Das Gewicht des Schmetterlings-Erri De Lucca

K640_das gewicht des schmetterlingsGraf 2012,  106 Seiten.

 >> Der Vergleich drängt sich auf: Geht es in Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ um den Kampf eines alten Fischers mit einem gigantischen Schwerfisch, steht der ultimative Zweikampf eines alternden Jägers mit einem übermächtigen Gamsbock im Zentrum von Erri de Lucas  „Das Gewicht des Schmetterlings“. Doch anders als beim doch etwas angestaubten Klassiker habe ich mich bei dieser Erzählung keine Sekunde gelangweilt. Es mag an meiner weitaus größeren Affinität zur Bergwelt liegen, aber auch de Lucas Sprache entwickelte bei mir eine besondere Sogwirkung. Wer einmal Gemsen im Hochgebirge beim leichtfüßigen Klettern beobachtet hat, findet Sätze wie “ Die Hufe der Gämse sind die vier Asse eines Falschspielers. Durch sie ist die Schwerkraft kein Gesetz mehr, sondern eine Variante des Themas“ einfach wunderbar.
De Luca verleiht dem mächtigen Gamsbock eine menschliche Persönlichkeit, spricht von seinem Stolz, seiner Tapferkeit, seiner Liebe, seinem Mut, lässt den Leser an den Überlegungen der Gemse teilhaben ( „So wollte er nicht enden“). Dieser kennt seinen Widersacher, den „Mann“, den „Mörder seiner Mutter“ , der ihm schon seit Jahren auf den Fersen ist, ganz genau. Im Dorf, wo er das Fleisch und die Felle der gewilderten Gemsen verkauft, kennt und beschützt man ihn, nennt ihn den „König der Gämsen“, doch der Mann weiß genau , dass dieser Ehrentitel einem anderen König gebürt.
Kurz angedeutet wird die politisch revolutionäre Vergangenheit des Mannes, der sich nach deren Ende in die Berge zurückgezogen hatte und dort seither als einsamer Wilderer lebt und schon über 300 Gemsen erlegt hat. Nur den mächtigen König konnte er bisher nicht erlegen. Die Zeit drängt aber, denn der Gamsbock ist schon alt und würde das nächste Jahr vermutlich schon nicht mehr erleben. Ebenso ergeht es seinem Jäger, auch der sieht sein eigenes Ende nahen. Und so strebt alles unaufhaltsam dem großen showdown entgegen. Das titelgebende „Gewicht des Schmetterlings“ gibt dem Geschehen schließlich eine schicksalhafte Wendung. Ein Hinweis auf die beängstigende Macht des Zufalls, der schmetterlingsleichten Grenze zwischen Leben und Tod. Für mich ein sehr stimmiges Bild und selbst die Verschmelzung der beiden „Er“- Figuren im Tod  bleibt unterhalb der Kitschgrenze. Einem Sprachkünstler verzeiht man halt so manches.
Note: 1– (ün)<<

