Die Pest – Albert Camus

rororo 92. Auflage 2020| 350 Seiten.

>> Wahrscheinlich hätte unser Quartett, das nicht so sehr auf Oldies steht,  dieses Buch nie gelesen, ja wenn nicht…

Aus den bekannten Gründen erlebt der Roman derzeit eine Renaissance. Und es finden sich überraschend viele Parallelen zur aktuellen Pandemie. Ignorieren und Verdrängen, Solidarität, aber auch Egoismus, es scheint Kontinuitäten zu geben. Das gilt auch für Medien und Behörden. Ebenso für die Feste hinterher, die hierzulande vielleicht schon zu früh beginnen. Staatliche Konjunkturprogramme erwähnt der Autor nicht. Eindrucksvoll schildert Camus das Wüten der Pest, das Sterben der Menschen, ihre Verzweiflung. Der Arzt Bernard Rieux kämpft und kämpft gegen die Seuche, wird zum Helden und bleibt dabei trotzdem menschlich.

Gottesmann Paneloux stellt in seiner ersten Predigt selbstsicher die Epidemie als berechtigte göttliche Strafe für die Sünden der Menschen dar. Später erlebt er die Agonie eines Kindes. „Mein Gott, rette dieses Kind“ betet er und bleibt unerhört. Seine Hilflosigkeit kleidet er in den Satz “Aber vielleicht müssen wir lieben, was wir nicht verstehen.“ Rieux antwortet ihm, dass er eine andere Vorstellung von der Liebe habe und er sich weigere „eine Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert“ würden. Später schließt sich der Priester einer Helfergruppe an, die Rieux in seinem Kampf unterstützt.

Diese Gruppe wird von Tarrou ins Leben gerufen. Er und Rieux werden Freunde. Ihre Gespräche, eher Monologe mit philosophischem Tiefstgang, erinnern manchmal, sorry, an den kleinen Prinzen, wenn er mit dem Fuchs spricht. Der städtische Angestellte Grand von beispielhafter Pflichterfüllung, bleibt etwas rätselhaft mit seinem Romanprojekt, dessen ersten Satz er immer wieder korrigiert, verbessert. Seine Schreibblockade wird manchmal fast zum running gag.

Die Bekehrung des in Oran gestrandeten Journalisten Rambert vom Egoisten zum Altruisten überraschte mich. Die Deutung des Romans als eine Allegorie auf die deutsche Besatzung  oder das Böse an sich scheint mir nicht zwingend zu sein. Warum Camus sich für eine relativ komplizierte Erzählstruktur entschieden hat (Rieux als Erzähler, Tarrous Tagebuch als zusätzliche Quelle) bleibt für mich unklar.

Ist „Die Pest“ ein Männerbuch? Frauen existieren nur als Mütter und Geliebte.

Mit „La Peste“ ist Albert Camus ein zeitloses Werk gelungen. Als ich im Frühjahr 1971 an seinem bescheidenen Grab in Lourmarin stand, wollte ich den Roman lesen. Leider hat es nun doch fast 50 Jahre gedauert.  Note: 1/2 (ax) <<

 

