Der Musterjude-Rafael Seligmann

Rafael Seligmann - Der Musterjudedtv 1999,  393 Seiten.      

>>  Vom Aufstieg und Fall des Moische Bernstein erzählt der Roman. Bernies Jeansshop ist Ausgangs- und Endpunkt einer wahrhaft turbulenten Karriere im deutschen Pressewesen. Den gnadenlosen Gesetzen des Zeitungsmarktes folgend, in dem das hire and fire-Prinzip den auch verbal knallharten Ton angibt, mausert sich der bis zum Schluss unter der unerbittlichen Fuchtel seiner jidische Mamme Hanna stehende Moische vom Looser zum Chefredakteur und Starkolumnisten zweier Erfolgsgazetten „Logo“ und „German Today“. Den „Juden“-Bonus wie die Unfähigkeit des „Goj“ zur Aufarbeitung der Vergangenheit gleichermassen schamlos missbrau-chend, fegt Moische auf der Welle des Erfolgs und lässt skrupellos eine Spur von schreibende Karriereopfern hinter sich (Keller, Reydt Wimmer), bevor sein eigener Zögling Frank Lackner zum Brutus wird. Auch inhaltlich bedient uns Seligmann statt mit seriösem Journalismus mit Einblicken in die Hexenküche nicht nur des Boulevards: Taschenspielertricks, etwa Moisches „aufgejudeter Name“ Moische Israel Bernstein der dem Kolumnisten den Hauch der Unangreifbarkeit verleiht. Vermeintliche Leserbefindlichkeiten werden schonungslos bedient „Die deutschen Mörderseelen sind süchtig nach jüdischen Themen“.  Der tägliche Aufmacher, die Schlagzeile wird zur auflagengeilen Kampfparole. Sprache und Denken in den Redaktionstuben sprengen alle ethischen Grenzen:„Schreib mir die kulinarische Todesfuge“.  Nicht seine eigenen zuweilen auch denunziatorischen Methoden bringen Moische Bernstein zu Fall, die von seinem ehemaligen Ziehvater Heiner Keller lancierte Enthüllungsgeschichte „Ein falscher Jude“ erweist sich nach einem wohlinszenierten tränenreichen Fernsehauftritt Bernsteins und seinem mitleiderheischenden Appell „Ich fordere Menschlichkeit“ als Rohrkrepierer, sondern die schnöden Gesetze des Marktes. Reichlich unvermittelt wie sein Aufstieg ist auch sein Fall.  Der amerikanische Verlagsleiter und seine Geldgeber (Klischee?) sprechen das Urteil: „Du bist der Wirtschaft und ihren Werbefritzen nicht mehr vermittelbar“. Dem Leser wenig vermittelbar ist auch ein ganz anderer „Phall“. Moisches Frauen, ob als „Schicksen“ denunziiert oder jüdischer Provenienz scheinen eher dem Wunschtraum eines sehr schlicht geratenen Männerbildes als der Wirklichkeit entsprungen. Hier scheint dem Autor vor allem in der Judith-Gabi-Moische Episode der Schmok durchgegangen zu sein.  Für diesen sprachlich eher schlichten Intrigantenstadel deutscher Medienlandschaft, ob überzeichnet oder nicht mögen Insider urteilen, eine 2,5. Für die jidische Mamme, die nach Seligmann alles andere als ein jüdisches Mutter-Zerrbild darstellt, einen Sonderpunkt. Note: 2,5 (ai)<<

>> In Auschwitz zu „I will survive“ tanzen – darf man das?  Ja man darf, allerdings nur wenn man selbst Überlebender des Holocaust ist. Großajatollah Henrik M. Broder hat seinen Segen gegeben. Sein Urteil über den „Musterjuden“ von Seligmann fällt  weniger großzügig  aus. Seligmann biedere sich seiner Meinung nach zu sehr bei den „Deutschen“ an, verleiht ihm gar den Negativpreis „Schmok des Tages“.  Meine Einwände  sind andere:
Die Innenschau in die Mechanismen und Redaktionskonferenzen der Medienbranche ist  trotz oder wegen der  zuweilen grotesken Übertreibungen erhellend,  witzig und wohl nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt. Vor allem in der zweiten Hälfte des Buches liest sich dies rasant und kurzweilig. Ob es ihm allerdings gelingt wie versprochen, das deutsch-jüdische Verhältnis zu entkrampfen, bleibt eher zweifelhaft. Vieles wirkt  doch klischeehaft. Die massenhafte und letztlich wenig motivierte Verwendung jüdischer Ausdrücke  wie „Schickse“ nervt doch zunehmend. Literarisch bleibt die Figur des Moische Bernstein seltsam ambivalent und trudelt zwischen genialischem Hochstapler  und Witzfigur.
Note: 3+ (ün)<<

>>Das Buch schildert Aufstieg und Fall des Moische Bernstein. Vom Jeansverkäufer zum Chefredakteur und viceversa. Insgesamt  bleibt es etwas rätselhaft, wie dieser fulminante Aufstieg überhaupt gelingen konnte. Die Mutter hält ihn für einen Versager und wer Moische in seinem Jeansladen erlebt , sieht in ihm nicht den strategischen Kopf, der ein Massenblatt dynamisch leiten kann. Im Mittelpunkt steht das immer noch komplizierte deutsch-jüdische Verhältnis. Was witzig und ironisch gemeint ist, wirkt aber immer wieder grenzwertig und vor allem: es wieeeeederholt sich. Darf ein Jude Tabus verletzten, die für einen Deutschen tabu bleiben müssen/sollten?  Das zweite zentrale Thema ist die deutsche Medienlandschaft, die unter amerikanischen Finanzeinfluss gerät. Sie wird eher in Form einer Posse abgehandelt. Hier geht es vor allem um Auflagensteigerung um jeden Preis. Dazu wird vor keiner Geschmacklosigkeit zurückgeschreckt  (Erfindung KZ-Kochbuch zum Beispiel). Alles begleitet von Kabalen und Komplotten ohne Ende. Der Leser wird gezwungen, seinen Wortschatz zu erweitern. Schmock&Schmonzes werden ihm zu vertrauten Worten, ebenso die unterschiedlichen Aggregatzustände, in die sich ein Schmock verwandeln kann. Dann vielleicht doch lieber gleich richtige Comedy, wie die vom jüdischen Komiker Oliver Polak: „Ich darf das, ich bin Jude“. Note: 3+ (ax)<<

 

>>Moische alias Manfred alias Israel Bernstein ist Jude und Nichtjude, Spielball in einem real-absurden deutschen Medienschlachtfeld, ist Feldmarschall, Rekrut, Überläufer, Demagoge und spektakulärer Verlierer. Moische Manfred Israel Bernstein wird zur Projektionsfigur des von Auschwitz genährten deutschen Schuldgefühls, ist die stilisierte, ständig ersehnte Opfergestalt, die der jüdische Autor Seligmann dem deutschen Leser als großen Manipulator der nationalen Empfindlichkeit an die Seele nagelt. Was passiert hier?

Moische lebt seit Jahren als Verkäufer mit seiner mental stoßfesten Mutter in antagonistischer Symbiose von einem kleinen Jeansladen. Auf dem journalistischen Parkett ist Moische bisher nur ausgerutscht bis sein alter Schulfreund Heiner ihn für einen Artikel zum ausgewählten Thema Küchengeheimnisse aus dem KZ anheuert. Die Grundidee: Tabuthemen in unklar semitische/nazistische Nebelschwaden gehüllt als reißerische Unterhaltung auf den Markt werfen und eine breite Zustimmung sichern, indem der Autor sich als bekennender Jude outet. Das Konzept schlägt ein wie eine Bombe. Mit olympisch philosophischen Ambitionen sieht Moische sich schon bald als nationalen Vordenker.

Der Chefredakteur des Magazins mit dem bezeichnend inhaltlosen Namen logo! versteht dem öffentlichen Geschmack zu entsprechen, spürt den gelangweilten Konsumdruck des Publikums und modelliert entsprechend alle Komponenten. Moisches Konterfei als Beiwerk zu seinen Artikeln wird mit jüdisch schweren Lidern aufgepeppt, sein Name mit dem Zweitnamen Israel „aufgejudet“ (S. 77) und der Storytitel mitten ins Holocaust Herz gestoßen: „Droht ein neues Auschwitz?“. Den ständig steigenden Druck-Auflagen folgen ebenso rasant grassierende Radiosendungen und Talk-Shows, die durch gezielte Vorabinformationen an die Sender die Medienpräsenz katalysieren.

Bizarre Konfrontationen fördern weiter das Geschäft als die berühmte Fatima Örsel-Obermayr als Vorkämpferin für die Rechte ausländischer Mitbürger Moische angreift. Juden würden das Leidensmonopol für sich beanspruchen, während Ausländer in Deutschland angeblich nur Freude hätten. Den heftigen Angriffen ist Moische noch nicht gewachsen. Er bricht heulend zusammen und muss von seiner Mutti nach Hause gebracht werden. Die Nation ist angesichts solch vermeintlich antisemitischer Gemeinheiten entsetzt und wird fortan nicht nur Fatima Örsel-Obermayr ächten, sondern auch Moische mit Inbrunst huldigen. Örsel-Obermayr hatte ein deutsches Tabu gebrochen: sie hatte versucht die Deutschen ihrer Lieblingsopfer zu berauben (S.87).

In dieser Phase beginnt die inter- und intraredaktionelle Schlammschlacht, die – wie wir lernen – prinzipiell keine Grenzen kennt. Heiner stachelt jetzt Moische an seinen Chefredakteur wegen (Über)-Fälschung seiner Artikel erfolgreich auf Schmerzensgeld zu verklagen. Sofort wechselt Moische zusammen mit Heiner zum neuen Konkurrenzblatt Germany Today. Nachdem es ihm gelingt den dortigen Chefredakteur zu liquidieren und den Posten zu übernehmen, entsorgt er auch seinen Freund Heiner in die Leserbrief-Redaktion, bevor er ihn ganz rausschmeißt. Als Moische dann an einem eigenen Denkmal bastelt und ein Zweitblatt gegen den Willen des amerikanischen Managements aufmachen will, wird er von einem seiner Zöglinge verraten und augenblicklich beerbt. Allerdings wird auch dieser schon wenig später kaltgestellt und ersetzt. Wie das unendliche Wirken der Gezeiten spülen die Fluten frisch angewachsene Meeresfrüchte aus bei Ebbe trocken gelaufenen Becken. Und es nimmt nie ein Ende. So überzeichnet und erschreckend amüsant gerade dieser Teil ist, so beeindruckt wird der Leser von der nackten Grausamkeit der Medienlandschaft.

Moische steigert sich zunehmend in einen demagogischen Publikationsstil, definiert die redaktionelle Pflicht, Emotionen zu schüren, ignoriert Wahrheiten und polarisiert durch eine perfide Mischung aus Halbwissen und Gerüchten, wiegelt auf und entfacht das ganz große populistische Sperrfeuer mit einer Anti-Steuerkampagne für Branntwein, Tabak, Getränke, Mineralöl und andere Konsumgüter des kleinen Mannes. Die kumulierenden Kampagnen führen nicht nur zu steigenden Aktienkursen einschlägiger Industriezweige, sondern sogar zum Rücktritt betroffener Minister. Bei alledem entpuppt sich Moische als fette Spinne in einem Netz, an dem Unzählige munter mitspinnen und sich auf ihre Art bereichern. Es gibt tatsächlich keine Unschuldigen. Schuld scheint das Lebensmotiv, ja das Leben an sich zu sein.

Dies gilt auch für alle Frauengestalten. Sei es die von anti-deutschen Hassgefühlen getriebene Mutter, sei es die Moische ergebene Volontärin Cordula, die durch sexuelle Breitbeinigkeit deutsche Schuld zu sühnen sucht, sei es die reichste, schönste Jüdin Berlins Judith, die mit ihrem halbwüchsigen Sohn fürsorglich das Bett teilt, so dass ihre nazistisch durchsetzten Schuldgefühle nicht aber Moische auf ihrem Kissen Platz finden.

Seligmann ist eine laute, knallbunte Realsatire gelungen, in der die tägliche Gewalt des Medienlebens und der historische Masochismus deutscher Intellektueller gekonnt mit einander verflochten sind. Der Kulminationspunkt wird erreicht als der bekennende Jude Moische als Sohn eines Nazischergen entlarvt wird. Seligmann setzt sogar noch eins drauf: die deutsche Schuldbedürftigkeit lässt die Liquidierung des Schuldobjekts Moische nicht zu und rehabilitiert ihn. Stattdessen wird der Urheber der Aufdeckung vernichtet.

Wie absurd und real doch alles erscheint. Vor allem wenn sich zu guter Letzt der Leser vor Augen hält, dass solch eine Satire nie von einem deutschen Pharisäer hätte geschrieben werden dürfen.

Kurzweilig, erhellend, nachdenklich, voller Schundroman-Dynamik, aber sicher keine große Literatur. Note: 2– (ur)<<

Älter werden- Silvia Bovenschen

aelterwerdenFischer  2006,  202 Seiten .     

 >> “What a drag it is getting old…” stellen die Stones in ihrem legendären Song “ mothers little helper” schnörkellos fest, was der Tübinger Autor Veit Müller in seinen Live Lyrix frei aber treffend so übersetzt hat: „Was für’n Scheiß ist es, alt zu werden…“ Ein Gerücht sagt, dass der 65 –jährige Mick Jagger diesen Song aus dem Repertoire der Stones gestrichen hat. In unserem Sprachgebrauch ist man aber selten alt, sondern höchstens älter. Eine „Vergewaltigung der Grammatik“ sei es, wenn eine ältere Frau jünger sei als eine alte, so Silvia Bovenschen in ihren „Notizen“, die sich weniger als Ratgeber fürs „Älter werden“, denn als Erinnerungen an Jugend -und Kindheit in den 50er und 60er Jahren und Sammlung mehr oder weniger geistreicher Aphorismen (Lichtenberg immer noch unübertroffen) entpuppen. Wiedererkennungseffekte ergeben sich zuhauf, etwa wenn sie das Erschrecken über manch unvermittelt erblicktes Spiegelbild im Kaufhaus schildert. Bild und geschmeicheltes Selbstbild wollen einfach nicht zusammen passen. Oder das Abwägen zwischen Zeitgemäßem und Altersgemäßem als „wahre Artistik des Alterns“. Klischeehafte Weisheiten, wie ihre Erfahrungen als Lehramtsanwärterin mit den „vielen Lehrern, die sich in eine verfehlte Zukunft gestellt sahen. Musiklehrer, die vordem Konzertpianisten, Mathematiklehrer, die vordem Nobelpreisträger hatten werden wollen“ sind ärgerlich, der Einsatz von Fremdwörtern wie „mnetisch“ schlichtweg affig.
Die eigene MS Erkrankung wird nicht allzu sehr in den Vordergrund gerückt, das ist angenehm. Trotzdem bleibt ihre Erfahrung mit dem Älterwerden offensichtlich von der schweren Erkrankung geprägt. Die witzigste Erkenntnis über das Älter werden stammt allerdings nicht von der Autorin, sondern ist von der amerikanischen Entertainerin Roseanne übernommen: „Ich habe mich zum ersten Mal alt gefühlt, als ich einer wildfremden Frau von meinen Hühneraugen erzählte“. Note: 2/3 (ün)<<