>> „An diesem Novembertag spürte der König, dass sein Untergang nahte“ (S.14) –  „An diesem Novembertag spürte der Mann, dass sein Ende nahte“ (S.29).  Ein letztes Duell zweier Einzelgänger in der Bergwelt der Dolomiten steht an. Hier der König der Gämsen, ein prächtiger aber in die Jahre gekommener Gamsbock,  20 Jahre unumschränkte Herrschaft über sein Rudel, die brünstigen Weibchen stets zu Diensten, dort der 60jährige Wilderer, in seiner Jugend ein politischer Revolutionär, dann aber enttäuscht  in die Berge seiner Kindheit zurückgekehrt, abweisend gegenüber allem Weiblichen . Dieser letzte Novembertag wird von einem Erzähler sprachlich virtuos aus der Perspektive des jeweiligen Protagonisten beschrieben. Seit Jahren war es dem Wilderer mit seiner 300er Magnum und einer Elf-Gramm Kugel nicht gelungen den König der Gämsen zu erlegen. Unfehlbare Witterung und Beherrschung der Szenerie verhindern, dass den König der Gämsen das Schicksal „seiner Mutter“ ereilt. Mit der Personifizierung des Tiers wird die Auseinandersetzung mit „dem Mann“ zu einem Gefecht auf Augenhöhe, ja der König der  Gämsen gewinnt gar an Souveränität gegenüber dem Wilderer. Selbst bei letzten „show-down“ verzichtet der Gamsbock auf mögliche Rache – die Tötung des Jägers wäre ein Leichtes gewesen – und ergibt sich mit Stolz dem Todesschuss. Mag auch an einigen Stellen die poetische Sprachgewalt des Guten zu viel sein, de Luca kann einfühlsam beobachten und Natur großartig beschreiben.
Schade nur, dass nicht der Wärmestrom eines weiblichen Dickichts sondern die Zweisamkeit des Eismanns das letzte Wort hat. Das Gewicht des Schmetterlings hätte auch auf dem Horn des Mannes einen würdigen Platz gefunden. Note: 1/2 (ai) <<

>> Erri de Luca als der europäische Ernest Hemingway? Nein – oder vielleicht geringfügig ja, wenn man die beiden Werke „Das Gewicht des Schmetterlings“ und Hemingways „ Der alte Mann und das Meer“ vergleicht. Beide Erzählungen zeigen Parallelen in zahlreichen Strukturelementen, die Handlungskonzepte scheinen einem ähnlichen Grundprinzip zu folgen, wenn auch einmal in den Bergen Europas und das andere Mal in den Meeren Amerikas. In Details der Plots sowie im Sprachduktus verhalten sie sich jedoch wie Fremdsprachen zueinander.
Beide Werke handeln gleichermaßen von willensstarken Mannsgestalten, die den unmittelbaren Kampf mit ebenso fordernden Kreaturen der Natur suchen. In beiden Fällen sind es Einzelgänger mit entrückten Beziehungen zu Frauen, weitgehend losgelöst, teils entfremdet von sozialen Bezügen. Ihr Dasein ist hier wie dort ein schlichtes Überleben in spartanischer Einsamkeit, reduziert auf das Ich vor der eindeutigen Kulisse der Felslandschaften bzw. dem endlosen Meereshorizont. Gemein ist beiden auch das fortgeschrittene Lebensalter und die Todesnähe, die den Drang noch einmal etwas Großes zu tun, wesentlich befördert. Sich am Ende des Lebens zu wissen, verändert die Männer in zweierlei Weise. Zum einen schwindet im Anblick des natürlichen Endes annähernd jede Furcht und erlaubt Grenzen zu ignorieren. Zum anderen ermöglicht dieser Zustand den Zielpunkt ins kaum noch Machbare zu steigern. Entsprechend schwergewichtig muss die Zielgröße sein. Für den Fischer ist es ein Schwertfisch und für den Wilderer ein Gamsbock – in beiden Fällen von noch niemals beobachteter Größe, Kraft und Gefährlichkeit, die die Männer spielend das Leben kosten könnte. Beiden Männer gelingt der Todesstoß, beide eignen sich die Beute an, beide tun dies ohne Reue aber mit Respekt vor dem ebenbürtigen Gegner, und beide verlieren am Ende die erlegte Trophäe: der eine an die Haifische, der andere an den Tod, der ihn überrascht. Soviel zu den Ähnlichkeiten.
Der alte Fischer kennt nur den Wunsch nach einem großen Fang ohne einen wesentlichen Einfluss auf die Wahl des Opfers zu haben. Ganz anders dagegen der Wilderer, der schon seit Jahren gezielt dem König der Gämsen auf der Spur ist. Während der Fischer quasi im schuldfreien Raum fischt, betreibt der Wilderer sein Tun in einer erklärten Verbotszone. Während die Tat des Fischers in erster Linie Lebenserhalt und nur bedingt Ego-Pflege ist, ist beim Wilderer die Gewichtung umgekehrt. Der Mann der Alpen ist anders als der Fischer schon immer ein Rebell gewesen, übrig geblieben und vereinsamt aus den 68er Jahren, geschult im taktischen Kampf und angepasst an ein Dasein im Untergrund.
Ähnlich verschieden sind die natürlichen Gegner. Hier der unbekannte Marlin in der lichtlosen Tiefe des Ozeans und dort der Gamsbock, an dessen Sozialisation der Leser ebenso teil hat wie an seinen ungewöhnlichen Charakterzügen. Während Hemingway den tierischen Gegner weitgehend in der Beschränktheit belässt, wie man ihn über eine Fanglehne eben nur wahrnehmen kann, humanisiert de Luca den Gamsbock und bereitet damit den Zweikampf auf Augenhöhe vor. Der Gamsbock denkt, täuscht, entwickelt Ehrgeiz und zeigt ein Kausalverständnis, wenn er sein Fell in einem Spannungsfeld wenig später einschlagender Blitze auflädt, um seine Flöhe zu verscheuchen. Dieses Tier ist ebenso wie der Wilderer ein Outlaw: unter Härten gereift, Gesetze ignorierend, brutal im Zweikampf, aber dennoch majestätisch und mit ansteckendem Stolz. Der Fischer kämpft mit einer Naturgewalt, der Wilderer gegen eine Identität.
Sehr verschieden ist beiden Werken auch der Duktus: bei Hemingway die ungeschmückte, fast unbekleidete Sprachgebung, bei de Luca das raffinierte Gewand mit überraschenden Accessoires, feinfühligen Metaphern und der belebende Verzicht auf einen ausschließlich gradlinigen Handlungsstrang. Doch leider bügelt de Luca die Wäsche zu heiß, in dem er wiederholt die Grenze zum Kitsch ignoriert. Warum muss ein weißer Schmetterling als Zeiger einer Schicksalsuhr ein halbes Dutzend Mal bemüht werden? Warum muss der Wilderer just nach dem Erlegen des Gamskönigs auch sofort aus dem Leben scheiden? Warum müssen die beiden Todesfälle sogar in einer Umarmung enden, in dem der tote Gamsbock auf dem toten Wilder fest friert, so dass man sie im nächsten Frühjahr mit der Axt trennen muss? Und warum braucht es dann noch zuguterletzt den gefrorenen Abdruck eines weißen Schmetterlings auf dem Horn der toten Gams? (Hier wäre das erotisch offene Ende eines versierten Mitlesers – siehe dort – gehaltvoller gewesen.)
Empfohlen wird dennoch die simultane und damit mehr als additive Lekture des Nobelpreis- und des Petrarca-Preis Werkes. Note:  2– (ur)<<

