Am Tag davor – Sorj Chalandon

dtv  2017/ 2019 | 316 Seiten.

ISBN 978-3-423-28169-0

>> Dass sich in diesem Buch eine reale Bergwerkskatastrophe und eine persönliche Tragödie zugleich ereignen, enthüllt uns der Autor erst schrittweise gegen Ende des Romans. Nicht nur das ist dramaturgisch perfekt konstruiert.  Faszinierend wie sich aus der Perspektive des 16 jährigen Michel Flavent das Geschehen des 26. Dezembers und des Grubenunglücks am 27. Dezember überlagern. Und damit stellt sich auf zwei Ebenen die Frage von Schuld und Sühne. Was sich im Schacht 3b von Liévin  ereignet, ist Folge eines Grubengasunglücks, Profitgier sticht Sicherheit, so ist das Leben 710 m unter Tage. Das ist ein Stück brilliant recherchierten Bergmannslebens und der Kohleindustrie: Maloche, Kumpelsolidarität neben Vorarbeiterkontrolle, lebenslanger Bedrohung auch nach der Zeche, fast jede Familie hat ein Opfer aber auch dem Stolz eines Berufs, dem die Industrienationen ihren Wohlstand zu verdanken hatten. Was sich aber im Kopf des „Pochjungen“, abspielt (auch eine Form von unter Tage), der „am Tag davor“ in der Figur des Rennidols Michel Delanet seinen geliebten Bruder Jojo durch einen Mopedunfall verliert, das ist die geniale Geschichte eines Psychogramms, die im Detail Psychoanalytiker zu enträtseln vermögen. Mit der literarischen Figur des Gefängnispsychiaters Adrien Croizet wird uns im Gegensatz zu den anderen psychologischen Fehlbesetzungen ein würdiger Vertreter des Faches vorgestellt.  Erst der Prozess nach dem Mordversuch an Lucien Dravelle befreit Michel Flavent aus seinem inneren Gefängnis, das ihm die Bürde seines Vatersbriefs bisher lebenslang auferlegt hat. Überhaupt erweist sich der Prozess gegen den inzwischen 57jährigen Michel Flavent auch als Katharsis für den zunächst nur als „Dreckskerl“ wahrgenommenen  Dravelle, der sich der Verantwortung für die Katastrophe vom 27.Dezember stellt.

Mich hat in dem Roman vieles gefesselt und berührt, vielleicht mit am stärksten die Geschichte Michel Flavents und einer Frau Cécile, die in der den Roman abschließenden Traumgeschichte einen Abschluss findet, der auch sprachlich ganz ganz große Literatur ist und der uns als Leser einen versteckten Wink gibt, dass Cécile vielleicht doch die wahre Geschichte ihres Michel gekannt hat.

Das „ich weiß“ bleibt offen und das ist gut so, weil alles, was wir in diesem Roman erfahren, die Erfahrung des Ich-Erzählers Michel Flavent alias Michel Delanet ist.

Note : 1+ (ai) <<

 

>> Der Tag davor ist der 26. Dezember 1974, ein Tag vor dem größten Grubenunglück in der Geschichte Frankreichs. Der Tag davor ist auch der letzte Tag einer ungewöhnlich intensiven Bruderliebe. Im Am Tag davor verknüpft Chalandon das Bergwerksdrama mit dem Lebensdrama zweier Brüder. Während der größere Bruder Jojo sein Leben verliert, verschüttet sein Tod das Dasein des Jüngeren, Michel. 40 Jahre wird er davon verfolgt werden, bis er mit einem Befreiungsmordversuch ansetzt auch sein eigenes Dasein abzuschließen. Erzählt aus dem Munde des Jüngeren, erscheint diese Entwicklung lange Zeit als Vergeltung an den Verantwortlichen des Bergwerksunglücks und bekommt damit eine sozialpolitische Dimension. In einer literarisch raffinierten Konstruktion überrascht der Autor jedoch den Leser mit einer ganz anderen Wahrheit. Die politische Ebene changiert augenblicklich in eine psychologische, an deren Ende das tragische Wechselspiel von Schuld und Sühne regiert.

            Sorj Chalandon lässt Michel über 200 Seiten die von ihm verklärte Lebensgeschichte darlegen, deren offensichtliche Tragik keinen Zweifel erlaubt. Anfang der Siebzigerjahre lebt die vierköpfige Familie vom dürftigen Ertrag ihrer zukunftslosen Landwirtschaft. Jojo lässt sich gegen den erbitterten Widerstand des Vaters als Bergarbeiter rekrutieren. Der vierzehn Jahre jüngere Bruder Michel verfolgt bewundernd den großen Bruder, der rührend den Kleinen umgarnt. Michel teilt die unbändige Lebensfreude wie auch die kämpferische Kritik an den täglichen Bergbauquälereien. Dann kommt Weihnachten ´74. Die Profitsucht der Werksleitung provoziert ein Grubenunglück. 42 Bergleute sterben sofort, Jojo wird laut Michel schwer verletzt, seine Eltern werden erniedrigend abgefertigt. Jojo erliegt schließlich seinen Brandverletzungen im Krankenhaus. Unter der Hand wird ihm vorgeworfen, bevorzugt in einem weiß-bezogenen Krankenhausbett gestorben zu sein, während Kumpel unter Tage verbrannten. Von anderen Ehefrauen wird Jojos Gattin gedemütigt, die versuche, mit Heulen eine Witwenrente zu ergaunern. Mit größter Verbitterung muss Michel wahrhaben, dass der Name seines Bruders nicht auf den Gedenksteinen der Opfer aufgeführt wird, weil er zu spät gestorben war. Als schließlich aus Verzweiflung auch der Vater sich das Leben nimmt, hinterlässt er Michel das Vermächtnis, sich im Namen der Familie an der Zeche zu rächen.