>>  Nein, diese gut gemeinten, jüngst auch noch von geschäftstüchtigen Verlagsstrategen des Fischer Verlags brusttaschengerecht als Hardcoverhandbüchlein auf den Buchmarkt geworfenen Notizen werden nicht im nachlassenden Gedächtnis haften. Was aber bleibt, ist, wozu sie inspirierten: Eine fulminante, bis ins Detail stimmige Inszenierung des Gastgebers, der in mehrfachem Sinne eine Kostprobe von dem gegeben hat, was auch die literarische Viererbande zwischen Pauline Krone und Luise Wetzel einmal erwartet – nur das Probeliegen kam etwas zu kurz. Dass Max – es ist das erste Mal in der Rezensionsgeschichte des LQ, dass ich die Anonymität lüfte – das Zimmer verlassen hat, bevor die Nachtschwester kam, war allerdings ein Verstoß gegen die Hausordnung. Es ist wunderschön mit diesem Quartett älter zu werden.
Noten:
Bovenschen 3/4  Gastgeber 1,0 (ai)<<

>>  Der Untertitel „Notizen“ (ich hatte ihn übersehen) hält, was er verspricht. Für „Älter werden“ gilt dies nicht in gleicher Weise. „Gesammelte Einsichten“ oder „Vermischte Rückblicke“  wäre als Buchtitel angemessener. Das Buch ist nicht leicht zu resümieren, da es sich um eine Sammlung von Fragmenten, Aphorismen, Miniaturen, intelligenten Wortspielereien, verbalen Torsos und Sentenzen handelt. Dabei fast immer klug und geistreich formuliert. Man kann sich nach der Lektüre die Autorin, Tochter aus bestem Hause, ganz gut vorstellen. Das Bändchen im handlichen Mao-Bibelformat wird wahrscheinlich im Gegensatz zu seinen Leser/innen nicht so schnell älter werden. Auch in zehn Jahren wird es noch zu Geburtstagen verschenkt werden können. Überraschend oft hatte ich bei der Lektüre das angenehme Gefühl „Ja, genau. So isses. Das hat sie gut gesagt“. Kein Wunder, dass man so ein Buch gerne liest. Note: 2– (ax)<<

>>Kurze Sentenzen, Assoziationen, Erinnerungen, Bedauern über Vergangenes , verlorene Worte, abhanden gekommene Werte, vorweggenommene Abkehr von einer Zukunft, die immer kürzer wird und schon lange von der Übermacht der Vergangenheit erschlagen wird. 2006 schreibt Bovenschen, sie sei 60, dass sei eine böse Zahl. Da sei nichts mehr zu machen. So dass der Leser schon nach wenigen Seiten ahnt, dass der Titel noch strenger formuliert gehört. Nicht „Älter werden“ – denn das wird auch ein Neugeborener und blickt einer großartigen Entwicklung entgegen – sondern „Alt sein“ – Entwicklungen schon hinter sich haben. Oder noch strenger: „Zu alt sein“ – Entwicklungen schon eingebüßt haben. Je mehr Notizen Bovenschen aneinanderreiht, je weiter das Buch sich dem Ende nähert, desto stärker scheint auch das Ende an sich zu drohen, wird eine Lebensenttäuschung zu Gedanken verdichtet, die den Suizid nicht ausschließt. Obwohl auch Heiteres aufblitzt, obwohl auch originärer Witz seinen Platz hat, wird der Text von einer Niedergeschlagenheit umklammert. Man fühlt sich nicht wohl, man möchte nicht in und mit dieser Lektüre alt werden. Vermutlich ist selbst für Leidende schwerlich Trost oder wenigsten Bestätigung des eigenen Leids in ihren Gedanken zu finden. Warum eigentlich nicht?

Bovenschen ist von zahlreichen, sehr schweren Krankheiten gezeichnet, die sie nur sehr zurückhaltend als Multiple Sklerose und Krebs andeutet. Man ahnt, dass mit den zunehmenden Qualen des voranschreitenden Leids das gefühlte Alter wesentlich fortgeschrittener sein muss als das physische Alter. Und dennoch – die Unstimmigkeit der Stimmung macht die Frage noch drängender, warum sie sich mitteilt. Jede Autobiographie hat etwas Exhibitionistisches. Warum sehr Privates in die anonyme Öffentlichkeit streuen? Und schließlich die Frage auf der Leserseite: will man in jedem Fall Teilhaber des Privaten werden?

Es reihen sich Kapitel verschiedener Prägung aneinander: amüsante Details der Jugend, die schon völlig vergessen waren wie die widerspenstigen Strumpfhalter, die in der Halböffentlichkeit unter dem Rock zur Räson gebracht werden mussten, wenn sie sich wieder einmal gelöst hatten. Oder sehr bemühte, gestelzt vorgetragene Betrachtungen bis hin zu gelungenen Sprachspielen wie etwa, dass die wahre Artistik des Alterns die Gabe sei, zwischen Altersgemäßen und Zeitgemäßen unterscheiden zu können. Das sei ein Können, das Alte vorübergehend noch können können. Die kurzen Kapitel machen das Lesen leicht. Gelegentlich möchte man noch eins mehr – aber man muss nicht unbedingt.  Note: 3– (ur)<<

Atemschaukel- Herta Müller

K640_atemschaukelHanser  2009, 300 Seiten.      

>> Herta Müller dokumentiert in der Rolle des fiktiven Ich-Erzähler Leopold Auberg das 5-jährige Zwangsarbeiterleben Oskar Pastiors im ukrainischen Nowo-Gorlowka und dessen Folgen . Was der 17jährige Rumäniendeutsche Leo, die Entdeckung seines homosexuellen „Geheimnisses“ fürchtend, als Chance dem „Fingerhut der kleinen Stadt“ zu entkommen, erlebt, erweist sich als Fahrt in die Niederungen menschlicher Verhaltensweisen. In 64 erinnerten Bildern, deren poetisch suggestive Sprache einem zuweilen wirklich den Atem verschlägt, vermischen sich zuweilen Realität und Halluzination. Zurückgeworfen aufs alltägliche Überleben – “Vom Eigenbrot zum Wangenbrot“ das bedrückendste Bild, im Dauerbündnis mit dem Hungerengels und unter dem Verlust von Scham und Moral erweist sich das Lager ins seinen alltäglichen Abläufen auch als „ein praktische Welt“,  in der selbst das „Abräumen“ der Toten zur nüchternen Verwertungskette verkommt. Jahreszeiten schrumpfen zu Hautundknochenzeiten. Zugleich gewinnen Objekte und ausbeuterischen Arbeitsvorgänge wie Zement, Schlacke, Schaufel,  Kohleabladen, Schlackoblockpressen ein differenziertes Eigenleben :„der Zement ist ein Intrigant“, die Arbeit mit der Herzschaufel gerät zum großartig grotesken Pas de deux, jede Schicht im Keller 12 Meter unter den Dampfkesseln der Fabrik mit Albert Gideo trotz gehasster „Durchfallschlacke“ zum „Kunstwerk“. Daneben bleibt Irma  Pfeifers Sprung in die Mörtelgrube die andere Form der Verarbeitung von Zwangsarbeit. Dass sich mit der Auflösung des Arbeitslagers nach 5 Jahren bei Leo Auberg  anstelle eines Gefühls der Befreiung die Erkenntnis der „unzumutbaren Entlassung“ einstellt, zeigt das  Maß an Verlust eigener Identität. Zwar erfüllt sich die Gewissheit von Leos Großmutter: Ich weiß Du kommst wieder, aber Zuhause bleibt er fremd. Posttraumatisch verfolgen ihn die Bilder bis zur Flucht nach Graz.: der „Nichtrührer“, „Zwischen den heimatsatten Leuten war ich vor Freiheit schwindlig“, das familiale Ver-schweigen und das „zusammengebaute“ Ersatzkind Robert, der Brief aus Wien – die Rache an Tur Prikulitsch -, der Kistennagler, der Betonierkurs, die Schein-Ehe mit Emma um dem Makel der „Spieler-“ oder „Klavier“-Identität zu entkommen. Was Leo an Glück bleibt, ist ein Einsamkeitstanz mit einer staubigen Rosine.
Fazit:
Faszination über die nicht immer auflösbare metaphorische Sprachwelt Herta Müllers und zugleich Entsetzen über das durch die Sprache aufgedeckte Martyrium der Lagerinsassen – ein Balanceakt für den Leser, der mich zuweilen doch an der Ästhetik der Grausamkeit zweifeln lässt. Note: 1/2 ( ai)<<

>>  „Der Hungerengel lief hysterisch herum. Er verlor jedes Maß.“ „Er taumelt enge Kreise und balanciert auf der Atemschaukel.“ Wann wird die Kraft nicht mehr reichen die Lungenflügel zu füllen, wann wird die Atemschaukel kippen, wann werden die Lagernachbarn in stabiler Gleichgültigkeit die versteckten Brotecken des Toten an sich nehmen? Fragen viel weniger an den Tod. Fragen viel mehr an diesen unsäglichen Hunger, der durch die Ewigkeit der Krautsuppe jahrein jahraus nur genährt und nicht gelöscht wird. Hunger, der allabendlich ein verzweifeltes Börsengeschäft belebt, wenn das einzige Brotstück in der Hoffnung getauscht wird, ein etwas größeres, dickeres zu erhalten. Und wenn auch das nicht gelingt, bleibt noch die Flucht in die Hungerwörter und die gar nicht abstrakten Visionen. Rauchige Luft zwischen leeren Zähnen ist/isst wie Bratwurst. Hunger entleert, Hunger macht geschlechtslos. Hunger zerstäubt die Anziehung zwischen Mann und Frau. Der unsäglich leere Gaumen wölbt sich wie eine gigantische Kuppel, in der sich beim „Gehen das Echo der Schritte … überschlug. Eine Durchsichtigkeit im Schädel, als hätte man zu viel grelles Licht geschluckt.“ Mit eindringlich poetischer Schärfe führt Herta Müller ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende das Messer in das  Fleisch des Frieden-verwöhnten Lesers.

Fünf unendliche Jahre verbringt die literarische Figur des anfangs 17-jährigen Leopold Auberg aus dem rumänisch-deutschen Siebenbürgen in russischen Arbeitslagern. Schon im zweiten Jahr beginnen die Bezüge des Ichs zu verschwimmen, wird der Zweifel zum Lebensinhalt. „Die Russen haben jedes ‚Jahr auf das Kommende gewartet, wir haben uns davor gefürchtet.“ Trotz der Sehnsucht nach Heimat, nach Orientierung und Halt, entschwindet zunehmend das Heimatgefühl. Je mehr Zeit der Entfremdung sich in die mageren Leben frisst, desto größer werden die Zweifel, ob Heimat noch Heimat sein kann, ob die Mutter nicht schon einen Ersatzsohn gezeugt hat oder die Ehefrau sich nicht schon an einen andern gebunden hat. In diesem Bezugsnotstand schwinden auch die zeitlichen Haltepunkte. Zukunft und Vergangenheit kommen abhanden. Nur die Gegenwart bleibt. Ein Paradoxon insofern, weil jeder Gegenwartsmoment leidvoll ist, während eine Flucht in das zeitliche Vorher oder Später Trost bieten könnte. Doch das tut es nicht – „man traute sich nicht mehr die Sehnsucht nach vorn“. Nicht mehr, wenn das Leid zu sehr Besitz ergreift.

Auch Leopold hat Alpträume von leeren Landstrichen, die einmal seine Heimat waren, entleert und für sein Auge nicht mehr wahrnehmbar. Stattdessen wird das quälende Lager sein emotionales Zuhause, weil eine Seele vier Wände braucht. Ganz andersartige Alpträume quälen ihn schließlich: er wird zum x-ten Mal deportiert, ohne dass man ihn in einem Lager aufnehmen will. Verzweifelt pocht er auf sein Lagerrecht, schließlich sei er ein erfahrender Lagerveteran. Selbst Jahrzehnte später, als er längst wieder in Freiheit lebt, lassen ihn diese Träume nicht los. Triebkraft wird nicht das absurde Recht auf Elend, sondern ein absurd anmutendes Heimwehgefühl als Grundmotiv von Eingebundensein. Eben der Ursprung von Heimat.

In 64 kurzen Abhandlungen, die mosaikartig ohne strenge Chronologie die Momente der Deportation, Inhaftierung, Heimkehr und schließlich Abkehr von Siebenbürgen skizzieren, wird der Leser mit Details eines  europäischen und eines individuellen Nachkriegsdramas konfrontiert. Leopold ist schwul und deshalb ständig von Inhaftierung im Rumänien der Kriegs- wie auch der Nachkriegszeit bedroht. Still in die Zeilen der Weltkriegsbeschreibung eingebunden erscheint die Verschleppung für den Homosexuellen anfangs wie eine Befreiung aus der moralisch-bedrohlichen Erstickungsnot der heimatlichen Umklammerung. Die beklemmende Enge bleibt auch nach der Rückkehr im Jahr 1950. Trotz einer Scheinehe wird die Bedrohung so groß, dass Leopold Hals über Kopf  nach Deutschland flüchtet ohne sein Ich zu finden, denn es sind nur kleine Schätze auf denen steht: Da bin ich. Die großen Schätze bleiben die der Vergangenheit: DA WAR ICH (S. 293). So atmet die Schaukel eine bleibende Traurigkeit. Der überwundene Schrecken bleibt wertvoller als die befreite Gegenwart.