 >> „Der Schmetterling, der Schmetterling, war einmal auch  n u r Engerling“, heißt es in einem Gedicht des leider fast vergessen Anton Kreidebleich. Dieser Vers fiel mir während der Lektüre des kurzen Romans ein, weil ein Schmetterling eine schicksalhafte Rolle spielt. Wie im Film, wenn die Musik einen spüren lässt, dass Wichtiges passieren wird, flattert ein weißer Schmetterling durch die Schlüsselstellen, ja begleitet die beiden Protagonisten bis in den Kältetod. Beide, Tier und Mensch wissen und spüren schon früh, dass sie dem Exit nahe sind. Dabei bleibt der Wilderer in seinem selbstmarginalisierten Außenseitertum für mich der sympathischere. Der Gämsenkönig ist einfach ein zu großer Macho.
Die „Humanisierung“, die Vermenschlichung von Tieren, wie sie der Autor hier praktiziert, spricht mich nicht. Ich erlaube mir von einer „Bambisierung“ zu sprechen.
„Die Ziege des Herrn Seguin“ (Alphonse Daudet), die eine nachtlang mit einem Wolf kämpft und erst  im Morgengrauen aufgibt, gefällt mir besser. Note:  3– (ax)<<

Epilog

Der Schluss der Erzählung hat nicht alle zufrieden gestellt. Und so wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Literarischen Quartetts eine eigene Version (ai) der Schlussszene vorgestellt.

