Hundert Jahre Einsamkeit – Gabriel García Márquez

Kiepenheuer&Witsch, Neuübersetzung, 3. Auflage 2020 | 519 Seiten.  ISBN 978-3-462-05021-9

>>Die Lektüre – gewiss ein Kraftakt, aber er lohnt sich. Im Mikrokosmos von Macondo und der „Sippe Buendias“ entfaltet sich das Leben in allen Facetten bis zum bitteren Ende. Ein erzählerisches Feuerwerk, das auch möglichen Bedenken aktueller political correctness Diskurse widersteht. Auch wenn es eine Geschichte des Untergangs ist, so ist es doch letztlich eine Liebeserklärung an die Bedeutung der Literatur: „Die Welt wird an dem Tag endgültig im Arsch sein, wenn die Menschen erster Klasse reisen und die Literatur im Güterwagen“ . Note: 1 (ai) <<

>> Dieses gewaltige literarische Naturereignis ist schlichtweg eine Zumutung und überfordert anfangs wahrscheinlich jeden Leser. Mir hat die schiere, fast biblische Eruption von Ereignissen und Personen, die über Generationen vielfach gleiche Namen tragen, jedenfalls eine gehörige Anstrengung abverlangt. Zumal die Zeitebenen sich leicht mäandernd immer wieder leicht verschieben. („Auch die Zeit stolpert“) Ohne Personenregister und Stammbaum aus dem Internet wäre ich wahrscheinlich nicht weit gekommen.
Trotzdem bin ich etwas stolz und auch froh, bis zum Ende durchgehalten zu haben.
Wenn man begriffen hat, dass die zeitliche Verortung der unzähligen Aurelianos oder José Arcadio Buendiás wohl von untergeordneter Bedeutung ist, kann man sich voll und ganz an der ungeheuren Fülle von sprachgewaltig erzählten Ereignissen rund um die schillernde Familie Buendias, das Dorf Macondo und ihrer Bewohner  im karibischen Teil Kolumbiens erfreuen. Hintergrund bildet auch noch die historische Entwicklung Kolumbiens mit endlosen Bürgerkriegen, das Eindringen und Verschwinden eines ausbeuterischen Plantagen-Systems. Hierbei exzellent und hellsichtig geschildert, die raffinierte Tilgung („durch die Zauberer des Rechts“)  eines fürchterlichen Massakers an den Arbeitern der Plantage aus dem Gedächtnis des ganzen Landes.

Die Wiederkehr der gleichen Namen über Generationen hinweg könnte auch ein Hinweis auf eine der vielen Deutungsebene des grandiosen Werkes sein: Die an griechische Tragödien erinnernde Gefangenheit der  Akteure in einem von der Zentralfigur des „Zigeuners“  Melchiades prophezeiten  Schicksals, das sich in einer geheimen Schrift offenbart. Die ewige Wiederkehr von F. Nietzsche:  Kummer, Elend, Hunger – wie würde man damit fertig werden können, wenn man wüsste, dass man dies auf ewig wieder erleben müsste? Nietzsche formuliert dafür einen neuen Imperativ: Du sollst die Augenblicke so leben, dass sie dir immer wiederkehren können, und zwar ohne Grauen!“
Das gelingt bei Marques nur wenigen Figuren, vielleicht Amaranta Ursula. „Sie waren wieder glücklich in der Gewissheit sich auch als Wiedergänger weiterzulieben, auch dann noch, wenn dereinst künftige Tierarten den Insekten das Elendsparadies abringen würden, das diese jetzt ein für alle Mal den Menschen abrangen.“ (S. 506)

Aureliano Segundos Saufkumpane legen ihm einen Kranz auf den Sarg, auf dem steht: „Weg da, ihr Kühe, das Leben ist kurz!“  Note : 1/2 (ün) <<

 

>>            Erst nachdem José Arcadio Buenda dem Nachbarn erwartungsgemäß die Lanze durch den Hals getrieben hatte, offenbarte Ursula ihm ihren Unterleib. Der Nachbar hatte Arcadio als impotent beleidigt. Tatsächlich hatte Ursula ihrem Gatten José Arcadio den Beischlaf von Anfang an verweigert, weil sie wegen des Inzestverhältnisses Nachkommen mit Schweineschwänzen befürchtete. Ihrem Leib entsprangen darauf nach und nach drei Sprösslinge jedoch ohne Schwänze hinten, aber teils mit legendärem Gemächt vorne. Mit gerade diesem, aber auch allem anderen was Geist und Körper aufboten, belasteten sie wie der Vater die Sippengeschichte so nachhaltig, dass sie nach sieben Generationen ausgelöscht waren.