Ein überzeugendes Werk. Eine erstaunliche Metaphernvielfalt gebettet in eine bemerkenswerte sprachliche Klarheit. Und die literarische Überraschung, Unsägliches zu Kunst zu formen. Wem gelingt es schon Hochofen-Schlacke (S. 172) in Poesie zu verwandeln? Einer Nobelpreisträgerin. Note: 1– (ur)<<

 

>>  Herta Müller beschreibt in Atemschaukel das lange verdrängte Schicksal der deutschen Minderheit in Rumänien Anfang 1945, als Zehntausende von ihnen in russische Arbeitslager deportiert werden. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des 17-jährigen Leopold Auberg aus Hermannstadt, der die Deportation anfangs als eine Art Befreiung aus der Enge seiner Heimatstadt und auch seiner Familie begreift, wohl auch deshalb, weil er gerade erst seine Homosexualität entdeckt hat.
In 64 Kapiteln, besser Episoden,  wird ein eindringliches, ergreifendes Bild des Lebens und Sterbens im Lager entfaltet, das trotz fast lyrischer Schönheit aber auch manchmal lakonischer Sprache nie die grausame Wirklichkeit übertüncht. Sprache wird auch zum Überlebensmittel für Leopold in der Trostlosigkeit des Gulag. Er lässt sich ein auf das Lager und Russland und umfängt die praktische Welt des Lagers mit wunderbaren Sprachschöpfungen wie „Angstwünsche“, „Hungerengel“, “Gnadenzwinger“, „Herzschaufel“ „Eigenbrot“ und eben auch der „Atemschaukel“ und macht so das Unerträgliche mit Hilfe der Sprache für sich selbst erträglich. Ein Meisterwerk mit der leichten Tendenz, in der Metaphorik verloren zu gehen. Note: 1/2 (ün)<<

>> Was für ein Buch. Fünf Jahre in einem russischen Arbeitslager. Schon von daher kein Lesevergnügen im eigentlichen Sinne. Aber ein interessantes Buch, gewiss, das seinen  Ausgang in Hermannstadt (heute Sibiu) nimmt. Wer diese schöne Stadt kennt und dann vom „Leben“ in der Steppe liest, kann ermessen, was dem jungen Mann widerfährt. Aber dieser ist anfänglich nicht einmal so unglücklich, dass er auf der Deportationsliste steht und dadurch der für ihn als Homosexuellen eh viel zu engen Stadt entkommen kann. An die Sprache muss man sich gewöhnen. Oft hochartifiziell, enigmatisch, celanisch. Oder vielleicht auch überzogen, manieristisch, gestelzt, gekünstelt? Ein Versuch, das Grauen abzumildern, zu ästhetisieren? Dann aber auch wieder realistisch, schlicht und dadurch packend. Ganz so wie die Nobelpreisträgerin spricht bei ihren unzähligen Interviews. Überzeugend. Bei you tube zum Beispiel. Der omnipräsente Hunger, der entmenschlicht und bestialisiert. Ist es da zynisch, wenn lakonisch geschildert wird, wie die Hungerqual gestillt werden soll durchs Reden über Kochrezepte („Man nehme….“)? Hilft das? Ein eindringliches Kapitel, ebenso wie die „lateinischen Geheimnisse“ aus der maroden Krankenbaracke oder die Schilderung des allmächtigen Zements.  Der „Sieg“ der schwachsinnigen Planton-Kati aus Bakowa über den Tyrannen Tur Prikulitsch. Diese, wie gesagt eher lakonisch geschriebenen Kapitel wirken auf mich am eindringlichsten. Traurig für den Erzähler, dass die Beziehung zur eigenen Familie vor und auch nach der Deportation eher desolat ist. Nur die Großmutter zeigt echte Gefühle für ihn. Nur sie erwartet und erhofft seine Rückkehr. Die Übersetzer/innen dieses Buches sind nicht zu beneiden. Ich werde nachschauen, wie Meldekraut in  romanische Sprachen übersetzt wurde. Die Aufteilung in viele kleine Unterkapitel (Entstehungsgeschichte) macht das Buch gut lesbar. Ansonsten  viele Abgründe, zu viele Hungerengel, zuviel Wut über das, was Menschen Menschen antun (es gibt auch Lichtblicke), zuviel Schaukel ohne allerdings verschaukelt zu werden. Atemschaufel oder Herzschaukel?  Vielleicht habe ich auch nicht alles verstanden. Zum Beispiel auf Seite 236: „Der Nullpunkt ist das Unsagbare.“ Extreme Verdichtung, halluzinatorische Lyrik, lyrische Halluzinationen? Über das Unsagbare sollte man schweigen, hat einmal ein Bedeutenderer geschrieben. Doppelpunkt.
Note:
2+ (ax) <<

QQ- Max Goldt

Max Goldt- QQGoldmann 2006, 183 Seiten.      

 

>> 21 feuilletonistische Texte mit different quality. Ausgangspunkt fast immer Alltagsbeobachtungen, die z.T. sehr skurrile Assoziationen freisetzen. Zum Kugeln und mit hintergründig geistreichem Witz  (Malta; Moral-theologe; Schnalbelsackaroma; Zahnfleisch-prophylaxe und – großartig – Drahtschneckenringe u.Vicky Handchoreographie zum Gähnen und Abwinken (Henner Larsfelds Fernsehmusik;  Prekariatsgedanken; Querula-torisches im ICE; auch die drei Sprachkritiken – am schwächsten der aus meiner Sicht gescheiterte Analyseversuch jenes Satzes, der nach M. G. „nichts als Lügenschaum und dumme Fratze“ sei). Schade, dass das Potpourri und Feuerwerk von Geistesblitzen – die Wampenwanderung, die Cranio Sakral Session, die wunderbare Bügelhaltersicherung, der Zählkonflikt des illegalen Ziegenhirten, der Kindheitserinnerung an Frau Rem (es ist auch meines Kindheitserinnerung) so rasch erlischt. Ein Kracher jagt zu sprunghaft den nächsten – da kann dann auch mancher Text  wie bei der „Stabilität der Tomatenschelte“ in sich zusammenkrachen. Aber Max Goldt ist weit weit besser als der Kalauer „Es ist nicht alles Goldt, was glänzt“. Note: 2/3 ( ai)<<

>>  MG in QQ revisted: Max Goldt mit Quiet Quality recycelt. 21 Impressionen der Zeitschrift Titanic. Warum nicht und vor allem für jene, die es kompakt mögen, die es satirisch lieben, die sich Sinn für Unsinn bewahrt haben und hinter allem dennoch Lebensweisheiten vermuten wollen. Quiet quality sei all das in der modernen Medien- und Kulturlandschaft, was nicht schreit und spritzt. Wie von Max Goldt erwartet werden darf, lässt er sich auf das erste Q ein um gleich das zweite ins Gegenteil zu verkehren. Meist beginnt er mit dem Stillen, mit den übersehenden Kleinigkeiten des All- oder Sonntags, denen er sodann eine überraschende Interpretation, eine humorvolle Ausformung oder eine bissige Wertung gibt, dass es spritzt und schreit.
Max Goldt widmet sich gefälschten Helden wie dem Filmmusik-Komponisten, der entnervt ist von seinem jubelnden Publikum, weil es nicht merkt, dass seine Melodien sich ständig wiederholenden Grundmustern folgen. Oder jenen Damen als echten Helden der Zivilisation, die sich mit eherner Disziplin der grotesken Aufgabe stellen, kleine Affen in Kinderwagen um den Wohnblock zu rangieren.
Max Goldt ist vielseitig. Auch für Plattitüden ist er sich nicht zu schade. Folglich begegnen wir flach geratenen Abhandlungen über das Staunen, der Ablehnung eines neuen Feiertags namens „Masern“ in einer feiertagsarmen Jahreszeit vor den Herbstferien, oder seiner aufgesetzten Aufregung über die weibliche Gewohnheit, Stoffbärchen an Rucksacktaschen zu binden. Goldt ist klar, dass sich hier ein Bewußtseins-schwaches Geschlecht ausbreitet, auf das sich die Frauenbewegung fokussierten könnte, sollte sie noch mal zu Kräften kommen.
Wesentlich amüsanter dagegen „Die Prophezeiung“, die Pelikanen in Folge der Klimaveränderung eine glänzende Karriere als Pilzsammler voraussagt, was den Pilzen zwar ein Schnabelsackaroma verleihen würde, jedoch medientechnisch gewinnbringend in Szene gesetzt werden könnte. Auch sprachlich gelungen die herrliche Betrachtung „VL“, in der wir Vicky Leandros urban verfeinert in dramatischer Folkloretoilette wieder begegnen. VL sei ebenso sinnstiftend gewesen wie Katja Ebstein, die über jene ausgefeilte Handchoreographie verfügte, die jedem Korkenzieher Schraubgewinde Ehre machte.
Doch wie jeder gute Fußballverein hat auch GG schlechte Tage, an denen sich sprachliche Wadenprellungen häufen. Tage, an denen Elfmeter verschossen werden mit Sentenzen wie „die mir zugefügte Gewalt nicht langewaltend seelisch beschädigt“, Torflanken mit „zelebratorischer Schweigsamkeit“ ins Leere laufen, oder an denen mit „adoleszentem Wunsch nach Otherness“ schon mal der Schiedsrichter beleidigt wird. Das sind verregnete Tage, an denen die schriftstellerischen Schuhe besser im Spind geblieben wären. Aber sehen wir es sportlich. Wichtig ist doch nur das Dabeisein: spritzend oder bespritzt – in QQ ist für jeden irgendwo und –wie was dabei. Also bitte Platz nehmen. Note: 3 (ur)<<

>> QQ,  ein in einem fiktiven Interview des Autors mit der ebenfalls nicht-existenten Krimiautorin Petra Hipproth in einem früheren Werk auftauchender, angeblich neuer US-Trend für „stille Güte“ (quiet quality), stehe für alles , was nicht „spitzt und schreit“.  Reichlich viel Fiktion für einen Buchtitel. Ob dies als Klammer für die 21 in QQ vereinigten Essays  taugt? Eher nein. Macht aber nichts. Von wenigen Ausnahmen, wie „Über Fernsehmusik“ mal abgesehen, finden sich sehr gelungene, witzige und im Detail manche bekannte, oder eben auch die nur im Unterbewusstsein registrierten Alltagsphänomene – wie das der „fehlenden Haken“ – überraschend ergiebig  ausleuchtende, zuweilen auch ätzende, giftige oder gänzlich absurde Gedanken. Dies, und seine trotz des schonungslosen Grundtons immer sensible Annäherung an Sprache und mediale Sprachschöpfungen, aber auch sein virtuoser eigener Umgang mit Sprache, machen den Reiz des schmalen Bändchens aus. (Grossartig : „Gedanken bei der Cranio“) Dass sich bei der einen oder anderen Geschichte die Assoziationskette manchmal so weit verzweigt, dass der Autor nur mit Mühe oder auch gar nicht zum Ausgangspunkt zurückfindet, hat mich nicht im Geringsten gestört – im Gegenteil. So denkt Mensch nicht nur manchmal, sondern oft. Ich bin Goldt auf fast allen Wegen und Abwegen  gerne gefolgt. Note: 2 (ün)<<

>>Warum habe ich an diesem schneeigen Januarmorgen überhaupt keine Lust, über die 22 Titanic-Kolumnen des Kleist-Preisträgers Max Goldt zu räsonieren? An seinem ansprechenden Namen, der nur partiell zu seinem leicht bräsigen Gesicht passt, kann es nicht liegen. Liegt es dann vielleicht daran, dass ich nach der Lektüre der Martenstein-Kolumnen „Männer sind wie Pfirsiche“ viel ruhiger und zufriedener einschlafe als nach den Goldt -Glossen? Oder daran, dass ich im Innersten weiterhin schlicht und ergreifend die Schreibobligation nach der Lektüre und Diskussion eines Buches ablehne, es aber nicht zugeben kann? Oder daran, dass ich seit vielen Monaten fast hundertprozentig davon überzeugt bin, dass meine Zeilen nicht einmal  d i e drei Männer lesen, die das Vergnügen haben, gemeinsam mit mir seit über 15 Jahren (Jubiläum verpennt!) einen Lesekreis zu bilden, der sogar über eine eigene Homepeitsch (Wortspiel) verfügt. Wobei, damit keine Zweifel entstehen, das Vergnügen ganz meinerseits ist.Vielleicht finde ich später noch eine Antwort.
Max Goldt jedenfalls scheint diese Unlust nicht  zu kennen, zumindest nicht ernsthaft. Er schreibt scheinbar mühelos über fast alles und jedes. Es geht von Sylt nach Malta, von der Rohlings-Spindel zur Fach-Entrostung, vom Bärchen am Rucksack zur Theaterkritik. Und immer wieder die Sprache, unsere, die deutsche, die er als „Dorftrottel unter den Sprachen“ bezeichnet. Und doch nimmt er den Dorftrottel ernst, so ernst, dass es oft schon wieder lustig wird. So wenn er zeigt, wie dünn  und durchsichtig die Buchstabensuppe aus all den Worthülsen vieler Talkshows ist. Gelegentlich fühlt man sich ertappt, so etwa wenn er das Leserbriefschreiben als letzte sichere Bastion für Querulanten bezeichnet (S.90). Und wer schon mal in Kur war, hat sie gesehen, die, die „ihren Bademantel wie Hermelin tragen“(S.64). Oder sein Kommentar zu einer fast schon dekadent anmutenden Form des Feinschmeckertums, das auch in den sogenannten alternativen Intellektuellenkreises in den letzten zwanzig Jahren massiv zugenommen hat: “Bald wird niemand mehr etwas gelten in der Gesellschaft, der nicht wenigstens einmal im Jahr durch Pelikanspeichel fermentierte Pilze isst.“(S.76) Aber dann, ganz fürchterlich, wenn er Nietzsche mit zwei Sätzen richtet: “Nur was morgen stirbt, ist heute schön! Ewigkeit ist ekelhaft!“ Danke, Max! Note: 1/2 (ur)<<

Sieben Jahre- Peter Stamm

Peter Stamm - Sieben Jahre S.Fischer 2009,  298 Seiten.      

>> Die Dreiecksgeschichte „Sieben Jahre“ ist kein klassischer Beziehungskonflikt mit drei Ecken á la mann liebt zwei frauen. Das vermeintliche Dreieck wirkt eher wie zwei horizontale Strecken durch den Mittelpunkt Alex, aus dessen Munde die Geschichte stammt. Oder beziehungsmathematisch noch genauer: es ist die Geschichte um den einen Mittelpunkt, von dem nicht horizontal, sondern senkrecht zueinander zwei weibliche Beziehungs-strecken abzweigen. Sie sind so verschieden, dass sie nicht in einer Ebene denkbar wären. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der vordergründig mit der charmanten, schönen Gattin Sonja perfekt gebettet scheint und sich dennoch obsessiv zu der anteilnahms- und gesichtslosen Aschenputtelfigur Iwona legt. Peter Stamm hat eine Geschichte von Gefühlen, Macht und Entfremdungen geschrieben, die den Menschenverstand provoziert. Vielleicht im verborgenen Alltag gar nicht so selten. Konzeptionell in jedem Falle wertvoll.

Sonja und Alex sind Kommilitonen im Münchner Architekturstudium. Sonja begeistert durch ihren engagierten Einfallsreichtum. Während sie die kontroversen Richtungen geschichtlicher Bauphilosophien aufsaugt, schlafwandelt Alex durch die Nächte des studentischen Olympiadorfes. Während Sonja sich beruflich in Frankreich im Dunstkreis von Corbusier beeinflussen lässt, verliert Alex sich als angestellter Architekt in der monotonen Planung von Treppenhäusern. Während Sonja sich für einen Freund entscheidet, um sich schließlich von ihm wieder zu trennen, weil er sich nicht hinreichend von seinen Eltern emanzipiert, lässt Alex sich von angetrunkenen Freunden mit Iwona verkuppeln, obwohl sie ihn anwidert. Letztlich ist es die Freundin und exaltierte Malerin Antje, die die so verschiedenen Charaktere Sonja und Alex in ihrer Marseiller Wohnung zusammenbringt, woraus zunächst eine 14 jährige Ehe erwächst.

Iwona ist eine illegal nach Deutschland immigrierte Polin; isoliert, zurückgezogen, verschüchtert, arbeitsam, streng gläubig, befremdliche Erscheinung mit deutlichem Hang zur Geschmacklosigkeit. Ihr einziger Kontakt besteht zu einem Bibelkreis, der sie später fallen lassen wird, als sie unverheiratet und ungewollt schwanger wird. Nach der ersten Begegnung zieht es Alex immer wieder zu ihr, obwohl ihr Geruch, ihre ausdauernde Apathie und die konsequente sexuelle Weigerung ihn befremden. Dennoch ist es gerade der sexuelle Widerspruch, wenn er sich als nackter Mann an dieser gesichtslosen Frau in der Strickjacke reibt, der ihn ebenso reizt wie ihre Sprachlosigkeit, die keinerlei Ansprüche an ihn formuliert. Gerade hier tut sich für Alex eine neue Lebensqualität auf: ein Mensch so ganz anders als Sonja, die Alex immer wieder mit Plänen. Erwartungen, Herausforderungen konfrontiert. Iwona dagegen will nichts, fragt nichts, fordert nichts. Und dies obwohl sie Alex als von Gott für sie Auserwählten beschreibt.