Was würde sie ihm schon entlocken können, diese Frau, die die schamlose Intimität besessen hatte mit ihrer feuchten Hand seinen gegerbten Unterarm zu berühren. Jetzt, da der Mann abendschwer zurückkam in seine Hütte, gab es Gelegenheit nachzudenken, ob denn jenes Gefühl der Vertraulichkeit mit den Bergen ihn unempfänglich gemacht hatte für eine Begegnung ganz anderer Art. Beim Blick zurück stand der Gamsbock noch immer auf dem Felsvorsprung, stolze Kraft, talbewachend. Beim Eintritt In die Stube knisterten die Scheite aus Tannen- und Lärchenholz. Der Gewohnheit folgend lehnte er seine 300er-Magnum an die Ofenbank. Noch vor wenigen Stunden hatte sie den König der Berge gekränkt. Wie konnte ihm auch nach all den Jahren der wildernden Unfehlbarkeit jener Schuss entgleiten, nein, nicht nur fingerbreit, krachend stiebte unter den Vorderläufen der Stein. Der Ostwind schlug gegen das halbgeöffnete Fenster.  Er goss sich heißes Wasser in den vom Morgen noch abgestandenen Becher von Felsenrapunzel und fuhr sich mit der Rechten übers Gesicht.  Gewehröl und getrockneter Schweiß hatten die Triebe von Ginster und Latschenkiefer überdeckt. Der Mann blieb stehen. Was er jetzt vor sich sah, hatte sich nicht angekündigt wie jener Blitz in den Bergen, der am Boden zunächst sein elektrisches Spannungsfeld aufbaut, bevor er zuschlägt. Er hatte auch keinerlei Witterung irgendeines Parfums wahrgenommen wie vor Tagen drunten als die Journalistin ihn geradezu bedrängt hatte zu ihm hinaufzuklettern. Vor ihm lag hingestreckt auf schwarz glänzenden Lammfelldecken ein Frauenkörper, schutzlos, nackt, begierig fordernd. Der Mann wandte sich ab. Die Gattung Mensch ist mit mangelhaften Sinnesorganen ausgestattet. War er zu rasch abgestiegen, hatte der Fehlschuss die Sinnestäuschung ausgelöst. Hatte nicht oben nachdem die jungen Böcke ihre Kräfte maßen einer, ohne von den anderen bemerkt zu werden, in der ersten Hitze eine Geiß bestiegen.  Noch Stunden danach nimmt der Mensch den Mandelgeruch wahr, der ihren Geschlechtsdrüsen  hinter den Hörnern entströmt. Der Mann hatte nicht die Zeit die Wahrscheinlichkeit des Augenblicks zu überprüfen. Es zog ihn hin. Er fühlte sein schwellendes Horn eingegraben in den samtenen Unterschlupf, einem sicherlich nicht gänzlich unberührten Dickicht. Kein Rudel weit und breit. Zweisame Einsamkeit wie er sie noch nie erlebt hatte – wortlos. An diesem Novemberabend spürte der Wilderer, dass sein Ende nahte. Sein Unterarm blieb unberührt. War es das Abendgeläut einer fernen Glocke oder der Flügelschlag  eines weißen Schmetterlings, den er noch wahrnahm.

Der alte Mann und das Meer-Ernest Hemingway

K1024_der alte Mann und das Meerrororo 2012 144 Seiten.

