtungsstarke Kämpfer der Ukraine als Helden gefeiert werden.) Entsprechend werden deutsche Waffen nur für die Rückeroberung der Freiheit benötigt – nicht für das Töten tausender Menschen. Diese Form der inneren Zensur trägt Züge eines totalitären Systems mit dem großen Unterschied, dass in der deutschen Demokratie keine Zensur von oben erfolgt. Die bewusst eingeengte Wahrnehmung erfolgt trotz unseres offenen Gesellschaftssystems mit Pluralität und Widerspruchsgarantie.
Gelegentlich können Kipppunkte in der Berichterstattung beobachtet werden. So folgte die deutsche Presse im Vietnam-Krieg lange dem US-amerikanischen Narrativ der Dominotheorie, dass man nur mit militärischer Gewalt verhindern könne, dass der sowjetische Kommunismus von einem Land auf viele andere überspringen könne. Erst als Dieter Hildebrandt seinerzeit eine entblößende Reportage über die Gräuel des Vietnam-Krieges in der Zeit veröffentlichte, objektivierte sich die bundesdeutsche Berichterstattung und sprach von der Gewalttätigkeit auf allen Seiten.
Warum treten die konkurrierenden Medien unisono auf und verlieren damit im Grunde Profil? Weil sich Schwarmverhalten als gewinnbringend herausgestellt hat. Precht und Welzer zitieren an dieser Stelle die folgenschwere Medienkampagne gegen den Bundespräsidenten Wulff 2012. Nachdem Verfehlungen identifiziert und erste Meldungen publiziert waren, nahm mit Folgerecherchen von weiteren Medien die Geschichte Fahrt auf. Letztlich konnte die Causa Wulff soweit zu einer Affäre verdichtet werden, dass der Politiker von seinem Amt zurücktreten musste. Jedes Organ nutzte die gesteigerte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und den damit verbundenen hohen Marktwert des Objektes. Es lohnte sich auf der Welle mitzusurfen und durch eigene Beiträge die Amplitude zu erhöhen. Besonders nachhaltig wurde die Eigenwerbung, wenn andere Wettbewerber einen zitierten. Letztlich steckt also in der vermeintlichen Medienkooperation ein Konkurrenzmechanismus. Dieses Phänomen ist umso eindrücklicher, weil anders als z.B. in der Adenauer Ära mit einer ausgeprägten Links-Rechts Topographie, die Leitmedien heute kaum noch unterschiedliches politisches Profil erkennen lassen. Im Fall der Berichterstattung zum Krieg in der Ukraine und seinen deutschen Verknüpfungen unterscheiden sich Bild und TAZ kaum noch. Diese Meinungsgeschlossenheit nennen die Buchautoren: Cursor Mentalität – das kollektive Folgen einer Leitspur.
Auch soziologisch und psychologisch ist dies ein bekanntes Anpassungsphänomen, das einem Individuum durch gruppenkonformes Verhalten eher Vorteile verschafft. Im Journalismus kann die kommerziell provozierte Stigmatisierung (der zögerliche Scholzomat), sich natürlich auch gegen die eigene Redaktion wenden, so dass man sich auch deshalb schon besser dem group think anschließt. Der Prozess mündet in einen Selbstverstärkungseffekt, häufig auch als Erregungsspirale. Teil der Gruppenanpassung ist die publikumswirksame Ausgrenzung Andersdenkender. So z.B. mediale Verurteilung von Alexander Kluge, als er in einem Interview zu sagen wagte, dass im Ukraine Krieg Kapitulation eine zivilisatorische Möglichkeit sei. Sofort sind diffamierende Gattungsnamen wie Putinversteher oder Unterwerfungspazifist gefunden. Ein weiterer journalistischer Würgegriff liegt in der De-Kontextualisierung – Einzeläußerungen oder Satzpassagen werden aus dem inhaltlichen Zusammenhang gerissen und verfremdet. So wurde die dem Feminismus zugewandte K. Rowling plötzlich als transphob deklassiert.
Wie könnte ein verantwortungsbewusster, informativer, kritischer Journalismus aussehen? Aufbauend auf eine im Idealfall deliberative Öffentlichkeit – wäre eine sich „beratschlagende“ Medienlandschaft denkbar. Entsprechend auch eine, die inklusiv und integrativ ist, also möglichst viele Meinungen einschließt und zusammenführt. Dazu gehört Tiefgang und Besonnenheit, also auch Zeit und Bereitschaft zur Zeitverzögerung. Weniger problemfixierter sondern lösungsorientierter Journalismus. Weniger katastrophenbegeistert sondern konstruktiv zu proaktivem Handeln motivierend unter dem Motto „Geht doch!“ ähnlich den aufgeführten Vorreitern Perspective Daily oder FUTURZWEI, so die beiden Autoren. Diskutiert wird auch eine wirtschaftlich und politisch unabhängige Lösung für Direktmedien analog der öffentlich-rechtlichen Sender. Die Frage bleibt aber, ob hierbei nicht Antagonisten vereint werden sollen. Auffällig ist zwar, dass die Direktmedien ein Maximum an demokratischer Essenz beinhalten: alles ist allen und immer verfügbar, jeder ist aktiver Teil des Ganzen. Sie sind optimal inklusiv. Leider aber minimal integrativ und damit anti-deliberativ.