Zwischenzeitlich vergeht eine vom Autor nicht vertiefte Zeitspanne von sieben Jahren, in der Alex und Iwona einander aus den Augen verlieren. (Warum diese Phase dem Buch den Titel gab, bleibt im Verborgenen.) Alex und Sonja haben derweil ein erfolgreiches Architekturbüro etabliert, als Alex zu Iwona gerufen wird. Sie hat Gebärmuttergeschwülste, müsste operiert werden und bittet Alex um finanzielle Unterstützung. Augenblicklich erwacht die schon vergessen geglaubte Obsession. Während des jetzt vollzogenen Beischlafs ergießt sich der Samen in das Tumorgewebe und führt zur Schwangerschaft. Im Laufe der kommenden Monate dringt Alex regelmäßig in sie, zwingt ihr Peinlichkeiten auf und entlohnt sie je nach emotionalem Schwierigkeitsgrad in bar. Iwona erscheint wie ein kosmisches Schwarzes Loch, das ihn mit unbändigen Kräften anzieht und nicht mehr freigibt.
Als Alex Sonja in das Schwangerschaftsgeheimnis einweiht, wird einvernehmlich und konspirativ der Plan einer Adoption geboren, da Sonja trotz großer Bemühungen keine Kinder bekommt. Gegen den anfänglichen Widerstand von Iwona kommt das Neugeborene zu den Beiden, wo es dem Leser später als eine etwas kratzbürstige, siebenjährige Sophie begegnet.

Währenddessen greift die Wirtschaftkrise um sich, das gemeinsame Büro geht in die Insolvenz und die Ehe in den Ausnahmezustand. Sonja kehrt zurück nach Frankreich und Alex wird zum Stammgast in besser gemiedenen Spelunken. Sonjas spätere Rückkehr und die Gesundung des gemeinsamen Betriebes kann den familiären Zerfall jedoch nicht mehr aufhalten. Sonja löst sich endgültig von Alex und lässt Sophie bei ihm zurück. Zu diesem Zeitpunkt ist Iwona aus dem realen Leben von Alex entrückt, auch wenn er in krankhafterweise ihre Spuren sucht.

Hat Peter Stamm in dieser Triole den einzelnen Protagonisten Facetten des Glücks und Unglücks, der Macht und Unfreiheit, der Ich-Stärke und Selbstaufgabe zugewiesen?

Offensichtlich ist es kein Entweder-Oder. Nicht Sonja oder Iwona. Denn beide konkurrieren nicht tatsächlich miteinander. Weder direkt noch in der Gefühlswelt von Alex. Alle drei scheinen in gewisser Weise hilflos mit sich selbst und ihrem Leben, keinem scheint nachhaltig Glück zuteil. Auch die Ich-Stärke hilft Sonja nicht. Im Gegenteil scheint die Stärke direkt gepaart mit Gefühlsarmut, welche Genuss mit Verweilen und Erfüllung verhindern. So bleibt Sonja als Getriebene unfrei. Andererseits schwebt über Alex ständig das Schwert der Selbstaufgabe, das ihn zu einem unbestimmt Getriebenen macht und ihn prompt in eine Schicksalssackgasse treibt. Und Iwona? Sie erscheint geradezu als die Inkarnation von Unglück, Unfreiheit und Selbstaufgabe, etwa wenn sie die für ihre Operation bestimmten Tausende von Euro nicht für sich beansprucht, sondern wie immer nach Polen zur Unterstützung der Verwandtschaft schickt, obwohl die Vettern und Tanten sie aus moralischen Gründen schon längst geächtet haben. Sie hat in ihrer Liebe zu Alex einen festen Bezugspunkt, aber wird ihr das ein Lebenswert? „Sie hatte alles verloren. Was man verlieren konnte, aber sie wusste wozu sie da war. Sie hatte ein Ziel, und wenn es noch so unsinnig war. Vielleicht… war Iwona glücklicher als wir“ (S. 248). Da ihr Gravitationsfeld eine lähmende Macht ausübt, versucht Alex ihre Anziehungskraft durch Erniedrigung zu neutralisieren. Doch muss der Versuch scheitern. Zwischen den beiden Beziehungsachsen rotiert er als leerer Schwerpunkt, so dass sich keine Geometrie der Unschuld und der nachhaltigen Bestimmung ergibt.

Am Ende ergibt sich eine Romangestaltung mit tragischen Lebensverlierern, unter denen Iwona die markanteste Figur darstellt. Peter Stamm hätte man wünschen mögen, die Widersprüchlichkeit und die daraus erwachsende Sucht- und Machtbeziehung des Ich-Erzählers Alex noch überzeugender zu profilieren. Das Buch wäre noch eindrücklicher geworden. Note: 2/3 (ur)<<

>>Die Geschichte vom Scheitern seiner 18jährigen Ehe mit Sonja, die wir als Rückblende aus der Perspektive des Ich-Erzählers Alex erfahren, erhält ihre befremdliche Faszination durch die Figur der Polin Iwona. Was sich aus der von bierseligen Studienfreunden eher als Jux arrangierten Zusammenführung des Architekturstudenten  Alex und Iwona ergibt, entzieht sich auf den ersten Blick („sie war vollkommen reizlos“ S.17) jeder Plausibilität und dennoch offenbart gerade diese Beziehung die Ab- und Hintergründe menschlicher Bedürfnisse. Die meist nur stundenweise Begegnung  von Alex und Iwona (der Schauplatz fast ausschließlich das muffige durch Illustriertenromanzen geschmückte Zimmer der völlig zurückgezogenen Iwona) ist geprägt durch das Nebeneinander von  Obsession und Abscheu, von Geborgenheit und Fremdheit, Gier und Sprachlosigkeit, von Macht und Ohnmacht, von Täter und Opfer. Fast willenlos unterwirft sich Iwona nach anfänglichem Zögern dem immer gleichen Befriedigungsritual („unsere Treffen liefen nach dem immer gleichen Muster ab und dauerten selten länger als eine Stunde) ohne auch nur den Hauch eines Anspruchs oder einer Forderung gegenüber Alex zu erheben. Für Iwona, durch Herkunft, illegalen Aufenthalt, religiöse katholische Erbauungsliteratur und triviale Glücksverheißung gleichermaßen begrenzt wie verblendet, beginnt mit der „Erscheinung“ von Alex die „bedingungslose Liebe“. Für Alex dagegen wird das Bedürfnis nach sexueller Befriedigung zur „Hörigkeit“ (121) zu einer Art Parallelwelt, in der sich anfängliche Macht über Iwona (Missbrauch?) in Ohnmacht verkehrt. Verfügungsgewalt ganz anderer Art gewinnt Alex erst wieder am Ende der Beziehung zu Iwona. Iwona wird im 7. Jahr (!!) der Beziehung zu Alex schwanger, ein Umstand der der bisher kinderlosen Ehe von Alex und Sonja eine Adoptiv-Tochter namens Sophie beschert. Dass dieser unerwarteten Familienplanung, die in seltsam nüchterner Übereinkunft vollzogen wird, kein dauerhaftes Glück beschieden ist, zeigt sich Jahre später in dem Augenblick als die Wohlstandsfassade der dynamischen Architekturfamilie durch Auftragseinbrüche Risse bekommt. Während Alex dem drohenden Konkurs passiv durch Anzeichen der Verwahrlosung begegnet, knüpft Sonja ohne Rücksicht auf die Familie in Marseille an frühere Architekturarbeiten an.  Auch diese 2. Marseiller Episode erinnert daran, dass schon das Fundament der Beziehung von Alex und Sonja seit der 1. Marseiller Begegnung wenig stabil war. Sonjas durch das gutbürgerlich-wertkonservative Elternhaus (großartig Alex’ Beschreibung der Elternrituale) geprägter unbändiger Ehrgeiz sich beruflich zu verwirklichen, der Vorrang des Äußerlichen vor dem Innerlichen, ihre sexuelle Zurückhaltung, ihr Pragmatismus bei der Lebensplanung (Alex verordnete Fruchtbarkeitsfahrten von Chemnitz nach München), all dies liefert schon früh Motive für Alex wiederkehrende Ausbrüche in eine Parallelwelt vermeintlicher Freiheit, auch wenn sie wie im Falle Iwona wieder Züge des Zwanghaften annimmt. Das Scheitern in Beziehungen bedeutet für Alex aber auch das Scheitern an sich selbst, weil weder Lebens- noch Architekturplan eine persönliche Linie aufweisen und so bleibt seine Gewissheit „dass Iwonas Leben – ärmlich und anstrengend und entbehrungsreich – glücklicher gewesen war als meines“ (281) letztendlich eine romantische Verhöhnung der Iwona-Wirklichkeit.
Gerade weil die Alex – Iwona Beziehung bis zum Schluss nicht nur dem Leser sondern auch den Akteuren fremd bleibt, fesselt sie. Sie macht den Roman, die zum Teil sehr schrägen Nebenfiguren (Rüdiger, Tanja, Alice ec.) und Nebenschauplätzchen (Architekturgedöns) sind das literarische Lametta.. Die Sprache, die der Autor seinem Ich-Erzähler leiht, ist glasklar : anders als die Iwona-Geschichte. Note: 2 (ai)<<

>>Warum verfällt der Ich-Erzähler Alex, der mit der schönen, manchmal etwas spröden Sonja aus gutem Hause verheiratet ist, ausgerechnet der konturlosen, gänzlich unattraktiven Polin Iwona? Die asymmetrische, bedingungslose Liebe Iwonas zu Alex und die offensichtlich daraus resultierende Macht über Alex , das ist das zentrale Thema Stamms in diesem Buch. „Es ist schlimmer nicht geliebt zu werden, als nicht zu lieben“, lässt er Alex einmal sagen, als dieser mit dem Vorwurf seiner Freundin Antje konfrontiert wird, Iwona auszunutzen. Oder : „Ein Mensch der liebt, hat immer schon gewonnen“ . Eine These, die auf Iwona gemünzt, jedoch im Roman nicht wirklich bestätigt wird.

Die zeitversetzte Rahmenhandlung, die gutbürgerliche Welt am Starnberger See, das Studentenleben in München, die ästhetischen Fragen der Architektur, all dies gelingt Stamm vorzüglich und handwerklich gekonnt. Auch der Gefühlswelt von Alex lässt uns Peter Stamm sehr nahe kommen. Das ist sehr gut gelungen. Bei Sonja erging es mir nicht ganz so. Vielleicht liegt das daran, dass wir Sonja ja nur aus den Erzählungen von Alex kennen lernen. Oder der Autor hat ihr schlichtweg „zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt“, wie Peter Stamm auf einer Lesung nach einer Publikumsfrage selbstkritisch anmerkte. Note: 2+ (ün)<<

>> Lieber Alexander,
was wohl aus Ihnen geworden ist?
Mit all Ihrem übermächtigen Fernweh, das Sie auf der letzten Seite überkommt, Ihrem Wunsch, wegzugehen und nie mehr zurückzukehren, irgendwo neu anzufangen, in Berlin oder in Österreich oder in der Schweiz. Wo Sie wohl gelandet sind?
Glückwunsch, falls Sie sich für die Schweiz entschieden haben. Was soll ich sagen zu allem was Sie auf 298 Seiten mitgemacht, erlebt, gelebt und verlebt haben. Vorneweg:  ich glaube nicht, dass Sie ein Schwein sind, wie Antje sagt. Ganz sicher nicht. Dafür sind Sie zu sensibel, zu menschlich. Antje meint, das sei keine schöne Geschichte. Sicher, aber dafür ist sie interessant.
Das Zerrissensein zwischen zwei völlig gegensätzlichen Frauen. Nehme ich Ihnen ab. Aber diese Abhängigkeit von Iwona, diese Obsession, schwer fassbar. Haben Sie sich  nie gefragt, ob nicht ein kleiner Sadist in Ihnen steckt? Oder gibt es Magnetismus zwischen Menschen, der stärker ist als wir? Ihr Schöpfer Peter Stamm bleibt ein großer Andeuter, wenn er von Ihnen schreibt: „Dann sagte ich ihr, was ich mir ausgedacht hatte, und wir gingen ins Schlaf- oder Wohnzimmer oder ins Bad.“ Ein Therapeut würde vielleicht sagen, dass Sie daran arbeiten sollten, aber warum eigentlich. Bleiben Sie wie Sie sind, wichtig ist nur, dass Sie einen komplementären Part finden. Nach und nach sind Sie mir sogar sympathisch geworden. Sie  genießen es insgeheim, keine Verantwortung zu haben und kein Ziel (Seite 110). Und auch dann, wenn Sie wohlwissentlich einen Fehler machen (Seite 161), das zeigt doch Größe. Eigentlich sind Sie ja ein Glückspilz. Eine Frau wie Sonja kennen zu lernen,  um die Sie die ganze Welt beneidet. Aber natürlich, ein Melancholiker wie Sie und ein Tatmensch wie Sonja, da wird es immer knirschen. Trotzdem haben sie es  ja 18 Jahre zusammen ausgehalten. Zurück zur Eingangsfrage, was aus Ihnen wohl geworden ist. Mit einem Buch wie „Die nächsten sieben Jahre“ könnte Peter Stamm die Frage leicht beantworten. Aber dieses Buch wird wohl ungeschrieben bleiben und so werden wir es nie erfahren, weil auch meine Zeilen Sie wahrscheinlich nie erreichen werden.

Trotzdem alle guten jahreszeitlichen Wünsche, ein glückliches Jahr 2010 (ja Glück).
Ihr Milian
Note: 1/2 (ax)<<

Schrecklich amüsant,aber in Zukunft ohne mich – David Foster Wallace

Schrecklich amüsant-aber in Zukunft ohne michGoldmann 2006, 183 Seiten.      