>> Nobelpreis hin oder her: Ich habe mich gelangweilt bei der Lektüre dieses Klassikers. Die lakonische, einfache Sprache, in der parabelhaft der ewige Kampf des einsamen Fischers Santiago mit dem Meer erzählt wird, wirkt heute doch ein wenig abgehangen und wenig aufregend. Die Kernbotschaft: „Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben“ (S.117)  ist unverzichtbarer Teil des fragwürdigen Selbstbildes der amerikanischen Nation, verinnerlicht vor allem durch den von Hollywood gepflegten Mythos des Siedlers in den unendlichen Weiten des Westens. Note: 3 (ün)<<

>> 84 Tage fährt der alte Fischer Santiago hinaus aufs Meer ohne einen Fisch zu fangen.  40 Tage in Begleitung des  Jungen Manolin . Aber es ist keine „endgültige Niederlage“ des alten Mannes. Die letzte Fahrt hinaus aufs Meer bringt die Wende. Ein riesiger Marlin „niemals habe ich etwas Größeres und Schöneres oder Ruhigeres  oder Edleres gesehen“ hat angebissen und zwischen Fischer und Fisch entwickelt sich eine merkwürdige Schicksalsgemeinschaft. In Selbstgesprächen und fiktiven Gesprächen mit dem  Fisch erhält der „Show-down“ weit draußen vor der Bucht von Havanna eine philosophische Dimension.  Respekt und Würde („ungeheure Würde des Fisches“) kennzeichnen den Zweikampf zwischen Mensch und Natur. Ein Todeskampf auf Augenhöhe allerdings ist es nicht, bedeutete doch das Kappen der Leine für den Fischer nur den Verlust der Ware, nicht aber den Verlust des Lebens. So gesehen sind verbale Tötungshemmungen „Der Fisch, mein Freund“, „Bruder  Fisch“, „Es tut  mir Leid, Fisch“ auch angesichts des Berufsethos eines Fischers obsolet. Solche Wertschätzung des Opfers genießen übrigens Markrele, Thunfisch und andere nicht, ganz zu schweigen vom Killerimage bestimmter Haie, denen Santiago mit Harpune, Messer, Keule wenig zimperlich zu Leibe rückt. Was zunächst nach zweitägigem und nächtigem –  auch für den Fischer – blutigem Kampf mit der Harpunierung des Fisches als Sieg erscheint, verliert mit dem Auftritt der Haie im wahrsten Sinne jede Größe . Der Kreislauf der Natur verhindert den großen Fang. Statt reicher Beute, statt auskömmlicher Lebensgrundlage bleibt vom großen Fisch ein Kopf und ein stattliches Gerippe, das am  Strand vor der „Terrace“ von unwissenden Touristen für einen Hai gehalten wird .  Was aber für Santiago und den Hemingwayschen Leser bleibt, ist das sattsam bekannte immer wiederkehrende uramerikanische Credo: „Aber der Mensch darf nicht aufgeben…Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben“. Santiago – ein sehr gebrochener Heldenmythos- in einfacher Sprache, mit noch einfacherer Botschaft.
Die Faszination und die Aura, die diese Erzählung seit ihrem Erscheinen umgibt, wollte sich bei mir nicht einstellen. Ernest verzeih! Note : 3/4 (ai) <<