            Der Roman mag verstanden werden als südamerikanisch interpretierte Menschheitsgeschichte mit offensichtlichen Anleihen bei biblischen Episoden. Oder als Allegorie vier historischer Phasen Südamerikas. Oder als Verdammnis des Individuums, das sich ewig selbstzerstörerisch im Wege steht. Hundert Jahre Einsamkeit ist eine überaus turbulente Erzählung, die im kolumbianischen Norden spielt – der Heimat des Autors. Sehr eigenwillig im Duktus des Magischen Realismus wie auch von zahlreichen anderen lateinamerikanischen Autoren gepflegt. Mit Blick auf wiederkehrende Traumata vielleicht ein zeitloser Roman, auch wenn er heute der überempfindlichen political correctness nicht gerecht wird.

Am Anfang stand die auf Schuld gegründete Genesis und Vertreibung. Adam und Eva mussten aus dem Garten Eden weichen. So wie Eva aus Adams Rippe geschnitten quasi hermaphroditisch genetisch verwandt mit Adam blieb, so sind auch José Arcadio und Ursula inzestuös verbunden. Vor der wiederkehrenden Seele des ermordeten Nachbarn flüchtend, fanden sie erst nach einer qualvollen zweijährigen Odyssee den Platz, auf dem fortan der Ort Macondo wuchs. Biblische Gestalten, Episoden und Verläufe prägten das Gesicht dieser in sich geschlossenen Entität. Menschen mit großer Reinheit wurden geboren wie Remedios die Schöne, die in Anlehnung an Mariä Himmelfahrt beim Wäscheaufhängen eines Tages einfach in den Himmel auffuhr. Zwar mit Ehrfurcht betrachtet, blieb am Ende jedoch ärgerlich, dass damit auch ein Bettlaken verschwand. Die klimatischen Umstände der Arche Noah spiegelten sich in Macondo in einer vierjährigen katastrophalen, aber reinigenden Regenzeit. In Macondo trat als weissagender Messias alljährlich der Zigeuner Melquíades auf, verbreitete innovative Erkenntnisse und verfasste ein verschlüsseltes Werk, welches tatsächlich die Zukunft in allen Details vorwegnahm. Er starb und kehrte wieder, weil er die Einsamkeit des Jenseits nicht ertrug, und hinterließ eine Zeit disziplinierende Aura, welche Staub und Rost Einhalt gebot. Macondo entwickelte sich und verdarb über sieben Generationen vielleicht in Anlehnung an die Johannesoffenbarung, in der sieben Engel sieben Schalen des Zorns über die Erde gießen, bevor es zum Harmagedon kommt. Die endzeitliche Apokalypse ist bei Márquez der Sieg der Natur mit ihrer vielgliedrigen Gewalt in Gestalt vernichtender Stürme, Myriaden nagender Ameisen und einer erbarmungslosen Flora. In der Schlussszene entzifferte der letzte Aureliano Buendas die Weissagungen des Melquíades bis zu dem Moment seines eigenen vorausgesagten Todes. Ein alles vernichtender Orkan löschte schließlich Macondo aus. Während die Bibel im günstigen Fall den Aufstieg in den Himmel und ein Himmelreich auf Erden (wenn auch auf tausend Jahre beschränkt) anbietet, heißt es bei Márquez, dass „die zu hundert Jahre Einsamkeit verdammten Sippen keine zweite Chance auf Erden bekamen.“ Das wäre es dann gewesen. Der Sozialist Márquez scheint sich hier aus dem bunten Szenenkatalog der Bibel zu bedienen, um die Originale – mit Trivialkolorit verfremdet – zu persiflieren.