>> Meine Taschenbuchausgabe stammt aus den späten 60er Jahren und die spärlichen Randnotizen zeigen, mein April 2020 hat die Lektüre von Camus „Die Pest“ völlig verändert. Die Dimension der Apokalypse,  sie ist unvergleichlich und doch zeigt das in die 40er Jahre verlegte Geschehen im nordafrikanische Oran Muster und Abläufe, die erstaunlich gegenwärtig sind. Ist es nur einfaches Fieber oder doch schon mehr, gar die Pest, wie lange kann man verharmlosen, gar verleugnen und vertuschen bis es zum radikalen „Lockdown“, der Schließung der Stadttore kommt? Die Stunde der Präfektur und Verwaltung unterstützt durch ärztliche Expertise, Serum und Impfung wirkungslos, Spitäler im Krisenmodus, Quarantäne, Pestkurven, Statistiken (zunächst täglich, dann wöchentlich!), Expertenstreit, die erbarmungslose „Diktatur der Realität“, von der Einzelbestattung ohne Trauergemeinde zum Massengrab, Todeskämpfe, Besuchsverbote in Krankenhäusern, fehlendes Material und Personal, Sanitätshilfstruppen, ein Stadion als Absonderungslager, Isolation, Vereinsamung, Wirksamkeit von Gazemasken über Mund- und Nase, ökonomische Kollateralschäden, Zusammenbruch des Handels  (ersetzt durch „Schleichhandel“), Ende des Fremdenverkehrs, steigende Arbeitslosigkeit – ein Rest von Begegnung bleibt: Cafes und Restaurants geöffnet, keine Abstandregel. Dann Abflauen der Pest, fallende Statistiken, Lockerungen in  Zweiwochenfristen bei gleichzeitiger Warnung vor Aufflammen,  Öffnung der Tore, fahrende Züge, geöffnete Bahnhöfe, Neubeginn, Wiedersehen aber auch Verlusterfahrung. Was wird sich ändern, folgt der Zeit des Leidens die Zeit des Vergessens, was bleibt im kollektiven Gedächtnis (auch heute?), wie lange halten Lustbarkeiten und Fröhlichkeit?

Was in Oran „dieser frohen Menge unbekannt war“ dessen ist sich Dr. Rieux, der sich am Romanende nicht nur als Chronist sondern auch als belesen belehrender Mahner zu erkennen gibt, gewiss: Die Pest kommt wieder. Trotz dieser bedrückenden Botschaft bleibt der Erzähler nicht ohne Zuversicht: „Was man in den Heimsuchungen lernen kann“ bilanziert er zum Schluss „nämlich daß an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten ist“. Nicht nur die zentralen Figuren des Romans, Dr.Bernard Rieux, Jean Tarrou, Raymond Rambert, Josef Grand, Herr Gottard stehen für dieses Menschenbild Camus. Am liebevollsten findet diese Bewunderung Ausdruck in der Person des nur auf den ersten Blick etwas verschrobenen kleinen Angestellten Josef Grand. Allein seine Geschichte: glänzend!

„Die Pest“ trägt im Gegensatz zu den Schergen des Faschismus und seinen Nachfolgern kein Gesicht, Allegorien können auch vernebeln. Note: 1 ( ai) <<

 

 

>> Im Jahr Corona globalis liest sich Camus´ Roman von 1947 als visionäres Werk, das den pandemischen Ausnahmezustand des Jahres 2020 in zahlreichen Einzelheiten vorwegzunehmen scheint. Abgesehen davon, dass vermutlich schon vor Camus´ Zeiten Formen des gesellschaftlichen wie des persönlichen Krisenmanagements ähnlich den heutigen etabliert waren, darf auch spekuliert werden, ob Camus´ Pestbazillus nicht vor allem eine Allegorie für das infektiös Böse im Menschen darstellt. Camus platziert das Geschehen in die gesichtslose, algerische Küstenstadt Oran, im Jahr 194… Das Drama beginnt mit einem bizarren, massenhaften Rattensterben, dem bald erste Menschen folgen. Nach anfänglichem Ignorieren, verkünden schließlich die Behörden eine Pestepidemie, mit weitreichenden Einschränkungen. Über Monate darf niemand die militärisch abgeriegelte Stadt verlassen. Erkrankte versterben meist innerhalb weniger Tage. Kontaktpersonen werden in Quarantänestationen zwangseingewiesen. Haustiere werden exekutiert, Lebensmittel und Strom rationiert. Versorgungs- und Dienstleistungen brechen zusammen. Weil die Infektionszahlen stetig in die Höhe schnellen, werden fortlaufend neue Auffanglager, leistungsfähigere Leichentransporte, Friedhofserweiterungen und Beerdigungsbeschleunigungen eingeführt.