#Ein kluges Buch. Lesenswert. Note: 2 ( ur) >>
>> Eine längst überfällige Analyse der Medienentwicklung in Deutschland zweier Autoren, die selbst die mediale Aufmerksamkeitsklaviatur perfekt beherrschen. Wie sich die „Verschiebung der medialen Plattentektonik durch Soziale Medien“ auf die sog. Leitmedien auswirkt, das ist die Schlüsselfrage. Reichweitenfetischismus, Clicks und Messtools, Hochgeschwindigkeits- und Trendjournalismus sind die Treiber der Veränderung. Analyse und Diskurs werden durch Vereinfachung, Personalisierung und Skandalisierung ersetzt. Bashingunkultur: Wulff, Laschet, Münckler, Flaßpöhler, Kimmich, die Autoren selbst, die Beispiele zahllos. Leitmedien neigen bei den großen gesellschaftlichen Themen Migration, Corona, Ukrainekrieg zum „Cursor-Journalismus“ und „Haltungsjournalismus“, wo eigentlich Differenzierung, Ambivalenzen und Grautöne angesagt wären. Vorverurteilungen: AfD-Sprech, Coronaleugner, Putinversteher, die Schubladen lassen sich leicht bedienen. Das Untersuchungsfeld der Autoren sind vor allem die Printmedien, auch deren Onlineportale. Was dabei zu kurz kommt, sind die öffentlichen-rechtlichen Medien, wobei gerade hier etwa bei der Besetzungscouch der unzähligen Talkrunden Ergiebiges zu holen gewesen wäre. Völlig ausgeblendet die Macht der Bilder (was wird wie gezeigt, was weggelassen), sicherlich eine Fundgrube wenn es um Informationsgehalt geht. Dass das schwindende Vertrauen in Politik und Demokratie auch etwas mit dem Verlust von Qualitätsjournalismus zu tun hat, führt zu der Frage wie der Vertrauensverlust wiederherzustellen wäre. Da reicht es meiner Meinung nicht der Gefahr der „Selbstverzwergung der Leitmedien“ mit einem doch recht diffuses Modell eines inhaltlich und ökonomisch unabhängigen „Aufklärungsjournalismus“ zu begegnen. Dennoch ein kluges sprachlich flott geschriebenes Buch, das anregt auch das eigene Medienverhalten zu hinterfragen, nicht jedem Hype und Trend zu folgen, den eigenen Erregungspegel zu zügeln, Urteilen nach Fakten., der mainstream ist nicht immer der Goldstandard. Power off – mehr eigener Kopf. Note: 2 – (ai) >>
<< Die beiden Autoren, omnipräsente mediale Leuchtfiguren, sind beleidigt. Der rote Faden: die Medien und die bundesrepublikanische Öffentlichkeit sind mehrheitlich ihrer Position zum Ukrainekrieg nicht gefolgt. Da kann was nicht stimmen, meinen die zwei Narzisse und machen sich auf die Suche nach dem, was da schiefläuft. Leider gelingt ihnen nur ein populistisches Thesenbuch voller Zerrbilder, das nichtsdestotrotz oder vielleicht auch gerade deshalb zum Bestseller wurde. Ihre Verniedlichung der Silvesternacht auf der Kölner Domplatte ist eine Zumutung. Eine Frechheit gegenüber den weiblichen Opfern. Das vierte Kapitel „The Unmarked Space“ kann man nicht mal den Hasen geben. Sie bekämen Verdauungsschwierigkeiten.
Positiv die Kritik, dass zuviel über Politiker (Outfit und so fort) anstatt über politische Inhalte geschrieben wird. Oder der sogenannte Meutenjournalismus. Bei den Opfern wird leider Philipp Jenninger vergessen. Klammer auf: die Rede, die zu seinem Rücktritt führte,hat Ignatz Bubis Mitte der 90er Jahren in Hamburg vorgelesen und viel Beifall bekommen. Erst nach dem Applaus sagte Bubis seinen Zuhörern, dass es die wörtliche Rede Jenningers war. Meutenjournalismus. Klammer zu. Positiv auch, die Erweiterung meines Wortschatzes. „Assholery“ war mir nicht bekannt. Harald Welzer hat in seinem Buch „Selbst denken“, das wir vor vielen Jahren besprochen haben, vorausschauend gesagt: „Rechnen Sie mit Rückschlägen, vor allem solchen, die von Ihnen selber ausgehen.“(Seite 293). „Die Vierte Gewalt“ könnte ein solcher sein. Herrn Precht wünsche ich viel Vergnügen beim Anschauen von Servus-TV. Note: 3 ( ax) <<