>> Hervorgegangen aus einem kürzeren Zeitschriftenbeitrag 1936 formte E.H. die 1951 vorliegende Form der Santiago Geschichte zu einer Parabel über die schicksalhafte Verknüpfung von Lebensbestimmung an der Sollbruchstelle von kargem Leben, sinnstiftender Aufopferung, ihrer Vergeblichkeit und tödlicher Begegnung zwischen den Kreaturen. Schon 3 Jahre später erhielt Hemingway auch dafür den Literaturnobelpreis. In schlichter Prosa zeichnet er das Wertesystem eines einfachen Lebensentwurfs. In diesem dient das gefahrvolle Hochseefischen eines alten Mannes nicht nur dem Lebenserhalt sondern ist auch die Bühne für das Selbstwertgefühl. Die Ich-Steigerung und das damit einhergehende Töten entpuppt sich als respektvolles Kräftemessen, in dem der eigene Tod nicht gescheut, sondern als verdienter Erfolg der sich wehrenden Natur nicht ausgeschlossen wird. Ein Mann kämpft, hart gegen sich selbst, unbeirrt, aufrichtig und prinzipienfest. In diesem Sinne auch Sinnbild amerikanischer Ideale. Und dennoch steckt in der Parabel auch ein antiidealistischer, fatalistischer Zug, denn dieser Kampf entpuppt sich als vergebens und die Frage steht im Raum, ob er besser nicht hätte gekämpft werden sollen.
Der alte Fischer Santiago träumte schon lange nicht mehr von den großen Kämpfen und den Frauen, wenn er in seiner dürftigen Hütte auf dem zusammengerollten Hemd seinen Kopf für die Nachtruhe bettete. Der 85ste Tag würde morgen anbrechen, ohne dass er einen einzigen Fisch gefangen hatte. Der kleine Junge brachte ihm in aller Frühe einen Kaffee, wie er überhaupt wie ein Alter für den Alten sorgte. Wieder stieg der Fischer in sein schon lange leidendes Boot, wie immer ohne Proviant und ruderte weiter ins Meer hinaus als sonst. Das Meer war für ihn nicht der Feind el mar, für ihn war die weibliche See eine schenkende Frau, wenn auch von launischer Natur. Drei lange Leinen mit kleinen Sardinen gespickt, ließ er in unterschiedliche Tiefen hinab, während er weiter in den Horizont trieb. Eins mit dem Dialekt des Meeres verstand er die Sprache der Makrelen, ließ sich von den Fregattvögeln lenken, schätzte die Meeresschildkröten, die mit Genuss die gallerte Agua mala mit ihren feuerschmerzenden Tentakeln fraß und liebte die Gutmütigkeit der Tümmler.
Endlich biss ein weißer Thunfisch an, der einen prächtigen Köder abgeben sollte. Wie er viel später feststellte, hatte tatsächlich in einhundert Faden Tiefe ein unglaublich schwerer Marlin den Thunfisch verschlungen. Der Marlin war so gewaltig, dass er das Boot auf das offene Meer hinauszog. Immer die gleiche Richtung, immer die gleiche Geschwindigkeit, nie auf- und nie abtauchend. Dennoch mit sich nicht im Geringsten erschöpfender Kraft. Damit das Seil durch einen plötzlichen Zug des Fisches nicht riss, hatte es der alte Mann um seinen Rücken gewunden. Es war ihm unmöglich gegen die Kraft des Fisches das Seil einzuziehen. Unbändig war der Zug. Lange war schon kein Land mehr in Sicht. Die Nacht war hereingebrochen, der schmerzende Rücken wurde fast unerträglich. Doch der Alte gab nicht nach, selbst nachdem er durch eine abrupte Bewegung des Fisches blutig zu Boden gerissen wurde. Der Morgen brach an und die sengende Sonne begann die Luft erneut zu fressen. Der quälende Krampf seiner um das Seil gepressten Hand war nicht mehr zu lösen. Dann stieg der Fisch an die Oberfläche. Es war ein riesiger Marlin, größer als man je zuvor einen gesehen hatte, noch größer als das Boot. Unmöglich ihn ins Trockene zu holen.
Trotz des Respekts für die Kreatur war der Wille des Alten unbändig. Ebenso der Glaube an sich, nachdem er vor vielen Jahren einen eine ganze Nacht dauernden Kampf im Armdrücken gewonnen hatte. Es blieb das unerschütterliche Gefühl mit festen Willen jedes Ziel erreichen zu können. Er wusste, dass er den Fisch niederkämpfen würde, selbst wenn dieser ihn töten sollte. Dies war ihr gemeinsames Schicksal. Der riesige Fisch wurde langsamer und gab dem Alten die Möglichkeit kleine, gefangene Fische roh zu verschlingen um bei Kräften zu bleiben. Es würde aber keinen Menschen geben, der es wert gewesen wäre, sich so einen stolzen Marlin einzuverleiben. Die zweite Nacht brach herein. Plötzlich explodierte der Fisch aus dem Ozean, sprang wieder und wieder in die Höhe, um krachend ins Meer zurückzustürzen, während das rasend schnell nachgebende Seil dem Alten Hand und Rücken versengte. Bis zum Morgen sollte der Fisch zunehmend an Kraft verlieren, immer engere Kreise um das Boot ziehen, um schließlich entlang des Bootes hin- und her zu schwimmen, was der Alten nutzte, um die Leine immer weiter zu verkürzen. Als der Fisch an der Oberfläche dicht am Boot vorbeizog, rammte er ihm die Harpune so tief in den Rücken, dass das Herz durchstoßen wurde. Er hatte noch nie einen so edlen Bruder gesehen. Jetzt füllte er sich schlecht – nicht weil er überlebt hatte, sondern weil sein Sieg die Niederlage dieser würdevollen Natur war. Dennoch war dieses seine Bestimmung.
Der Alte vertäute den Marlin am Boot und setzte das kleine Segel. Schon nach einer Stunde brach der erste Hai ein riesiges Stück aus dem Marlin. Auch wenn der Alte mit der Harpune den Hai erlegen konnte, war seine Würde und die seines angefressenen Bruders schmerzlich entweiht. Bald folgten weitere Haie, gegen die der alte Mann mit sinkendem Erfolg erbitterten Widerstand leistete. Bei jedem Angriff der Jäger wurde der große Fisch in kleinere Stücke gerissen. Bei jedem Angriff büßte der Fischer weitere Waffen ein, bis er schließlich sogar die Pinne vom Ruder riss, um hilflos auf die fressgierige Horde einzuknüppeln. Während die Nacht noch geduckt auf dem Ozean lag, zerfiel der stolze Marlin zu einem fleischlosen Gerippe. Der Alte hatte den Kampf verloren. Er war ebenso getötet worden. Jetzt fraß die Reue ihn, denn sein Töten war den Tod nicht wert gewesen.
Gegen Morgen erreichte er irgendwie den kleinen Hafen. Leer verkroch er sich in seine Hütte, wo ihn später der Junge fand, während die Dorfbewohner ungläubig vor dem gewaltigen Skelett standen, das immer noch an der Bordwand hing. Ja, er würde mit dem Jungen wie früher wieder hinausfahren. Der Kleine wollte noch so viel lernen.
Note: 
2– (ur)<<

