Die Rote – Alfred Andersch

Diogenes Taschenbücher 1974 (1960) – 235 Seiten

>> Nach dem nüchternen Realismus von Sansibar oder Der letzte Grund (1957) erscheint drei Jahre später das eher dem Unterhaltungsroman nahestehende Werk Die Rote. Das zentrale Anliegen des Autors „Flucht“ wird jedoch auch hier in den Protagonisten ein weiteres Mal variiert. Die Hauptperson Franziska flüchtet zwar nicht vor der historischen Vergangenheit, im weiteren Sinne aber vor den Zuständen, die daraus erwachsen sind. Ihre Zufallsbegegnungen auf dieser Flucht sind wiederum Männer, in denen der erst 15 Jahre zurückliegende Weltkrieg tiefe Spuren hinterlassen hat. Das Ende der Geschichte bietet keine Lösung in diesem Geflecht an, wohl aber eine Ahnung, die auch eine Hoffnung sein kann.

Handlung.

            Franziska (30) ist die ohne politischen Hintergrund teil-emanzipierte, streitbare Dolmetscherin, die sich in vier Sprachen verständigt. Ein Kind des aufstrebenden Nachkriegsdeutschlands mit vagen Sehnsüchten nach Wohlstand, anspruchsvollem Freiraum und partnerschaftlicher Geborgenheit. Genau diese verweigert ihr Herbert, den sie sich vor drei Jahren als Gatten nahm. Den Entschluss fasste sie erst, nachdem Herberts Vorgesetzter ihr die Ehe verweigerte. Aus tiefer Enttäuschung flüchtet sie überstürzt in das nekrophile November-Venedig.

            Der Ire Patrick O`Malley opfert Lebenszeit, um eine Rache abzuarbeiten, die er als Sühne einer erzwungenen Schuld verklärt. Als britischer Spion wurde er im Kriegsdeutschland gefasst und nur deshalb von der Todesstrafe verschont, weil er einen britischen Kollaborateur verriet, der dies mit dem Leben bezahlte. Das daraus erwachsene Schuldgefühl entwurzelte O`Malley. Da er den Nazi-Schergen Kramer für sein Umschwenken bei den Verhören verantwortlich macht, sucht er sich mit einem geplanten Mord an Kramer zu befreien. Tatsächlich macht er ihn in Venedig ausfindig. Als er ihm jedoch begegnet, verharrt er geradezu paralysiert, weil seine homosexuelle Sanftheit die herrische Härte von Kramer nicht zu durchdringen vermag. Einander durchschauend umkreisen sich beide wie ein psychologisches Terror-Mobilé. O`Malley kommt dabei jedoch nur die entwürdigende Rolle eines bedeutungslosen Insekts zu.

Zufällig begegnet O`Malley Franziska. Er erkennt schnell, dass sie eine Person ist, deren Gerechtigkeitssinn und innere Stärke Kramer fürchten müsste, wenn Franziska sich gegen ihn wenden sollte. Franziska bleibt verborgen, dass O`Malley sie instrumentalisieren will, als er sie in Einzelheiten seiner Leidensgeschichte einweiht. Bei einem erniedrigenden Treffen mit Kramer stellt sich prompt das von O`Malley antizipierte Beziehungsgeflecht ein: Franziska greift emotionsgeladen Kramer an, Kramer beginnt die öffentliche Entlarvung durch Franziska zu fürchten. Er verfolgt sie. Diesem von O`Malley kalkulierten Mechanismus folgt Kramer bis er Franziska auf O`Malleys Boot stellen kann. O`Malley gelingt es in dieser Situation, Kramer zu einem mit Strychnin vergifteten Bier einzuladen. Kramer bezahlt dies mit dem Leben.

Franziska wendet sich ab. O`Malley muss schmerzlich erkennen, dass der Rachemord seine Ursprungsschuld nicht tilgt, sondern weiter steigert.

In eingestreuten Parallelepisoden erfährt der Leser von einem Fabio Crepaz. Ehemals kommunistischer Partisan, inzwischen zutiefst enttäuscht von den verlorenen politischen Idealen, hat er jede ernste Bindungsfähigkeit verloren. Stattdessen ist er in die Rolle eines mittelmäßigen Orchestermusikers geflüchtet. Musik als Seelenbalsam. Am Ende des Romans kreuzen sich die Wege von Fabio und Franziska. Beim Leser wird die Vermutung geschürt, dass beide einander über die psychischen Abgründe hinweghelfen könnten. Das Ende bleibt jedoch offen.

            Der Kern des Romans könnte in der Methapher der Riesenratte liegen, die mit ihrem Nest den Kaminabzug eines venezianischen Klosters verstopft. Als sie aufgescheucht wird, kommt es mit dem Klosterkater zu einem für beide tödlichen Kampf. Entsprechend sind auch die Lebenswege und Seelen der Hauptfiguren blockiert. Die Aufarbeitung kann äußerst schmerzhaft sein, vielleicht sogar vernichtend. Der Gewinn würde ein freier Durchzug in den Luftschächten des Daseins bedeuten.

Ein gutes Werk, das individuelle und politische Verstrickungen in einen spannenden, tiefschürfenden Zusammenhang bringt.  Note: 2 (ur)<<