 

>> Wenn schon eine Seefahrt lustig ist, wie lustig wird dann erst eine Kreuzfahrt? Zu lustig, meint David Foster Wallace, der von sich sagt, er leide unter Agoraphobie, vulgo Platzangst, also keine ideale Voraussetzung fürs Kreuzfahrten.
Sieben Tage verbringt der Autor auf dem Schiff Nadir und beschreibt akribisch und meist ironisch eine Fülle oftmals skurriler Details. Die Ko-Kreuzfahrer, die Mannschaft, das Programm, die technischen Details (Schwerpunkt Unterdruck-WC). Nichts, was seinem wachen Auge entgehen würde. Gelungen seine Gedanken zum  „professional smile“ des Personals, wobei er immer wieder  auf die miserablen Arbeitsbedingungen der unteren Chargen hinweist, gelegentlich schimmert etwas amerikanischer Selbsthass durch. Könnte die Charakterisierung der amerikanischen Touristen als „bovines Herdentier und Fleischfresser“ (Seite 110) nicht auch auf andere Nationalitäten zutreffen? Nachvollziehbar beschreibt er,  wie schnell man sich an Verwöhnung gewöhnt, wie schnell die Ansprüche steigen und dann solange gesucht wird, bis man doch etwas zum Kritisieren findet.
Die Fußnoten (Parodie auf wissenschaftliche Schreibe?) erleichtern die Lektüre nicht, ebenso manche Wiederholungen.
Insgesamt eine amüsante, anschaulich und originell geschriebene Lektüre, die sich aber jemand, der eine Kreuzfahrt für sich selbst immer schon ausgeschlossen hat, vielleicht auch sparen kann. Note: 2– (ax)<<

>>10 Jahre nach Neil Postmans berühmter Rede auf der Frankfurter Buchmesse „Wir amüsieren uns zu Tode“ entführt uns David Foster Wallace literarische Reportage in die Abgründe eines 7-tägigen Karibik-Kreuzfahrt. Was die Auftragsarbeit für „Harpers Magazine“ auf und unter Deck aufdeckt, ist weniger das Produkt eines investigativen Recherche (sie wird, wenn sie denn überhaupt intendiert war, durch das Schiffsmanagement gründlich behindert) sondern das Resultat eines glaubhaften Leidensberichts des 35-jährigen Autors, der schon im Einleitungskapitel („Ententanz von 500 amerikanischen Leistungsträgern“, „Skeetschießen“ „Pelikan auf Fenchel“, „Bierbäuche“, „Sakkos von menstrualem Rosa“, „Krampfadern und Besenreiser“, „Petra mit den Grübchen“ etc.)  viel von dem andeutet, wohin die Reise ging. Was sich von der „Verladeprozedur“ (die Schindlers-Liste Assoziation erschient mir als Fehlgriff), der Einschiffung in „Stückmengen“ bis zum skurril-hypnotischen Abgesang in diesen 7 Tagen auf den verschiedenen Decks, an Tisch 64, in Kabine 1009, in den Daueramüsement- und Rundumversorgung Etablissments abspielt, ist der Mikrokosmos einer Spezies namens „Nadiriten“, dem der Autor und Mit-Nadirite erst wieder mit seinem „Wiedereintritt in das normale, selbstverantwortliche Landratten entkommt“. Was aber offenbart uns als Leser dieser Mikrokosmos: Dass das teuer bezahlte Bedürfnis nicht nur des US-Bürger gehobenen Mittelstands und der Ostküstenadel nach Luxustourismus, nach Rundumverführung,  „pandemischem Service-Lächeln“, “Celebrity-Philosophie“, „wahnwitzigem Ausmaß der Verwöhnung der Maschine-Nadir“, „Lobster Night“,  „Glückseligkeits- und Heilsversprechungen“ eine vielfach verdrängte Voraussetzung in ethnisch-hierarischen Herrschaftsstrukturen hat, im Falle der „Nadir“ vom griechischen Elitekader bis zu den Drittwelt-Gestalten der „Service-Sklaven“, die nur für einen kurzen Augenblick in der glänzenden Episode des libanesischen Gepäckträgers ein persönliches Gesicht bekommen.
Wenn Wallace zurecht empfindet, dass „all diese Kreuzfahrten etwas unerträglich Trauriges umgibt“, dann stellt sich nur noch die in einer literarischen Reportage wohl nicht zu beantwortende  Frage, warum die „Nadiriten“ (der Boom von Luxuskreuzfahrten und Clubarrangements ist gewaltig) sich massenhaft, freiwillig, kostenpflichtig und ohne Anzeichen von Scham zu Tode amüsieren.
Apropos Amüsement: Die Spaßolympiade « Pool Possen » des Cruise Directors Peterson ist von der letalen Gefahr deutlich weiter entfernt als die zotige Unterdruck-Anekdote über seine Gemahlin Mrs Scott Peterson und ihren Mexikaner(hut).
Ein Buch, das ich trotz seiner mitunter lesestörenden Fußnoten, zunächst in einem Fluss (Karibik!) gelesen habe. Schiffspassage  zum fidelen Orkus – wo ist der Rettungsring? Note: 2/3 (ai) <<

>> Nicht schrecklich, aber amüsant und in Zukunft mehr mit mir! David Foster Wallace ist eine Entdeckung. Das schmale Bändchen Reiseliteratur – eine Auftragsarbeit – der anderen Art macht neugierig auf mehr von einem Autor, der in hinreißend komischer und spannenden Art die seltsamen Abläufe einer Kreuzfahrt beschreibt.
Trotz aller ätzenden Kritik an hohlem Amüsement und herdenhaftem, tumben Verhalten seiner Mitreisenden, schafft er aber auch liebevolle, einfühlsame Porträts einzelner Personen an Bord und leiht sich am Ende doch noch einen Smoking für das Captain’s Dinner. Note: 1/2 (ün)<<

>> Ein Wallace auf Wellen mit dem journalistischen Auftrag für eine Zeitschrift Eindrücke einer einwöchigen Kreuzfahrt durch die Karibik unterhaltsam zu durchleuchten. Der Titel verrät bereits das Layout: „schrecklich“ und „amüsant“. Und weil das erstere schwerer wiegt, folgt erwartungsgemäß „aber in Zukunft ohne mich“. Wallace ist kein Mensch lauter Seemannslieder, sondern als „Agoraphobiker“, wie er sich selbst einstuft, eher der stille Horcher hinter verschlossenen Kajütentüren. Und was er da hört, bekommt durch eigenwillige Assoziationen durchaus amüsante Klänge.

Während das Kreuzfahrtschiff von Horizont zu Horizont stampft, entdeckt er die kleine Gruppe der Exzentriker samt dem Toupet tragenden Jungen, der nie ohne orangefarbene Schwimmweste beobachtet wird, den extrovertierten Showmeister, dessen Frau nackt auf dem Unterdruckklo des Traumschiffes festgesaugt war, den Seepfarrer, der während seiner Predigt vor dem Klappaltar dankenswerterweise auf nautische Metaphern verzichtet und natürlich das rehäugige Zimmermädchen Petra. Mit Petra verbindet Wallace eine rege, wiederkehrende Unterhaltung, auch wenn Petra sich in gebrochenem Englisch auf den einfühlsamen Jauchzer „You funny thing, you.“ beschränkt. Trotz ihrer Einsilbigkeit bleibt sie ein Servicephänomen, da sie ohne je dabei gesehen zu werden, augenblicklich die Betttücher glättet, sollte Wallace länger als 29 Minuten die Kabine verlassen haben. Das Leben an Bord – ja auch das Bord / das Boot selbst ist ein Phänomen – geprägt von Luxus, Dekadenz, und herrlicher Sinnlosigkeit.

Es bleibt nicht aus, dass Wallace gelegentlich in der Ecke der Überheblichkeit stecken bleibt. Dennoch gelingt es immer wieder, sich mit eingestreuter Selbstironie etwa als Mann mit der Zinksalbennase selbst zum Erzählgegenstand zu machen. Amüsante Wortspielereien lockern den Text auf, wenn wir von narkoleptischer Bequemlichkeit der Liegestühle oder dem postkoitalen Timbre der Deutschen Sprache erfahren. Sehr bemüht wirken allerdings seine Passagen, die einem ernsten Anspruch folgen, wie etwa die Ausführungen zum „professional smile“ als Grundlage der Servicekommunikation. Hier wagt der Autor den Schluss, dass aufgesetzte Freundlichkeit durch unterdrückte Emotionalität Gewaltverbrechen provoziert. Ähnlich befremdlich wirken kritische Ausführungen zu „Infomercials“, für die der konkurrierende Autor Frank Conroy nach einer ähnlich beauftragten Kreuzfahrt einen poetisch vermarkteten Essay verfasste. Vergeblich bemüht sich der Leser zu verstehen, wo die Unterschiede in der Verwerflichkeit zwischen den Auftragsarbeiten von Conroy und Wallace zu suchen sind.

Zusammenfassend trägt die leichte Lektüre über den kultivierten Tagesablauf auf hoher See dennoch zur Erheiterung bei, vielleicht noch mehr, wenn der Leser dabei kreuzfährt. Note: 3 (ur)<<

Der letzte Harem- Peter Prange

harem Droemer 2007,   573 Seiten.      

>> Ein Taifun der Bedeutungslosigkeit wird diesen Roman begleiten. Anders als den männlichen Romanfiguren, denen in steter oder stehender Regelmäßigkeit nur das Eine anschwoll, schwoll mir mit zunehmend seichter Lektüre der Kamm. Nein danke, auch geschenkt keine Fahrkarte zum Gare du Nord um sich am orientalischen Ringelpiez zu langweilen. Die Überschrift  „Dichtung und Wahrheit“  auf S. 563 eine Verhöhnung der Kategorie  „Dichtung“. Lektor – bitte melden Tel.: 0711- 82319 . Note: 6 (ai)<<

>>Auf seiner website www.peter-prange.de erklärt der Autor erfreulich offen, dass „er lieber gute Bücher übersetzt, als selbst schlechte zu schreiben“. Warum sich Peter Prange bei „Der letzte Harem“ nicht an diese Maxime gehalten hat, bleibt ein Rätsel.
keine Note (ün)<<

>>Prange wählt den letzten osmanischen Harem als symbolträchtigen Ausgangspunkt für die Schicksalsstränge zweier unterschiedlicher Frauencharaktere an eben jenem historischen Wendepunkt, an dem das feudale Sultanat Konstantinopels zur neuzeitlichen Türkei aufbricht. Opfer dieses Umbruchs sind nicht nur Mächtige, Machtstrukturen und privilegierte Einrichtungen wie der traditionsreiche Harem als religiös begründetes Herrscherbordell. Opfer sind auch Tausende von Haremssklavinnen, die schlagartig aus einem Zustand völliger Abhängigkeit in eine sie grenzenlos überfordernde Gegenwartsnormalität katapultiert werden. Prange nutzt diesen Moment gesellschaftlicher Verwerfungen um mit den zentralen Frauengestalten Elisa und Fatima antagonistische Lebensmotive einander gegenüberzustellen: einerseits der Versuch der Anpassung an verbleibende Privilegien und anderseits ein Opfer fordernder Weg der Selbstbestimmung. Der literarisch-konzeptionelle Ansatz ist bemerkenswert. Um es jedoch vorwegzunehmen: die Ausgestaltung des Plots erreicht kaum das Niveau eines romantisierenden Heimatmelodrams, in dem auf keine noch so nahe liegende Affekthascherei verzichtet wird.
Die 9-jährige muslimische Fatima und die armenisch-christliche Elisa werden nach dem gegenseitigen Gemetzel ihrer Familien von einem Mädchenhändler als Waise in den Harem des Sultan überführt, wo sie während der nächsten 9 Jahre zu geschulten, unterwürfigen Mitgliedern des 5.000 Seelen umfassenden, hierarchisch streng organisierten Harems ausgebildet werden. Der edlen, mandeläugigen Fatima gelingt es die Begierde des Sultans auf sich zu lenken. Die weniger attraktive Elisa dagegen erlangt die Dankbarkeit des Sultans, nachdem sie ihn vor einem Attentat bewahrte. Selbst ihre auf Freiheit bedachte Weigerung, das Bett mit ihm zu teilen, sieht er ihr nach und macht sie stattdessen zu seiner täglichen Vorleserin.

Der Harem rekrutiert sich ausschließlich aus freiheitsberaubten Menschen, denn sowohl die Frauen wie auch die Eunuchen sind zwangsrekrutiert. In einer der wenigen tiefgründigen Passagen des Buches wird nachvollzogen, wie die meist schwarzen Eunuchen unter der geschlechtlichen Totalverstümmelung leiden, die sie nicht nur in eine Geschlechts- sondern auch in eine dauerhafte Identitätslosigkeit stürzt. An dieser Stelle entwickelt Prange die männlichen Begleiter von Fatima und Elisa, wobei kultivierte Gründlichkeit als deutscher Direktimport (Möbius) auf vorderasiatische Barbarei (General Taifun) trifft. Der Arzt Möbius wird an den Harem berufen, um die sich ausbreitende Tuberkulose zu bekämpfen. Während seiner Impfkampagnen wird er von Elisa auf die todkranke Fatima aufmerksam gemacht. Sie ist inzwischen vom Sultan schwanger und wird im Intrigen durchseuchten Harem von ihrer Konkurrentin Saliha, deren Sohn zur Sultan-Nachfolge auserkoren ist und dieses Privileg jetzt zu verlieren droht, schleichend vergiftet. Elisa kann den Sultan nicht überzeugen einzugreifen, da er an die Schicksalhaftigkeit der Ereignisse und das Privileg des Stärkeren glaubt, auch wenn dabei seine Favoritin Fatima zu Tode kommt. Dies ist für den geneigten Leser zwar schwer nachvollziehbar, wo doch sonst kaum etwas dem Schicksal überlassen wird, doch kann der literarische Dampftopf durch weitere Ungereimtheiten weiter angeheizt werden. Möbius gelingt es selbstverständlich via mitternächtlicher Gewölbelabyrinth-Odyssee Fatima ein Gegengift zu verabreichen, worauf sie später einen gesunden Sohn gebärt. Nachdem der Eingriff ruchbar wird, lässt der Sultan Fatima, Elisa und Möbius einkerkern. Die Schicksalsnähe macht es dem Autor leicht, an dieser Stelle auch ein gemeinsames Herzflimmern von Elisa und Möbius vorzubereiten. Inzwischen überschlagen sich die innenpolitischen Ereignisse des Jahres 1909. Der Sultan wird entmachtet, der Harem aufgelöst und seine Zwangsrekruten befreit.

Während die meisten Haremsdamen von Verwandten aufgenommen werden, bleibt Elisa im alten Sultanspalast zurück. Fatima dagegen wird von General Taifun aufgegriffen, muss jedoch ihren Sohn bei Elisa zurücklassen. Dieser wird – wie wir es erwarten dürfen – in dem Moment von Taifun entführt und heimlich an den Sultan ins Exil ausgeliefert als Elisa sich Möbius zum ersten Mal mit ganzem Leib hingibt. Fatima wird vorgetäuscht, dass Elisa die Verantwortung für den Verlust des geliebten Sohns trage, was planmäßig die Beziehung zwischen Fatima und Elisa nachhaltig ruiniert. Während dessen verfällt Taifun in eine tyrannische Liebe Fatima gegenüber. Zwischen körperlicher Gewalt und aufrichtiger Zuneigung bleibt Fatima von Taifun angezogen, heiratet ihn und rückt in den Machtbereich der neuen türkischen Elite auf. Dem äußeren Aufstieg folgt der innere Absturz begleitet von Tabletten- und Alkoholsucht, da Fatima am Verlust ihres Sohnes zerbricht. Zur gleichen Zeit irrt Elisa völlig verarmt und von wiederholten sexuellen Übergriffen bedroht, durch das Hinterland bis sie sich einer Gauklergruppe anschließen kann, in der sie ihren zukünftigen Lebensabschnittsgefährten Aram kennenlernt. Erwartungsgemäß fehlt der Beziehung die entscheidende Tiefe um dramaturgisch noch eine Herzkammer für Möbius freihalten zu können.

Der zwischenzeitlich ausgewiesene Möbius wird in die Türkei zurück berufen, die im ausgebrochenen ersten Weltkrieg zu einem ruinösen Politspiel an der Seite Deutschlands angetreten ist. Für die historisch belastete Armenierfrage wird innenpolitisch ein Genozidprogramm entworfen, bei dem Möbius vom Schriftsteller auf die spannungsträchtige Absturzkante gestellt wird: entweder er kollaboriert als impfender Dr. Mengele Armenier vor dem Abtransport im Viehwaggon oder er schlägt sich auf die Seite der Unterdrückten. Konzeptgemäß muss er sich jedoch als Vertreter der Aufrichtigkeit zunächst durch Leichenberge quälen, die sich in armenischen Gebirgsbächen und Wüsten auftürmen, bis er am tiefsten Punkt der Grauenhaftigkeit Elisa findet, die gerade vergewaltigt werden soll jedoch nicht wird, weil Aram als Freiheitskämpfer aus dem Nichts kommend pünktlich den Täter erschlägt. Auch jetzt bleibt Möbius unbefleckt. Die Männer einigen sich schweigend und im Sinne des Schriftstellers, indem Aram wortlos das Feld räumt um einer lange verzögerten Liebe Platz zu machen. Dass Taifun der Oberschlächter in diesem schaurigen Geschäft ist, überrascht uns nicht. Auch nicht, dass Fatima langsam von den blutigen Händen ihres Gatten angewidert wird. Damit wird uns als Leser klar, dass mit Fatimas Entfremdung von Taifun zum einen seine Bestrafung und zum anderen ihre Annäherung an Elisa bevorsteht. Ein gutes Melotrauma braucht gerade für solche Wendepunkte ein gefühlsbetontes Medium, sonst wäre wertvolles Erzählterrain verschenkt. In diesem Falle drängt sich natürlich das Doppelpack „Verlorener Sohn plus Nebenbuhlerin“ auf – und schwups – stehen Mesut und Saliha schon auf der Erzählbühne.