            Michels Vertiefung in das Unglück gipfelt in der Errichtung eines Mausoleums. In einer über Jahrzehnte angemieteten Garage wird er alle verfügbaren Zeitungsartikel, Requisiten und Erinnerungsstücke sammeln. Es ist der Ort, an dem seine Trauer gebündelt und seine grenzenlose Traurigkeit beständig neu belebt wird. Es ist eine Dunkelheit, die später seine Frau als zerstörerisches Lebensmotiv entlarven wird. Es wird schließlich eine Finsternis, in der eine ganz andere Alptraumwirklichkeit Gestalt annimmt.

            Michel ist kein Gewalttäter – im Gegenteil. Der Autor zeichnet ihn als feinfühligen Charakter mit unendlicher Geduld und grenzenloser Liebe, als er seine Frau Cécile in den Krebstod begleitet. Sie gab ihm die Kraft das Jugendtrauma gerade noch zu ertragen. Als sie stirbt, ist für Michel der letzte Lebensanker losgerissen. Für ihn bleibt nur noch die Schlussrechnung zu begleichen. Chalandon zeichnet dem schauenden Leser ein groteskes Mordgemälde, in dem ein nackter, Kohle verschmierter Täter auf dem Opfer liegt. In Dravelle hatte Michel Jojos Vorarbeiter gefunden, der die tödliche Schlagwetterexplosion mit zu verantworten hatte. Dravelle wird zum Vollzug von Michels Vermächtnis. Michel mietet eine billige Absteige im Revier, verkehrt monatelang in altgedienten Bergwerksgaststätten bis er schließlich auf den invaliden Dravelle stößt. Nach mehrmaligen Besuchen zieht er dem lungenkranken Steiger die erstickende Tüte über den Kopf. Mit seiner folgenden Selbstanzeige scheinen Vergeltung und Selbstbestrafung vollzogen.

            Chalandon durchbricht an dieser Stelle den gradlinigen Handlungsstrang um einen weiteren Spannungsbogen aufzubauen. Dravelle kann wiederbelebt werden. Was folgt, ist eine überaus interessante Prozessdarstellung, weil die Tataufarbeitung einen unerwarteten Verlauf nimmt. Justiz und Presseöffentlichkeit reagieren mit angedeutetem Verständnis, sind Tod von Bruder und Vater doch ursächlich verbunden mit kapitalistischer Ausbeutung. Der Mordversuch erscheint damit als erklärbare Verzweiflungstat eines hochgradig traumatisierten Jugendlichen, der aus einer 40jährigen inneren Inhaftierung ausbricht. Darüberhinaus bedient die Plausibilität politische und publizistische Grundströmungen der seit dem Bergwerksunglück empörten Öffentlichkeit.

So berechtigt die Verurteilung der mörderischen Ausbeutung unter Tage ist, so entpuppt sich der Schlagwettertod als Lüge. Michels lebenslanges Passwort ist gefälscht. Tatsächlich trägt Michel selbst die Verantwortung als er Jojo im Laufe eines Mopedunfalls am Tag davor in den Tod lenkt. Als sein Vater ein Jahr darauf Selbstmord begeht, hinterlässt er Michel anders als von ihm berichtet eine Nachricht, die jedoch kein Vermächtnis ist, sondern eine belastende Erklärung: „Ich hatte zwei Söhne. Einer tötete den anderen. Dann wollte ich nicht mehr leben“. Michel flüchtet in einen psychischen Ausnahmezustand, der Wahrheit und Fiktion verwischt. Eine psychische Abspaltung, deren genaue Ausformung der Autor jedoch nicht darlegt. Hat Michel tatsächlich die Realität vollständig gelöscht? Offensichtlich nicht.