Eine andere Sichtebene des Plots ist nach Strausfeld historisch-politisch angelegt. In Phase I des Romans (Kolonialzeit) gründeten Pioniere wie José Arcadio Buenda und Ursula gesellschaftliche Keimzellen ähnlich den Einzelkämpfern, die Südamerika durchdrangen. In Phase II (Republik) hatte sich eine polarisierte Gesellschaft entwickelt und suchte vergeblich das Gefälle von Arm und Reich durch einen 20-jährigen Bürgerkrieg zu überwinden. Mehrere Sippenmitglieder der Buendas nahmen an den Auseinandersetzungen teil, wurden zu erfolglosen Revolutionären mit 32 verlorenen Schlachten, bereicherten sich als diktatorische Statthalter oder versuchten sich das Leben zu nehmen, weil sie die proklamierten Ideale nicht erzwingen konnten. In Phase III (Imperialismus) schlichen sich US-amerikanische Agrarkonzerne in das Land. Ökonomische Abhängigkeit, kulturelle Wandlung, Widerstand und Ruf nach Gerechtigkeit hallten durch Macondo. Bananenplantagen wurden verwüstet. Die Fremdherrscher antworteten mit einem umfassenden Massaker an der Bevölkerung, das später nicht nur von den Tätern sondern auch von den Überlebenden geleugnet wurde. In Phase IV (Neoimperialismus) folgte die desaströse Individualisierung mit einer Rückbesinnung auf umstrittene Werte. Religiöse Hinwendung versprach Ordnung, sie und Moral an sich wurden jedoch verraten. So verließ der nach Rom entsandte José Arcadio schon kurz nach der Ankunft das Priesterseminar um letztlich als pädophiler Nichtsnutz heimzukehren. Später wurde er von seinen dekadenten Liebesburschen ertränkt. Amaranta Buenda aus der fünften Generation hinterging ihren belgischen Ehemann, um mit ihrem Neffen den letzten Nachfahren in erotischer Einsamkeit zu zeugen. Dieser Nachkomme starb als Neugeborener den grauenhaftesten Tod als ihn am lebendigen Leib Ameisen zerfraßen. Mit dieser Metapher zeichnete der Autor ein überaus düsteres Bild seiner kolumbianischen Heimat. Ein Bild, das Hoffnung keinen Raum gibt.

Am gravierendsten scheint die dritte Interpretationsrichtung: das scheiternde Individuum. Keine von Márquez´ zentralen Literaturgestalten stellt ein Ideal, ja noch nicht einmal einen farblosen Durchschnittsprotagonisten dar. Alle zeichnet ein Makel, ein isolierender Charakterzug, eine Grausamkeit, eine Manie aus. Die Protagonisten sind innerlich vereinsamt, finden nicht zu anhaltender Gemeinsamkeit. Jetzt nicht und auch nicht in einhundert Jahren. Nie. Als Ausnahme könnte man vielleicht die matriarchale Urmutter des Romans Ursula lesen. Sie folgte unbeirrt mit herben Einsatz ihren ordnenden Prinzipien und war sogar gewillt, ihre schuldigen Söhne zu verstoßen. Am Ende des Romans, im vermuteten Alter von 120 Jahren, erblindete sie und wurde sehend. Und was sie zu sehen meinte, ernüchtert. Dass z.B. ihr 20 Jahre im Freiheitskampf verharrender Sohn und Revolutionsoberst nie einen Menschen liebte, nie ein politisches Ziel wirklich ernst nahm, sondern lediglich seiner Selbstsucht folgte.

Auch wenn der Plot im Grunde Hoffnungslosigkeit inszeniert, ist seine Form von teils atemberaubender Sprachgewalt. Grandiose Metaphern, üppige Fantasiebilder und bizarre Handlungsfolgen verbinden übergangslos Mögliches und Unmögliches. All das kann jedoch nicht verdecken, dass dem Leser auch Längen und Ermüdung zugemutet werden. Für mitteleuropäische Lesegewohnheiten bleibt der Magische Realismus Lateinamerikas gelegentlich eine Herausforderung.  Note: 2– (ur)<<

 

>>Einer der größten literarischen Erfolge der Weltgeschichte. Unendliche Auflagen, übersetzt in alle Sprachen, die es gibt und gab. Ein Opus Magnum dessen, der mit GGM abgekürzt wird. Obwohl mich Magie eher anzieht, hat mich der magische Realismus des etwas zu breit geratenen Romans eher irritiert als gefesselt. Die Geschichte Kolumbiens, griechische Mythen und Biblisches, existentielle Befindlichkeiten der menschlichen Gattung, es fehlt wenig. Die von Netflix geplante Verfilmung (die Söhne haben die Rechte verkauft, der Vater war immer scharf dagegen) kann eigentlich nur in die Unterhose gehen. Dem Autor gelingen großartige Beschreibungen wie zum Beispiel der Streik, das anschließende Massaker und vor allem der subtil geschilderte Versuch, reale Ereignisse aus den Gedächtnissen zu verdrängen. Oder wie es Aureliano Segundo schafft, zwischen zwei extrem konträren Frauen auskömmlich zu leben. Einige Sätze weisen über den Tag hinaus: “Du bist jetzt ein Mann“, sagt Amaranta zu Aureliano José. Oder: “Die Liebe ist eine Pest“. (José Arcadio Buendía)

Trotzdem kann ich das Buch nur „starken“ Leser/innen empfehlen. Ich war etwas verloren:

Manchmal ward es eine Qual
die Magie schien ir.real
Voll betäubt von der Magie
Schwebt der Leser im NiWi
Realismo mágico
war zu schwer für Máximo.

Note: 2/3 (ax) <<