Atemschaukel- Herta Müller

K640_atemschaukelHanser  2009, 300 Seiten.      

>> Herta Müller dokumentiert in der Rolle des fiktiven Ich-Erzähler Leopold Auberg das 5-jährige Zwangsarbeiterleben Oskar Pastiors im ukrainischen Nowo-Gorlowka und dessen Folgen . Was der 17jährige Rumäniendeutsche Leo, die Entdeckung seines homosexuellen „Geheimnisses“ fürchtend, als Chance dem „Fingerhut der kleinen Stadt“ zu entkommen, erlebt, erweist sich als Fahrt in die Niederungen menschlicher Verhaltensweisen. In 64 erinnerten Bildern, deren poetisch suggestive Sprache einem zuweilen wirklich den Atem verschlägt, vermischen sich zuweilen Realität und Halluzination. Zurückgeworfen aufs alltägliche Überleben – “Vom Eigenbrot zum Wangenbrot“ das bedrückendste Bild, im Dauerbündnis mit dem Hungerengels und unter dem Verlust von Scham und Moral erweist sich das Lager ins seinen alltäglichen Abläufen auch als „ein praktische Welt“,  in der selbst das „Abräumen“ der Toten zur nüchternen Verwertungskette verkommt. Jahreszeiten schrumpfen zu Hautundknochenzeiten. Zugleich gewinnen Objekte und ausbeuterischen Arbeitsvorgänge wie Zement, Schlacke, Schaufel,  Kohleabladen, Schlackoblockpressen ein differenziertes Eigenleben :„der Zement ist ein Intrigant“, die Arbeit mit der Herzschaufel gerät zum großartig grotesken Pas de deux, jede Schicht im Keller 12 Meter unter den Dampfkesseln der Fabrik mit Albert Gideo trotz gehasster „Durchfallschlacke“ zum „Kunstwerk“. Daneben bleibt Irma  Pfeifers Sprung in die Mörtelgrube die andere Form der Verarbeitung von Zwangsarbeit. Dass sich mit der Auflösung des Arbeitslagers nach 5 Jahren bei Leo Auberg  anstelle eines Gefühls der Befreiung die Erkenntnis der „unzumutbaren Entlassung“ einstellt, zeigt das  Maß an Verlust eigener Identität. Zwar erfüllt sich die Gewissheit von Leos Großmutter: Ich weiß Du kommst wieder, aber Zuhause bleibt er fremd. Posttraumatisch verfolgen ihn die Bilder bis zur Flucht nach Graz.: der „Nichtrührer“, „Zwischen den heimatsatten Leuten war ich vor Freiheit schwindlig“, das familiale Ver-schweigen und das „zusammengebaute“ Ersatzkind Robert, der Brief aus Wien – die Rache an Tur Prikulitsch -, der Kistennagler, der Betonierkurs, die Schein-Ehe mit Emma um dem Makel der „Spieler-“ oder „Klavier“-Identität zu entkommen. Was Leo an Glück bleibt, ist ein Einsamkeitstanz mit einer staubigen Rosine.
Fazit:
Faszination über die nicht immer auflösbare metaphorische Sprachwelt Herta Müllers und zugleich Entsetzen über das durch die Sprache aufgedeckte Martyrium der Lagerinsassen – ein Balanceakt für den Leser, der mich zuweilen doch an der Ästhetik der Grausamkeit zweifeln lässt. Note: 1/2 ( ai)<<

>>  „Der Hungerengel lief hysterisch herum. Er verlor jedes Maß.“ „Er taumelt enge Kreise und balanciert auf der Atemschaukel.“ Wann wird die Kraft nicht mehr reichen die Lungenflügel zu füllen, wann wird die Atemschaukel kippen, wann werden die Lagernachbarn in stabiler Gleichgültigkeit die versteckten Brotecken des Toten an sich nehmen? Fragen viel weniger an den Tod. Fragen viel mehr an diesen unsäglichen Hunger, der durch die Ewigkeit der Krautsuppe jahrein jahraus nur genährt und nicht gelöscht wird. Hunger, der allabendlich ein verzweifeltes Börsengeschäft belebt, wenn das einzige Brotstück in der Hoffnung getauscht wird, ein etwas größeres, dickeres zu erhalten. Und wenn auch das nicht gelingt, bleibt noch die Flucht in die Hungerwörter und die gar nicht abstrakten Visionen. Rauchige Luft zwischen leeren Zähnen ist/isst wie Bratwurst. Hunger entleert, Hunger macht geschlechtslos. Hunger zerstäubt die Anziehung zwischen Mann und Frau. Der unsäglich leere Gaumen wölbt sich wie eine gigantische Kuppel, in der sich beim „Gehen das Echo der Schritte … überschlug. Eine Durchsichtigkeit im Schädel, als hätte man zu viel grelles Licht geschluckt.“ Mit eindringlich poetischer Schärfe führt Herta Müller ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende das Messer in das  Fleisch des Frieden-verwöhnten Lesers.