In diesem Zustand des Grauens, verdrängt das Entsetzen die Zeiten. Erst weicht der Blick für die Zukunft, die nie mehr zurückkehren wird. Das Wissen und Erwarten, wofür gelebt wurde, versiegt in der Hoffnungslosigkeit. Dann verblassen die Erinnerungen – die Vergangenheit entgleitet. Die nackte Gegenwart wird schließlich zunehmend gegenstandslos. Eine kurze Evolution der Gefühle macht sich breit. Ungläubigkeit, dann Ärger, Widerstand, Furcht und Verzweiflung und letztlich Lethargie. Die individuellen Schicksale zerrinnen im kollektiven Niedergang. Camus stellt diesen Reaktionen der Stadtgesellschaft eine kleine Gruppe von Männern gegenüber, die sich mit unterschiedlichen Mitteln und Überzeugungen der Epidemie entgegenstellen. Die zentrale Figur ist Dr. Rieux, der als Arzt und Agnostiker bis zur Erschöpfung Hilfe leistet – selbst im Wissen der Ausweglosigkeit. Ihm gegenüber steht Pater Paneloux, der die Pest für eine gerechte Strafe Gottes hält, der man nicht mit medizinischen Mitteln sondern religiöser Inbrust begegnen sollte. Der zum Freund reifende Partner im täglichen Sanitätskampf wird Tarrou. Tarrou ist Moralist und Chronist von Belanglosigkeiten, nachdem er von den großen Gesellschaftsentwürfen zutiefst enttäuscht wurde. Unterstützt werden sie durch Rambert, der als Journalist unglücklicherweise in der Stadt hängen geblieben ist. Auch der blassgrau wirkende Amtsassistent Grand unterstützt sie durch beflissene Schreibtischarbeiten. Interessiert, aber ohne erkennbaren Einsatz werden sie zudem begleitet von dem Rentner Cottard. Er wird von der Seuche vorübergehend profitieren, da die Polizei lange keine Zeit findet, ihn – den Straftäter – dingfest zu machen. Warum diese Figuren? Dass sie im allegorischen Szenenbild des Bösen die Guten, die Mitläufer, die Verblendeten, die Träumer und die Aufrichtigen verkörpern, darf vermutet werden. Bemerkenswert bleibt, dass Frauen in diesem Plot keine größere Rolle zufällt. Am Ende des Romans wird der Leser erfahren, dass das Gelesene die Aufzeichnungen Rieuxs sind, der sich lange Zeit nicht zu erkennen gibt, um den Anschein der Objektivität zu wahren. Eine kleine erzähltechnische Raffinesse, zumal suggeriert wird, dass über dem Protokollanten doch noch ein allwissender Über-Erzähler steht.

Die Seuchenbakterien wüten erbarmungslos und in atemberaubendem Tempo. Von Flöhen und Mitmenschen übertragen, befallen sie Organe und verursachen steinharte Schwellungen der Lymphknoten, die als schwarze Beulen auf der Haut erscheinen, verbunden mit unerträglichen Schmerzen. Wenn die Lunge befallen wird, tritt der stinkende Tod häufig schon nach zwei Tagen ein. Therapiebemühungen bleiben erfolglos. Dr. Rieux kann nur den Niedergang verwalten, muss mit Polizeigewalt Infizierte einweisen, die ihn als Richter und die Einweisung als Todesurteil empfinden.

Ein zentraler Begriff, den Camus schon früh in das Pest-Szenario einführt, ist der des „Exils“. Ein Zustand des Überlebens, der von innerer Heimatlosigkeit geprägt wird. Eine Heimatlosigkeit, die sich im Romankontext nicht als geographischer, sondern als emotionaler Verlust darstellt. Ein Verlust, dem sein größter Schmerz durch das Getrenntsein von vertrauten Menschen eingebrannt ist – „zusammen mit der Angst das schlimmste Leid dieser langen Zeit des Exils“ (S. 77). Eine beißende Leere, die für die gerade zu Ende gegangenen Weltkriegsjahre des Autors prägend war. Am Ende des Romans ist es gerade die Auflösung des Exils, das Wiedererlangen der sozialen Verbundenheit, das reale und psychische Umarmen der lange Getrennten, welches eine überwältigende Lebensfreude entfacht. „Sie wussten jetzt, dass es, wenn überhaupt, etwas gibt, was man immer ersehnen und manchmal bekommen kann, nämlich menschliche Zärtlichkeit“ (S. 341). Als tragischen Held dieser Gefühle gestaltet Camus den verschroben wirkenden Grand. Während sich ringsherum die Toten häufen bastelt er mit grotesk wirkender Eifrigkeit in Sisyphos-artiger Endlosigkeit am ersten Satz eines literarischen Epos zu Ehren seiner Angebeteten, die ihn nicht erhören will.