Taifun versucht ein letztes Mal das Herz seiner Angebeteten zu erweichen, indem er ihren Sohn Mesut von Saliha zurückholt, die nach dem Tode des Sultans dessen Sohn großzog. Er wird von den Frauen mit der jetzt endlich aufblühenden Intuition durchschaut, und im gleichen Moment für die Gräueltaten in Armenien vom Arm des Gesetzes verfolgt. Weil hier noch ein wenig Platz für Autorenfantasie war, ermöglicht Prange dem Tyrann Taifun während des Gerichtstermins angeschossen in einem U-Boot zu entkommen. Erschossen wird Taifun erst nach seiner Emigration zum Bündnispartner in Berlin. Von wem? – natürlich vom ausdauernden Freiheitskämpfer Aram. Ein einsamer Mann, aber nachhaltig gerecht, wenn auch nicht rechtens. Dass ausgerechnet Möbius zu guter letzt noch die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen mit einer Geldübergabe zurechtrücken soll, verblüfft dann doch. Glücklicherweise wird ihm rechtzeitig der Millionenkoffer entwendet, so dass das Schicksal ihm auch diese Schuld erspart.

Zum vorläufigen Ende nochmals ein Tränensack aufblähender Emotionshöhepunkt. Mesut erkennt seine leibliche Mutter nicht und fühlt sich zutiefst bedroht. Zwischen leiblicher (Fatima) und Ziehmutter (Saliha) innerlich zerrissen, zieht Mesut sich in einen autistischen Kokon zurück, aus dem heraus er nur noch Vogelstimmen imitiert, aber nicht mehr spricht. Die Loslösung von der ins Herz geschlossenen Ziehmutter gelingt erst mit einem symbolischen Totschlag, als Saliha Mesut versehentlich eine Treppe hinunter stößt. Dass just in diesem Moment Elisa als finale Mediatorin auftritt, ist selbstverständlich. Die Inszenierung der Szene lässt keine Wünsche offen: Elisa erzählt das Märchen von der Prinzessin Fatima und ihrem verlorenen Sohn, drückt dem Buben ein Saiteninstrument in die Hand, worauf dieser die Geschichte auch ohne musikalische Vorkenntnisse sofort vertont und zur Sprache sowie seiner eigentlichen Mutter zurückfindet. Gute Musik öffnet eben Herzen und neuronale Sprachzentren.
Dann der Schlussschmalz. Möbius musste in den Kriegswirren Istanbul verlassen, sitzt jetzt als Institutsdirektor verheiratet am Berliner Küchentisch und liest Zeitung. Ein Bericht über eine gerühmte Musikantengruppe lässt ihn aufhorchen: zwei waschechte Haremsdamen und ihr Sohn tingeln durch Europas Hauptstädte und singen Haremslieder unter dem tosenden Beifall einer kriegsgeschädigten Generation. Sollte er hinfahren und Elisa, Saliha und Mesut  wieder sehen? Zwei Tage hätte er Zeit…

Schade – ein Werk, das offensichtlich als oberflächliches Filmbuch verfasst wurde ohne den Protagonisten Charaktertiefe zu geben. Statt dessen setzt der Autor auf die Maximierung gefühlslastiger Effektfeuerwerke. Anerkennend bleibt zu loben, dass Prange wieder in bekannter Gründlichkeit eine Vielzahl historischer Details in den Plot einarbeitete. Das Buch bleibt sprachlich unauffällig hat aber einen gewichtigen Kern, aus dem man in jeder Hinsicht viel hätte machen können. Vielleicht beim nächsten Mal wieder.
Note: 4 (ur)<<

>> „Zwei Frauen zwischen Orient und Okzident“  liest man auf der Rückseite des Buches.
Fatima und Eliza heißen die beiden Protagonistinnen, deren aufregendes Leben detailreich geschildert wird.Der Roman beginnt 1895 in der hinteren Türkei und endet 1923 in Berlin. Er ist in relativ kurze Kapitel aufgeteilt, die wie bei einem Fortsetzungsroman oft offen enden. So wird Spannung produziert, was die Lektüre erleichtert. Das Buch regt an, sich genauer mit der jüngeren Geschichte der Türkei zu beschäftigen. Es macht aber auch deutlich, wie schwierig es ist, erotische Szenen so zu schildern, dass sie erotisierend wirken. So scheint mir beispielsweise die  Feigenmetaphorik nicht sehr gelungen.
Eine Verfilmung des Romans wäre vermutlich reizvoll. Note: 4 (ax)<<

Gomorrha- Roberto Saviano

Roberto Saviano - GomorrhaHanser 2007 ,  368 Seiten.      

>> Roberto Saviano legt die Architektur der Gewalt der Camorra offen, entreißt die Täte ihrer Anonymität. Pasolinis „Ich weiß. Ich weiß die Namen“ fügt er sein „und ich habe Beweise“ hinzu.  Besonders eindringlich gelungen ist das Kapitel „Zement“ . Kampanien, das Territorium der Camorra, bekommt eine andere Topographie, eine Topographie der unvorstellbaren Grausamkeit und der Herrschaft der Berretas und Kalaschnikows, die einen erschaudern lässt. Ob Bauindustrie, Textilhandel, Müllgeschäft oder Drogen: die Camorra hat alles fest im Griff. Es fällt manchmal schwer, weiter zu lesen in diesem Buch. Zu brutal sind die Details der lapidar geschilderten mörderischen Akte und Rachakte der Clans. Trotzdem ein mutiges und notwendiges Buch mit literarischen Qualitäten. Ob dem literarischen Erfolg politische Konsequenzen folgen, bleibt abzuwarten.
Note: 2+ (ün)<<

>>Als Sohn des Umlandes von Neapel spricht in Roberto Saviano der Journalist, den mit seiner Heimat Heimatlosigkeit verbindet. Eine Heimat, die schon seit zwei Jahrhunderten ein Gomorrha mit besonders brutaler Niederträchtigkeit von geradezu biblischen Ausmaßen ist. Zutiefst erschüttert und gleichzeitig doch tiefgründig, teils mit sachlicher Geradlinigkeit und oder auch mit poetisch gefassten Emotionen beleuchtet Saviano diesen süditalienischen Zweig des organisierten Verbrechens. Die Camorra –  blutrünstiger als die Mafia und geschäftstüchtiger als die Costa Nostra. Eindrücklich beschreibt er die unglaubliche Evolution, die immer wieder neue Varianten krimineller Mutanten hervorbringt. Wie Mutationen des Systems neue Gesetzmäßigkeiten der Berufskriminalität generieren, wie Familienclans um Ressourcen ringen, um kriminelle Fortpflanzung ringen und durch Vernichtung konkurrierender Spezies die Vorherrschaft anstreben. Ein Darwinismus der Unmenschlichkeit.

Mit ausgewählten Detailansichten führt Saviano durch das Reich der Camorra. Neapel als das größte Tor Europas für illegale Importe aus China. Im Umland höchst produktive chinesische Kleinbetriebe, die unter selbstmörderischen Bedingungen international führende Modehäuser beliefern. Die Wirtschaftphilosophie beim Wechsel vom Heroinhandel mit gesellschaftlichen Außenseitern hin zur Livestyle-Droge Kokain etablierter Gesellschaftsschichten. Öffentliche Testzeremonien mit Todesfolge zur Profilierung neuer Designerdrogen. Jugendliche als die neue Generation besonders enthemmter Gewalttäter. Die überraschende Moral und Bürgernähe der Camorra in Sonderfällen. Der 3600 Tote fordernde Bandenkrieg und die für Schlagzeilen dankbare Presselandschaft. Für Jugendliche psychologisches Training zur Furchtlosigkeit mittels Schussübungen auf deren kugelsichere Westen. Die zwanzig brutalsten Formen des Mordens und deren rituelle Botschaften: die Symbolkraft von mit der Flex abgetrennten Köpfen und in Brunnenschächten gesprengten Leichen. Frauen der Camorra, die anders als ihre Männer nie als Kronzeugen auftreten. Die Wunder der Kalaschnikow und dass sie mehr Menschleben forderte als alle Atombomben zusammen. Gewalt als vermeintlich altruistische Aufopferung des Täters – quasi eine zutiefst christliche Geste. Zement, die Bauwirtschaft, Abfall und Entsorgung als ureigenste Stützen des italienischen Verbrechens. Pervertiertes Wertesystem und Ehrverletzung als grundlegende Kraft krimineller Entartung.

Der Leser lernt viel und hat doch schon so viel gewusst, was er gerne verdrängen würde. Und dann die schleichende Einsicht, dass dies ein Teil des modernen Italien ist, ein Land mitten im zivilisierten Europa. Ein Mittelalter mitten in der Jetztzeit. Und vermutlich gieren Köpfe der Hydra schon lange auch in unserer Nachbarschaft. Nach der Lektüre wäre alles andere verwunderlich. Ein ziemlich gutes Buch über ein hässliches Thema.
Note: 2 – (ur)<<

>>Wenn Udo Lindenberg  den Mafioso Jonny Controlleti besingt, der einen Streifenanzug trägt und „Alles unter Kontrolle“ hat, möchte man gerne mitsingen. Das vergeht einem aber schnell, wenn man mit Roberto Saviano die „Reise in das Reich der Comorra“ (Untertitel seines Buches) antritt, einem Reich, wo besagte kriminelle Vereinigung alles unter Kontrolle hat. Oder fast alles, viel zu viel auf  jeden Fall. Neapel ist der Hafen dieses Reiches, die berühmte Bucht, eine Kloake. Schon auf den ersten Seiten fallen Leichen  aus Containern. Nach einem so starken Einstieg erregt es dann schon fast nicht mehr, dass 60% der Einfuhren an der Zollkontrolle vorbeigehen. Viele Namen, viele Morde, viel Böses. Wird das Böse omnipräsent und repetitiv, wirkt es ermüdend. Wie das Gute ja auch. Manches wird erzählt, was eher degoutant ist. Das langsame Verrecken von Mordopfern oder postmortale Erektionen.

Überflüssiges hat sich eingeschlichen. Wozu ausführlich die Vor- und Nachteile einer Kalaschnikow erörtern? Die meisten mitteleuropäischen Leser/innen werden sich nie eine anschaffen können/wollen. Nach und nach versteht man, warum die desolaten sozialen Rahmenbedingungen die  Jobs bei der Camorra attraktiv machen. Man kann auch den Polizisten verstehen, der sich fragt: “Was geht uns das an? Lassen wir sie doch einfach, die sollen sich doch gegenseitig fertig machen.“ Die Sprache Savianos ist gut verständlich, die Übersetzung gelungen, die Metaphern gelegentlich etwas kühn. So werden etwa die Hafenbecken mit den Zitzen eines Muttertieres, der Hafen selbst mit einem Anus verglichen.
Nach zweihundert Seiten ein erstes Stoßgebet: „Herr, lass die Plage an diesem unserem Lande vorübergehen.“   Wenn man in das Buch „Mafialand Deutschland“ von Jürgen Roth schaut, muss man leider befürchten, dass die Bitte vergeblich war. Roberto Saviano muss wegen dieses Buches um sein Leben fürchten. Die Verbrecher der Camorra zwingen ihn sich zu verstecken. Ein Skandal. Ich bewundere den jungen Mann für seinen Mut, er hat meine vollste Hochachtung. Am 21. März 2009 demonstrierten rund 150 000 Menschen in Neapel gegen die Cosa Nostra, die `Ndrangheta, die Camorra. Zum ersten Mal seit dem Erscheinen seines Buches vor drei Jahren trat Saviano öffentlich in Neapel auf und verlas die Namen von Mafia-Opfern. Trotz dieser beeindruckenden Demonstration meint Saviano, dass die Mehrheit der Italiener die Augen vor der ungebrochenen Macht der Mafia verschließe (taz vom 23. März 2009). Ob das bei uns in Deutschland so viel anders wäre? Note: 2 – (ax)<<

>> Kein Buch fürs Feuilleton, kein Buch für Literaturkritik. Was sich im südlichen Vorhof der vatikanischen Moral- und Tugendwächter, eingebettet in die malerischen Tourismusoasen am Golfo di Napoli und an der Costiera Amalfitana e Sorrentina abspielt, das ist ein alltäglicher unerklärter Krieg zwischen atavistischen Familienclans, die mit der zunehmenden Akzeptanz von „Kollateralschäden“ an der Zivilbevölkerung anderen Formen entstaatlichter Gewalt in afrikanischen und asiatischen „failed states“ in Nichts nachstehen. Ob in der Gestalt der Cosa Nostra, der sizilianischen Mafia, der Ndrangeta, der Camorra – das Spinnenetz des organisierten Verbrechens ist in (Teilen?) Europas allgegenwärtig. „Ich weiß. Ich weiß die Namen…“, schrieb Pier Paolo Pasolini in einem berühmt gewordenen Artikel des Mailänder Corriere della Sera im November 1974. Neunmal leitete der Schriftsteller, Regisseur und Intellektuelle darin seine Sätze mit der Formel „Ich weiß…“ ein. Sie war eine Anspielung auf Zusammenhänge zwischen Politik und Verbrechen, auf drohende Putschversuche und Attentate in Italien. Namen nannte der umstrittene Schriftsteller nicht: „Mir fehlen die Beweise.“ Ein Jahr später war Pasolini tot. Brutal zugerichtet wurde der 53-Jährige im November 1975 unweit der Küste im römischen Vorort Ostia aufgefunden. Savianos lebensgefährliche Recherche schließt Pasolinis Lücke: “Ich weiß, und ich habe Beweise. Ich kenne das Fundament, auf dem die Wirtschaft ruht. Den Geruch von Sieg und Erfolg. Ich weiß, woher das Geld kommt. Ich weiß“.
Saviano weiß es nicht nur von Don Peppino Diana. Ich weiß es jetzt auch. Mein Geruch von Zement und Haut Couture hat sich sensibilisiert, doch  das bleibt folgenlos. Ein Hauch von Hoffnung dagegen die Straße und nicht das Lesezimmer: Die in Anwesenheit Savianos am 21. März veranstaltete Anti-Mafia-Demonstration in Neapel.
Keine Note (ich ziehe daher meine Note zurück). Ich bin glücklich, dass unser LQ ohne “Capi dei capi“ (Bosse der Bosse) auskommt.<<

Die Verwandlung- Franz Kafka

Die Verwandlung Kurt Wolff Verlag  Leipzig 1916, 91 Seiten.