Sein Versuch vierzig Jahre später den inzwischen alten invaliden Dravelle zu töten, erscheint vordergründig als Vergeltung – tatsächlich zielt er jedoch auf die eigene Verurteilung durch die Justiz. Der Mordanschlag auf Dravelle fungiert dabei als Medium. Den Grund seiner Tat wird er vor Gericht nie nennen, Entschuldigungen wird er nicht vorbringen, um stattdessen mit konsequentem Schweigen seine uneingeschränkte Bestrafung zu erreichen. Formal wird es die Verurteilung für den Mordversuch, intendiert ist die Sühne für die Familienopfer. Seine Anwältin, der er ebenso die Verteidigung seiner Tat untersagt, macht ihm schließlich deutlich, dass die seelische Bewältigung nur mit einer Aussprache gelingen wird. So schließt das letzte Kapitel mit einem Traum, in dem Michel sich seiner über alles geliebten Frau Cécile offenbart ohne ihre Liebe zu verlieren. Er hatte sie mit der unwahren Geschichte stets im Ungewissen gelassen. Chalandon ist vor dem Hintergrund moralischer Verantwortung nicht nur ein bemerkenswerter Plot gelungen. Im Duktus bleibt der Autor überzeugend bei der detailreichen Ausleuchtung des Bergbaus und Gerichtsalltags oder den Charakterdarstellungen von Michel, der Cécile-ähnlichen Anwältin, den Gerichtspsychologen bis hin zum argumentationsstarken Staatsanwalt. Auch wenn einige Momente plötzlich schwülstig aufleuchten wie der sühnelastige Vergebungsmodus von Dravelle, so bleibt das Werk dennoch sehr lesenswert.

„Ich war an Josephs Tod verwelkt. Meine Jugend war alt geworden.“

Note: 2+ (ur)

 

<< Dieses Meisterwerk habe ich nicht verschlungen, es hat mich verschlungen!  Man will es nicht aus der Hand legen. Die Unter – und Oberwelt der Bergleute im nordfranzösischen Kohlerevier wird so eindringlich geschildert, dass einem die Atmosphäre unter Tage buchstäblich unter die Haut kriecht. Ein großes Bergwerkunglück, bei dem 1974 tatsächlich 42 Bergleute ums Leben kamen, steht zwar im Zentrum des Romans, aber noch stärker ist die psychologisch äußerst spannende und von Chalandon sehr klug erzählte Frage um Schuld und Verdrängung und Abspaltung eines Traumas.

Note: 1+ (ün) >>

 

<< Tage danach, immer noch unschlüssig, hin-und hergerissen. Zweifellos ein beeindruckendes Buch: die dramatische Schilderung der üblen Arbeitsbedingungen unter Tage, das Leben und die Rituale im Gefängnis, die durchkomponierte und spannende Gerichtsverhandlung.
Der ergreifende Tod Céciles im Morgengrauen. Das misslungene Volkstribunal der aus Paris angereisten maoistischen Studenten. Großartig geschildert. Aber wie wird das alles zusammengehalten? Nur mit Mühe und wenig überzeugend.

Da gibt es einen (gefälschten?) väterlichen Brief an den jüngeren Sohn, sich an der Grube für den Tod des älteren Sohnes zu rächen:“Räche uns an der Zeche!“. (S.78) Derartiges übersteigt mehrfach auch eine gut entwickelte Vorstellungskraft.. Ein Vater erteilt einen, sagen wir mal, alttestamentarischen Racheauftrag. Entfernt Vergleichbares kenne ich nur von sogenannten Ehrenmorden, wo der jüngste Sohn den väterlichen Mordbefehl ausführt. Schlimmer noch und unwahrscheinlicher , der väterliche Brief mit der Schuldzuweisung für den Tod des älteren Bruders:“Ich hatte zwei Söhne. Einer hat den anderen getötet. Dann wollte ich nicht mehr leben.“ (S.289) Und die dringende Bitte der Mutter an den Sohn:“Zeuge nie ein Kind, Michel! Das tut einfach zu weh.“ Was sind das für Elternwünsche? Was für eine Familie. Vielleicht hätte eine Familienaufstellung helfen können.

Michel Flavent vor Gericht. Meistens schweigt er, obwohl hier ja eine Tribüne für die berechtigte Kritik am Ausbeutersystem wäre. Verdrängung geht immer. Aber kann man einen Mopedunfall mit Todesfolge völlig vergessen, verdrängen? Der zweite große Block, die Verhöre, die Gerichtsverhandlung, ist wird von zahlreichen Wiederholungen geprägt. Ein Angeklagter, der seine Verteidigerin darin hindert, für ihn zu plädieren?  Die Krönung: Michel Flavent, ein Borderliner, der Lucien Dravelle töten will um für den Mopedunfall mit Todesfolge bestraft zu werden. Krimi?
Psycho total: der halb totgeschlagene Lucien Dravelle, den das an ihm verübte Verbrechen erlöst hat, weil er weiß, dass seine Nachlässigkeit die Grubenkatastrophe verursacht hat.

Ein anspruchsvoller Plot, an dem sich der Autor, schwäbisch gesagt, verlupft. Dabei ist Chalandon zweifellos ein herausragender Journalist und Rechercheur. Aber seine literarischen Qualitäten sehe ich etwas kritischer als viele lobende Literaturexperten von Paris bis Tübingen. Auch das Literarische ZDF-Quartett applaudierte mit 4:0 Stimmen.

Ein Buch, das 42 verunglückten Bergleuten ein Denkmal setzt, ist im Grunde unangreifbar. Und zweifellos war und ist dieser Roman ein Trost für die leidgeprüften Familien der Toten. Und so gesehen ist er verdienstvoll.  Note. 3+ ( ax) <<