Eine Einordnung des Romans in einen Erkenntnis- und Moralkontext erlaubt vor allem der Gedankenaustausch zwischen Tarrou und Rieux. Während Rieux einem altruistischen Reflex folgt – ihm ist nur Gutes möglich, selbst wenn es nicht gewürdigt wird – ist Tarrous Einsatz das Ergebnis eines schmerzlichen Entwicklungsprozesses. In einem Richterhaushalt groß geworden, schockiert ihn die Anmaßung, dass über Leben und Tod geurteilt wird. Orientierung suchend vagabundiert er anfänglich durch das Leben, um sich in der Folge militanten Befreiungsbewegungen anzuschließen. Getragen wird seine Unruhe von der Hoffnung, nicht nur Ideale auszumachen, sondern deren nachhaltige Gültigkeit zu erzwingen. Der Umstand, dass programmatische Gewalt auch hier zur Durchsetzung zwingend scheint, erschüttert seine Zuversicht. Das Böse tun, um das Gute zu wollen, bleibt ein inakzeptables Paradoxon. In einem Punkt nähert sich hier die pragmatische Einsicht des Atheisten der des Klerus an. Sowohl Tarrou wie auch Pater Paneloux bewerten die Pest als Zäsur des menschlichen Daseins, die in ihrer erbarmungslosen Grausamkeit den Menschen zum Einhalt und zur Einsicht zwingt. Und damit zur Umkehr zu einem gefälligeren, humanistischen Leben. In diesem Zusammenhang entpuppt sich die Pest in der Tat als Allegorie des Bösen: das vielleicht prinzipiell Böse im Menschen, vielleicht das politisch Böse in Form des Totalitarismus wie der gerade überwundene Faschismus. Die literarische Pest ist vom Autor mit einem dialektischen Doppelcharakter angelegt: sie ist das Subjekt, das den Niedergang bewirkt. Sie könnte aber auch der reinigende Prozess werden, der das Diabolische überwinden hilft – wenn denn der Mensch die Zeichen annimmt. Ob die Allegorie und der offensichtliche Doppelcharakter glücklich gewählt sind, darf diskutiert werden.

Vermutlich spiegeln Tarrou und Rieux widerstreitende Züge Camus´. Hoffnungslos, aber dennoch  nach Erkenntnis strebend in der Person von Tarrou, und demütig akzeptierend und empathisch bei Rieux. Verbindend wohnt beiden der humanistische Glaube an den Menschen inne, auch wenn der Mensch ewig vom moralischen Abgrund fasziniert bleibt, und der Pestbazillus nie sterben wird.  Note: 2 – ( ur) >>

 

<< In Zeiten von Corona liest sich die Pest von A. Camus als frühe Vision, wie sich das Leben in einer Pandemie anfühlen kann. Da ist die Rede von Schlangen vor den Geschäften, von Massengräbern, von Fahndungstrupps, von Lagern im Fußballstadion, von Isolation, auch davon, ob man nicht „eine Lockerung ins Auge fassen“ könne. Natürlich bildet sich nicht alles 1:1 ab, aber die Parallelen sind doch frappierend. Im Zentrum steht aber natürlich die Frage, wie sich Menschen in einer solchen Ausnahmesituation verhalten und wie sich das ethische Koordinatensystem verschieben kann. „Er war nicht da um Leben zu retten, er war da, um Isolation anzuordnen“.
Ein wiederentdeckter, sehr lesenswerter Klassiker.  Note: 1/2 ( ün) <<