>> Durch einen der ungeheuerlichsten ersten Sätze der Weltliteratur konfrontiert uns Kafka mit der Verwandlung des Handlungsreisenden Gregor Samsa zu einem Ungeziefer. Was auf 90 Seiten folgt, ist tausendfach schon nach allen Regeln der Kunst interpretiert worden. Extreme, ja groteske Verweigerung der entfremdeten Arbeit, das revoltierende Unterbewusste, die Verkörperung des Nutzlosen durch die Käfergestalt, Kritik an der väterlichen Autorität, Entlarvung latent bedrückender, von Lieblosigkeit und Ausbeutung geprägter Familienverhältnisse. In der Krise werden die Bindungen der Familie zu dem als Ungeziefer zwar abstoßenden, aber letztlich doch harmlosen Mitglied nach und nach gekappt, bis „das Untier“ glücklicherweise in einem Akt der Selbstaufopferung seinen letzten Atemzug macht und dann rasch entsorgt wird. Das Zimmer, in dem die Familie Gregor hält, wird zum Sinnbild seines inneren Zustands, seiner Seele. Notdürftig und angewidert mit Nahrung versorgt, Kommunikation nur über einen kleinen Türspalt und nur in einer Richtung. Gregor wird nicht mehr verstanden. Selbst die Schwester, die aus nicht ganz uneigennützigen Gründen als einzige zu ihm in sein Zimmer geht, vernachlässigt die Reinigung des Zimmers immer mehr und lässt schließlich entschlossen die ganzen Möbel aus dem Zimmer räumen, was einem Ausräumen seiner Identität, seiner Entmenschlichung gleichkommt. Die Schwester, die sich mit der Hoheitsgewalt über Gregors Zimmer von den Eltern emanzipiert, gibt schließlich auch das Signal zur Endlösung der Ungezieferfrage. „Wir müssen versuchen, es loszuwerden“. Das „Zeug“ wird entfernt. Die Assoziation zum Genozid der Nationalsozialisten, die  20 Jahre später auch Menschen wie Ungeziefer beseitigt haben  ist vielleicht etwas gewagt, aber keineswegs abwegig. Kafkas nüchterne, quälend sachliche Sprache kontrastiert mit dem grotesken, albtraumhaften Inhalt, der den Leser soghaft in die Abgründe der menschlichen Psyche und auch der gesellschaftlichen Verhältnisse blicken lässt. “ Wie aber, wenn jetzt alle Ruhe, aller Wohlstand, alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken nehmen sollte?“ sinniert Gregor Samsa einmal. Wie passend zu den Erschütterungen der so genannten Finanzkrise! Note: 1– (ün)<<

>> Schon mit dem ersten Satz in den Sog der so sachlich beschriebenen Käferperspektive Gregor Samsas eingefangen. Dieser Keulenschlag der Animalisierung offenbart wohl den  radikalsten Protest des Unbewussten gegen entfremdete Arbeits- und Familienverhältnisse. Der Handelsreisende Gregor, der „Plage des Reisens“ müde, der Sohn , nach dem Konkurs des Vaters der Alleinversorger der Familie, setzt mit dem Augenblick seiner Entstellung einen Prozess in Gang, der auch seine Umgebung zu Kenntlichkeit entstellt. In der falschen Annahme, Gregor habe auch jede menschliche Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit verloren- da sie ihn nicht verstünden, verstünde auch er sie nicht – bleibt Gregor mit dem Bild der pelzbesetzten Dame in der Welt des Kriechens isoliert. Einzig die anfängliche Versorgung und Zuwendung durch die Schwester bildet noch eine Brücke zwischen Familien- und Ungezieferwelt. Während die Mutter dem Schicksal des Sohnes nur mit sprachloser Weinerlichkeit zu begegnen vermag, kennt der Vater nur das Mittel der Aggression . Mit fortschreitender Dauer löst jedoch Gregors Verwandlung auch bei Vater und Tochter eine auf den ersten Blick gewiss weniger spektakuläre Verwandlung aus. Jetzt, da Gregor als Familienversorger ausfällt, erwacht der Vater plötzlich aus vermeintlicher Hinfälligkeit und Lethargie und der Leser gewinnt den Eindruck, dass sich die gesamte Familie am Versorgungsinstitut des Sohns schadlos gehalten hat. Dass die wundersame Wiederherstellung der familiären und beruflichen Autorität des Vaters sich äußerlich in einer auch im Schlafe nicht abgelegten „Dieneruniform“ manifestiert, zeigt die Brüchigkeit dieser Vaterautorität. Die wohl deutlichste Veränderung vollzieht sich in Gregors Schwester. Nachdem ein kleines Violinintermezzo im Kreise der Familie mit drei reichlich skurrile Zimmerherren, das Gregor aus seinem Versteck ganz in die Nähe der Schwester lockt, im Desaster endet, steht der Entschluss der Schwester fest. Erst ihr: „wir müssen versuchen, es loszuwerden“ führt zur Selbstaufgabe Gregors.

Was folgt, ist eine letzte, wahrlich märchenhafte, Verwandlung der Restfamilie. Gregor Samsas Tod löst einen Akt grotesk pulsierender Befreiung aus: statt Arbeiten – Ausruhen und Spazierengehen, Entlassung der Bedienerin nach der Entsorgung des Zeug(s)“, es folgt die emotionale Befreiung: Herr Samsa wird durch „seine Frauen…liebkost.“ Zugleich öffnen sich die  Räume, es geht hinaus „mit der Elektrischen ins Freie“, man bespricht „Aussichten für die Zukunft“ und nur der Leser, der sich angesichts der Schlusssätze des Keulenschlags des 1. Satzes erinnert, sieht in den erotisch aufgeladenen „neuen Träumen und guten Absichten“ der Eltern Samsa im Hinblick auf die Tochter hinter dem vordergründigen Gebrüder-Grimm-Schluss den neuen Abgrund.
Man sollte diese Erzählung auf dem Rücken liegend lesen und nur aufpassen, dass sich kein Besen zeigt: Note: 1– (ai)<<

>>Als 29-jähriger schreibt Kafka Die Verwandlung in einer Lebensphase, die bereits von Gemütsschatten verdunkelt ist. Vom Berufsbeamtentum trotz beflissentlichem Fleißes in der Versicherungsanstalt angewidert, vom Vater als Über-Ich nie befreit und schließlich von der aufgedrängten Teilhaberschaft an der ruinösen Asbestfabrik seines Schwagers an den Rand des Suizids getrieben, verfasst Kafka die Parabel. Die Verwandlung erscheint als hoffnungslose Fluchtbeschreibung aus der unerträglichen Bedrückung des menschlichen Pflichtalltags. Es ist die schicksalhafte, unbeeinflusste Wandlung zum Tier, dass naturgemäß nicht am betrieblichen Dasein der Menschheit teilnimmt und damit befreit ist von erdrückenden Ansprüchen anderer. Es ist aber eben auch die Wandlung zum überdimensionierten (denkenden) Insekt, das in seiner hybriden animalisch-menschlichen Zwischenform keine Existenzgrundlage hat. Entsprechend trägt die Metamorphose von Anbeginn nekrotische Züge, die unvermeidbar in der Selbstauflösung endet.

Teil I – Die Verwandlung und ihre Offenbarung. Gregor Samsa findet sich eines Morgens beim Aufwachen in einen riesigen Käfer verwandelt. Verwirrt aber nicht verzweifelt über die Metamorphose zum Ungeziefer nimmt er zwar seine zappelnden sechs Beinchen wahr, sorgt sich aber vor allem, wie er seinen beruflichen Anforderungen als Vertreter ordnungsgemäß und pünktlich nachkommen kann, hat er doch verschlafen. Während die Eltern hinter der verschlossenen Tür zur Eile mahnen, kämpft Gregor mit der Unförmigkeit seines gewaltigen Chitinpanzers, der das Aufstehen aus der Rückenlage fast unmöglich macht. Erst als der Prokurist der Firma erscheint, um sich über Gregors Verspätung zu beschweren, gelingt Gregor das Aufstehen und schließlich das Öffnen der Zimmertür. Helles Entsetzen und die Flucht des Prokuristen sind die prompte Reaktion. Gregor empfindet Schuld und versucht seine Loyalität der Firma gegenüber auszudrücken, doch werden seine Laute nur als animalisches Piepsen wahrgenommen. Die im Insekt noch erhaltenen menschlichen Gedankengänge kann Gregor Samsa nicht mehr verständlich artikulieren. In befremdlicher Weise empfindet er die Furcht seiner Familie als beruhigende Anteilnahme, fühlt er sich dadurch doch „wieder einbezogen in den menschlichen Kreis“. So macht Gregor dem Vater auch keinen Vorwurf, als dieser ihn in sein Zimmer so zurücktreibt, dass er sich schwer verletzt.

Teil II – Der verwandelte Familienumgang. Die Familienmitglieder stellen sich mit unterschiedlichen Grundhaltungen auf das entmenschlichte Familienmitglied ein. Der Vater verhärtet in seiner abweisenden Haltung und scheut auch vor physischer Gewalt nicht zurück. So treffen den Käfer Äpfel als Wurfgeschosse, die im Panzer stecken bleiben und zu chronisch-schmerzhaften Entzündungen führen. Die Mutter lässt zwar eine Anteil nehmende Verbundenheit mit ihrem verwandelten Sohn erkennen, andererseits ist jedoch ihr Ungeziefer-Ekel so überwältigend, dass der Zwiespalt zwischen beiden Kräften wiederholt zur Ohnmacht und damit zur Untätigkeit führt. Schwester Grete bewahrt zunächst mit einer gewissen Unerschrockenheit eine emotionale Nähe. Sie ergründet die veränderten Essgewohnheiten des Käfers, um ihn die nächsten Wochen als Einzige zu versorgen. Gregor bleibt bemüht rücksichtsvoll und zieht sich unter das Kanapee zurück, sobald die Schwester eintritt, um ihr den belastenden Anblick zu ersparen. Bezeichnenderweise ist Gregor zu keiner Zeit über die eigene Käfertransformation verzweifelt. Anfänglich klingt Gregors Vorstellung an, dass er wieder arbeiten wird, nicht aber, dass er das Käferdasein in jedem Fall überwinden will. Gregor hinterfragt die Metamorphose nicht, ihr Ursprung wie auch ihre Überwindung werden nicht thematisiert. Konsequenterweise wird von Gregor seine Verwandlung auch nicht als Strafe empfunden, denn dazu bräuchte es eine Verfehlung als Ausgangspunkt. Obwohl Gregor zu keinem Zeitpunkt aufbegehrt, wird sein Sein von den anderen letztlich als feindlich empfunden.

Teil III –Ableben und Familienwandel. Im Laufe der Wochen schreitet die Entfremdung zwischen der Familie und dem Käfer Gregor voran. Auch in Gregor setzt sich die innerliche Metamorphose fort. Gregor verkäfert langsam, verliert seine Anteilnahme und Rücksichtnahmen auf die Besonderheiten der Familie. In dem Zimmer, welches Gregor nach wie vor bewohnt, greift die Verwahrlosung um sich. Als paradoxe Geste der desinteressierten Anteilnahme lässt die Familie allabendlich die Zimmertür einen Spalt geöffnet, so dass Gregor aus dem Dunkel am Familienleben teilhaben kann. Als seine Schwester vor Vermietern ein kleines Violinenkonzert gibt, wird in Gregor die Verbundenheit zu seiner Schwester wieder wach – war er es doch, der seiner Schwester das Konservatorium ermöglichen wollte. Angezogen durch die Musik drängt der Käfer zum Grauen der Anwesenden in das Zimmer. Die Folgen sind gravierend. Die Mieter kündigen, das letzte Band der Schwester zu ihrem Käferbruder zerreißt, und die Familie beschließt alle Rücksichtnahme aufzugeben. Für Gregor ist es das Todesurteil, das schon wenig später Gregor das Leben aushauchen lässt, ohne dass es einer Tat bedurft hätte. Das Wissen, nicht mehr gewollt zu sein, nimmt ihm die Lebenskraft fern jeder Traurigkeit. In der Folge erlebt die Familie eine Verwandlung zum Leben hin. Der Vater gibt die unterwürfige Ehrerbietung den Vermietern gegenüber auf; die einander letztlich fremden Vater, Mutter und Tochter rücken in ihrer Betroffenheit zusammen und vergießen gemeinsam Tränen; wie noch nie bleiben alle drei der Arbeit fern, um sich auf einem Spaziergang der Sonne zuzuwenden und vielleicht einen Mann für die Tochter zu finden.

Es ist ein nahe liegender und zugleich befremdlicher Schluss, der Gregor Samsa zum wiederholten Male zum Opfergeber werden lässt. Am Ende scheint er freiwillig aus seinem und damit aus dem Leben der Familie zu treten. Schon zu Lebzeiten hatte er sich aufgeopfert um für die gesamte Familie den Unterhalt in einer aufzehrenden Anstellung zu verdienen, während vor allem der Vater vorgab, arbeitsunfähig zu sein. Erst als Gregors Käferdasein das weitere Auskommen der Familie gefährdet, zeigt sich, dass in der Tat alle drei einer geregelten Arbeit nachgehen können. Dennoch bleibt Gregor ohne jeden Zorn – ja, es beruhigt ihn geradezu, dass die Familie einen Ausweg gefunden hat.

Was also ist Gregor? Vielleicht jener Gemütszustand, wenn man auf dem Rücken liegend wie ein Käfer dem unwirtlichen Leben hilflos ausgeliefert scheint. Gerade das mag den Abscheu der Zuschauenden erregen, so dass die letzte Hoffnung schwindet und der Mensch nichts sehnlicher wünscht als im Nichts zu vergehen. Note: 2 – (ur)<<

 

>>Lieber Gregor,

Dich hat es hart erwischt.
Auf dem Rücken liegst Du, zappelnd.
Schwer erwischt. Das kann nicht nur vom Träumen kommen.
Was kann und vor allem was soll ich Dir sagen?
Du spürst ja selbst, lange wird es nicht mehr gehen.
Vielleicht hättest Du früher mal auf den Tisch schlagen sollen, eins, zwei, drei.
Jetzt ist es zu spät.
Dein Alter ist und war ein Kotzbrocken, aber von Deiner Schwester hätte ich mehr erwartet.
Mit meiner Schwester habe ich echt mehr Glück. Die hat mich immer umgedreht und überhaupt.
Zu Deiner Mutter sage ich gar nix. Da habe ich eher Mitleid.
Du spürst ja selbst, lange wird es nicht mehr gehen und wahrscheinlich ist es auch besser so.
Malgré tout, so gut kenne ich Dich inzwischen, Du wirst es in Würde hinter Dich bringen.

Dazu  meine guten Wünsche
Deine

Max und Milian
Note: 2 (ax)<<

Goya- Lion Feuchtwanger

GoyaAufbau Taschenbuch 2008, 653 Seiten.