 >> Der Inhalt des Romans ist Ihnen, geneigter Leser, geneigte Leserin, sicherlich nicht unbekannt. In einem Projekt der lokalen Gender-Mainstreamforschung (gefördert mit Dritt- und Viertmitteln sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG) wird derzeit untersucht, wie der Roman ausgesehen haben könnte, so der alte Mann eine alte Frau gewesen wäre. Erste Zwischenergebnisse zeigen, dass sich sowohl der Schwertfisch als auch die Haie nicht wesentlich anders verhalten hätten. Sie folgen ihrer naturgemäßen Bestimmung, basta. Die Kommunikation Fischerin- Schwertfisch wäre hingegen sicherlich noch etwas empathischer ausgefallen. Und Hemingway hätte sich die langweiligen Einschübe zum Thema  Baseball locker sparen können. Ebenso Santiagos Träume über Löwen. Welche Frau träumt von Löwen? In der Forschung konnten bislang nur Hauskatzen als Traumthemen nachgewiesen werden. Manche Reflexionen würden, von einer Frau gedacht, an Tiefgang gewinnen. Mit vier Sätzen (Seite 84) kann dies leicht belegt werden: „Stell dir mal vor, wenn eine Frau jeden Tag versuchen müsste, den Mond zu töten, dachte sie. Der Mond läuft davon. Aber stell dir mal vor, wenn eine Frau jeden Tag versuchen sollte, die Sonne zu töten. Wir sind noch glücklich dran, dachte sie.“ Das dachte ich auch. Bis heute.
Und Santiago? Ich glaube, wir müssen uns Sisyphos Santiago als glücklichen Menschen vorstellen. Note:  3 (ax)<<