>> Leon Feuchtwanger schreibt zwei glänzende Romane in einem: einen historischen Roman und einen psychologischen Künstlerroman. Die Welt der spanischen Granden, Infanten und Intriganten im ausgehenden 18. Jahrhundert ist auch für Goya die notwendige Bühne, auf der in jeder Beziehung die Musik spielt. Dass sich mit dem Erscheinen Dona Cayetanas, der Herzogin von Alba, zur der Leidenschaft des Malens eine fast noch verzehrendere Leidenschaft des „cortejo“ hinzugesellt, macht für den späteren 1. Hofmaler den Lebensweg zuweilen zum Hexentanz. Zunächst noch in der Schule rein repräsentativer Porträtmalerei verhaftet, legt er bald die Gesichter hinter den Masken frei. Das erscheint um so notwendiger, als am Hofe Königin Dona Maria Luisas und ihres Favoriten Don Manuel die Horizonte des Politischen untrennbar mit den Dimensionen der Horizontalen verbunden sind. Ein Mächtespiel der großen und kleinen Fallensteller, Lust- und Herrschaftsdiplomatie, strategische Heiratspolitik („Wer aus Liebe heiratet, krepiert aus Wut“, span. Sprichwort S. 392)), Heuchelmoral und Inquisitionsbarbarei (von Carrenzas über Olavide bis Jovellanos) in der Umbruchsphase von Absolutismus und Aufklärung – Facetten eines Geschichtsbuch, das an Anschaulichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Ob und wie sich Goyas Kunst in dieser Welt zu einer von seinen liberalen Freunden geforderten „Idioma universal“ entwickeln konnte, das erscheint eine der zentralen Fragen des Romans. Die Gängelungen auf formaler Ebene, Goyas Kampf um die Ablösung der Fessel Linie durch „Farbe und Luft“, aber vor allem die inquisitorische Zensur bestimmte das Sujet des Künstlers. Mochte „Die Familie Carlos IV“ (Don Fernandos ‚Stellungskrieg’, ‚Hand und Kopfgeld’ Bezahlung – inhaltlich und sprachlich zwei großartige Possen!) die  auch die Stellung zum 1. Hofmaler begründen, die für Goya entscheidenden Bilder waren jene den öffentlichen Blicken verborgene „nackte Cayetana“ und die von ihr zerschnittene „Himmelfahrt der Lüste“, die die obsessionshafte Beziehung zur Herzogin von Alba ins Bild setzte.  Kein Zufall, dass sich Goya in dieser von zunehmender Taubheit und Dämonenträumen verfolgten Phase vorübergehend an den Ort seiner Kindheit zurücksehnt. Nach Madrid zurückgekehrt , spitzt sich der Machtkampf zwischen inquisitorischer Restauration und den Repräsentanten liberaler Aufklärung um Miguel, Javellanos, Peral, Quintana zu. Auch wenn sich Goya nicht zum Märtyrertum bekannte, mit seinen „Caprichos“ sahen sich die spanischen Granden, Infanten und Intriganten im Spiegel und triumphierend dokumentiert der Feuchtwangersche Erzählers Goyas „Schrei“ unter das letzte Blatt der Radierungen: „Ya es hora – Sie ist da, die Stunde, abgelaufen ist die Zeit“. Dass der spanische Hof um Königin Dona Maria Luisa wider Willen zum Vermittler dieser Botschaft wird, ist ein letzter literarischer Schachzug Feuchtwangers- zu genial, um wahr zu sein. Wer das Glück hat Lion Feuchtwangers „Goya“ im sonnenbeschienen Retiro, angelehnt an eine dorische Säule, mit drei Freunden zu besprechen, wer dann am Tage danach gleichsam mit Goya durch die Ermita de San Antonio de la Florida schreitet um die weltlichen Engel zu bestaunen und wer dann noch im Prado, wenn auch nur die bekleidete (weil die nackte kurzfristig ins Grand Palais nach Paris entführt) Maja Cayetana vor Augen hat, der ist sich seiner Wertung für diesen Roman sicher: 1 (muy bien) (ai) <<

>> Mit der Person des spanischen Malers Goya während der Zeit Napoleons erhebt Feuchtwanger ein bis in die Jetztzeit gefeiertes künstlerisches Idol zum Romanhelden, der sich durch seelische Tiefen zur moralischen Erkenntnis quält. Ausgehend von den wenigen verfügbaren, authentischen Belegen entwickelt Feuchtwanger einen Historienroman, welcher letztlich die gestaltende Kunst zu einer Lingua universale steigert – eine Verständigungsform gegen den bornierten, ausbeuterischen Zeitgeist.

Feuchtwanger skizziert in überzeugenden Farben die Lebensgeschichte eines ambitionierten Talentes, das aus einfachen Verhältnissen stammend sich zunächst in die Gobelin Werkstätten Madrids malt. Rustikale Motive in schlichter, für die Teppichweberei geeigneter Ausführung bestimmen die Qualität. Durch die Heirat mit Josefa Bayeu, der Schwester des 1. Hofmalers, vollzieht Goya nicht nur die Annäherung an den Adel, sondern auch an die Kunst des großen Schwagers Franscisco Bayeu. Tatsächlich kann er nach dessen Tod seine Positionen in Akademie und Königshaus einnehmen. Bis dahin hatte Goya bereits einen eigenwilligen und zunächst umstrittenen Weg eingeschlagen. Künstlerisch löst sich die Romanfigur von den strengen Regeln der klassischen Malerei, gibt das Diktat der klaren Linie auf und lässt die Konturen seiner Figuren kaum merklich im Umfeld verlaufen. Bestimmend und betörend zugleich ist auch die Erfindung eines genialen Grautons. Die anfänglichen Geschmacksanfeindungen verkehren sich ins Gegenteil. Bald überschlagen sich die Aufträge der Aristokratie. Goya genießt die vollen Kassen und den demonstrativen Luxus einer Edelkarosse, derer es landesweit nur drei Exemplare gibt. Seiner fordernden Mätresse Pepa Tudo bringt sein Erfolg großzügige Geschenke. Das Leben läuft rund. Zuhause die liebevolle, unendlich geduldige Frau, die ihm ununterbrochen Kinder gebärt ohne dass er sich darum sorgen müsste. Hinten die tolerierte Hurerei und vorne die künstlerische Krönung, die seiner beruflichen Eitelkeit am oberen Ende der Karriereleiter huldigt.

Und dennoch bewahrt sich der Maler einen Grundzug, der von den einen als künstlerische Aufrichtigkeit – nämlich die Wahrheit malen, wie sie ist – interpretiert wird und von anderen als aufsässige Ich-Bezogenheit empfunden wird. Letzteres auch bekannt als Grundzug des dickköpfigen, prototypischen Urspaniers, des Mayo. Entsprechend geniert sich Goya nicht, die königliche Familie großformatig in aller Zweideutigkeit darzustellen, die weder Unvorteilhaftes noch Lächerliches in den Herrschergestalten ausspart. Auf der Welle des selbst inszenierten Zeitgeistes reitend bleibt Goya dennoch der Applaus erhalten.

Goya gibt sich als Mann monumentaler Libido so wie es für den klassischen Mayo und vor allem jener der Aristokratie der Brauch ist. Die Begegnung mit der strahlend schönen Herzogin Cayetana von Alba jedoch trifft ihn ins Mark und wird eine erst durch den Tod gelöste Obsession auslösen. Jedes Haar dieser Frau sei von betörend erotischer Ausstrahlung. Fortan wird er Notlügen gebrauchen, die Etikette verletzen, seine Familie noch mehr vernachlässigen und sogar König und Königin brüskieren, um der Intimität der Alba nahe zu sein. Ein verhängnisvolles Wechselspiel über viele Jahre stellt sich ein. Auch sie kann von ihm nicht lassen, ignoriert, lockt, liebt und instrumentalisiert ihn im weiblichen Ränkegeplänkel mit der wenig anmutigen, konkurrierenden Königin Maria Luisa.

Um den argen Weg der Erkenntnis Goya herauszuarbeiten, pointiert Feuchtwanger mit historischen Detailkenntnissen die quasi innerbetriebliche Beschaffenheit der aristokratischen Maschinerie mit all ihren Intrigen wie auch die Grotesken der europäischen Machtpolitik. Goya verschreibt sich zunächst der absurd anmutenden, aber realen Welt des Adels, um sein Streben nach Ruhm und Einfluss zu befriedigen. Lange schaut er schweigend zu wie König und Herzöge mit Papst, Portugal und Napoleon jonglieren, Heiraten erzwingen und Kritiker in die Verbannung schicken um Befriedigung für Eifersucht, Ehrverletzung und sexuelle Begierden zu erlangen. Goya spielt mit. Auch reagiert er nicht auf die verärgerten Anfeindungen seines treuesten Mitarbeiters Agustin, der ihn des moralischen Verrats bezichtigt.

Bezeichnenderweise wird Goyas Erkenntnisprozess zunächst nicht rational gelenkt, sondern entspringt einem gänzlich unpolitischen, ja unmoralischen Ursprung. Es sind die seelischen Wechselbäder Goyas mit Cayetana, der Suchtcharakter ihrer Beziehung mit allen Elementen intensivster Sinnesfreuden, suizidaler Verzweiflung und völliger Selbstaufgabe, die ihn in den Vorhof des Wahnsinns treiben. Als Vorbote dieser neuronalen Degeneration stellt sich eine völlige Taubheit ein. Goya beantwortet den schicksalsträchtigen Angriff auf seine Gesundheit mit Askese und sozialer Selbsterniedrigung. Er wirft den Purpurmantel der Prasser ab, verweigert sich den Kunstdelirien und begibt sich in die Einsiedelei. Zunächst ist es ein Akt der Verzweiflung, doch stellt sich mit der Zeit ein nach außen gerichteter kritischer Unmut ein, der sich vor allem an der bedrohlichen Zensur der in Spanien immer noch herrschenden Inquisition entzündet.

Goya beginnt wieder zu malen. Er wendet sich Radierungen zu. Darstellungen, die nur Schwarz kennen. Themen, die überwiegend politisch sind. Ausführungen, die mindestens bissige Karikaturen darstellen, häufig auch eindeutige Anfeindungen ausgewählten Persönlichkeiten gegenüber: klerikale Gestalten, die in selbstherrlicher Doppelmoral den Anstand verletzten, Herrschergestalten, die ihre Macht missbrauchen; Herrschaften des öffentlichen Lebens, die durch Gier, Geiz und Geilheit breitspurig Missbrauch betreiben.

Goyas blasphemische Zeichnungen erwecken schließlich den Zorn der Inquisition, dem er nur entkommt, weil mit der Hilfe von Freunden das Königspaar gedrängt werden kann, die schützende Hand über ihn zu halten. Goya findet durch diese zweite, sehr ernste persönliche Bedrohung zurück zur Familie. Doch wenig später sterben Frau und Kinder und im Laufe der Zeit auch die engsten Freunde. Er bleibt vereinsamt zurück. Die letzten Jahre vergräbt er sich schließlich auf dem Lande und beschränkt sein künstlerisches Schaffen auf nekrophile Wandmalereien im eigenen Hause. Zu diesem Zeitpunkt wird der arge Weg der Erkenntnis bereits vom Flugsand der Dämonen, die von ihm Besitz ergreifen, verschüttet. Auch wenn er selbst die Erkenntnis nicht mehr wirklich leben kann, so bleiben doch seine kritischen Karikaturen, die Caprichos, bis heute bestehen und artikulieren sich als Lingua universale.

Ein lesenswerter Roman, der dem geduldigen Leser nicht nur kunstgeschichtliche, sondern auch machtpolitische Visionen hinter die dunklen Kulissen europäischer Intrigennetze erlaubt, ohne dabei den Anspruch auf Authentizität zu erheben.
Note: 2 (ur)<<

>> Ein fesselnder Roman über  Francisco de Goya, Hofmaler des spanischen Königs Carlos IV. Am Anfang macht es durchaus Mühe das personale Inventar mit ähnlich klingenden Namen wie Dona Luisa und Dona Lucia und die vielen andern Figuren und deren Funktion am spanischen Hofe des ausgehenden 18.Jahrhunderts auseinander zu halten. Hat man sich aber erst einmal eingelesen, fasziniert Feuchtwangers Roman trotz gewaltiger 600 Seiten sowohl in inhaltlicher, als auch in sprachlicher Hinsicht.

Wer sich der Goya Abteilung im Prado zu Madrid oder den Deckengemälden in der kleinen Kirche  San Antonio de la Florida nach der Lektüre des Romans nähert, sieht sie mit anderen Augen. Sie erzählen neue, oft auch lustige Geschichten. Zum Beispiel von den durchaus heiteren Querelen der royalen Bourbonen bei einer frühen Familienaufstellung für ein herrschaftliches Bild, bei dem Goya uns dann aber letztlich hinter die Fassade auf durchaus menschliches blicken lässt. Kein Spur mehr vom Gottesgnadentum. Ein kunsthistorischer Sprung nach vorne, an dem uns Feuchtwanger teilnehmen lässt. Die Macht der Kirche, des Königs und der Königin, der Inquisition, die beginnende Aufklärung und deren Anhänger in Spanien, die Reformer in der Regierung, die die Ideale der französischen Revolution bewundern, und immer mitten drin – Goya. Feuchtwanger hat hier auch eine Parabel auf die McCarthy Ära in den USA geschrieben, deren Subjekt er war, wie sein Goya Subjekt der Inquisition war. Kein offener politischer Revoluzzer, manchmal vielleicht sogar etwas opportunistisch. Als Künstler aber ist Goya der Wegbereiter der Moderne. Dies zu zeigen gelingt Feuchtwanger auf überzeugende und vielschichtige Weise. Er offenbart uns Goya aber auch als leidenschaftlich liebenden, aber auch leidenden Menschen.  Note: 1/2  (ün) <<

>>Niemand dürfte unbeeindruckt bleiben von der Fülle der Fakten, die Lion Feuchtwanger in seinem Buch aufbereitet hat. Sieben Jahre Arbeit, mehr als für jedes andere seiner Bücher. Eine bemerkenswerte Leistung auf fast 600 engbedruckten Seiten. Dem Autor gelingt es, die Entwicklung des genialen Malers, seine Höhen und Tiefen glaubwürdig nachvollziehbar zu machen. Viele Menschen spielen eine Rolle im Leben Goyas und leicht könnte man da den Überblick verlieren. Ein Arbeitsblatt brachte den späten Durchbruch (Danke Rainer!). Viel interessantes landeskundliches Wissen wurde verarbeitet, der spanische Hof, der Adel , seine Granden und die Obsession der „pureza de sangre“ (Blutreinheit), die unheilvolle  Inquisition, der vergebliche Kampf der Aufklärer („afrancesados“) gegen die Reaktionäre. Oder auch die konkurrierenden ästhetischen Theorien dieser Epoche (Mengs, Jacques Louis David contra Goya). Die Entstehungszusammenhänge der Werke Goyas werden klarer und nach der Lektüre dieses Romans ist Goya-Gucken sicherlich erhellender, erkenntnisreicher. Aber es ist manchmal ein arger Weg bis Seite 584.

Feuchtwanger liebt es, Adjektive aneinander zu reihen. Eine kleine Kostprobe: „Er brauchte seinen schweigsamen, immer verdrossenen, tief verständigen, viel wissenden, kennerischen, hageren Agustín, der herumging wie die sieben mageren Kühe (….) Er konnte ohne ihn nicht auskommen, sowenig wie Agustín ohne seinen großen, kindischen, bewunderten, unerträglichen Freund.“ (Seite 24)  Hat das Werk nach 57 Jahren etwas Patina angesetzt? Wie würde wohl Daniel Kehlmann den Goya-Stoff heute bearbeiten, habe ich mich manchmal gefragt. Leichter, flüssiger, leserfreundlicher? Wer kein Faible für historische Romane hat, dürfte mit einer guten Biographie vermutlich besser bedient sein. Im Internationalen Feuchtwanger-Jahr 2008 (er starb vor 50 Jahren) gilt diese Einschränkung aber nicht. Der ganz besondere Lese-Ort (Danke Burkhard!) zwischen den Säulen am Alfonso XIII-Denkmal im Retiro-Park in Madrid hob das gemeinsame Gespräch aus vielen anderen heraus. Wenn das nur die lautstarken Trommler gewusst hätten . Note: 2/3 ( ax)<<