Fünf unendliche Jahre verbringt die literarische Figur des anfangs 17-jährigen Leopold Auberg aus dem rumänisch-deutschen Siebenbürgen in russischen Arbeitslagern. Schon im zweiten Jahr beginnen die Bezüge des Ichs zu verschwimmen, wird der Zweifel zum Lebensinhalt. „Die Russen haben jedes ‚Jahr auf das Kommende gewartet, wir haben uns davor gefürchtet.“ Trotz der Sehnsucht nach Heimat, nach Orientierung und Halt, entschwindet zunehmend das Heimatgefühl. Je mehr Zeit der Entfremdung sich in die mageren Leben frisst, desto größer werden die Zweifel, ob Heimat noch Heimat sein kann, ob die Mutter nicht schon einen Ersatzsohn gezeugt hat oder die Ehefrau sich nicht schon an einen andern gebunden hat. In diesem Bezugsnotstand schwinden auch die zeitlichen Haltepunkte. Zukunft und Vergangenheit kommen abhanden. Nur die Gegenwart bleibt. Ein Paradoxon insofern, weil jeder Gegenwartsmoment leidvoll ist, während eine Flucht in das zeitliche Vorher oder Später Trost bieten könnte. Doch das tut es nicht – „man traute sich nicht mehr die Sehnsucht nach vorn“. Nicht mehr, wenn das Leid zu sehr Besitz ergreift.

Auch Leopold hat Alpträume von leeren Landstrichen, die einmal seine Heimat waren, entleert und für sein Auge nicht mehr wahrnehmbar. Stattdessen wird das quälende Lager sein emotionales Zuhause, weil eine Seele vier Wände braucht. Ganz andersartige Alpträume quälen ihn schließlich: er wird zum x-ten Mal deportiert, ohne dass man ihn in einem Lager aufnehmen will. Verzweifelt pocht er auf sein Lagerrecht, schließlich sei er ein erfahrender Lagerveteran. Selbst Jahrzehnte später, als er längst wieder in Freiheit lebt, lassen ihn diese Träume nicht los. Triebkraft wird nicht das absurde Recht auf Elend, sondern ein absurd anmutendes Heimwehgefühl als Grundmotiv von Eingebundensein. Eben der Ursprung von Heimat.

In 64 kurzen Abhandlungen, die mosaikartig ohne strenge Chronologie die Momente der Deportation, Inhaftierung, Heimkehr und schließlich Abkehr von Siebenbürgen skizzieren, wird der Leser mit Details eines  europäischen und eines individuellen Nachkriegsdramas konfrontiert. Leopold ist schwul und deshalb ständig von Inhaftierung im Rumänien der Kriegs- wie auch der Nachkriegszeit bedroht. Still in die Zeilen der Weltkriegsbeschreibung eingebunden erscheint die Verschleppung für den Homosexuellen anfangs wie eine Befreiung aus der moralisch-bedrohlichen Erstickungsnot der heimatlichen Umklammerung. Die beklemmende Enge bleibt auch nach der Rückkehr im Jahr 1950. Trotz einer Scheinehe wird die Bedrohung so groß, dass Leopold Hals über Kopf  nach Deutschland flüchtet ohne sein Ich zu finden, denn es sind nur kleine Schätze auf denen steht: Da bin ich. Die großen Schätze bleiben die der Vergangenheit: DA WAR ICH (S. 293). So atmet die Schaukel eine bleibende Traurigkeit. Der überwundene Schrecken bleibt wertvoller als die befreite Gegenwart.

Ein überzeugendes Werk. Eine erstaunliche Metaphernvielfalt gebettet in eine bemerkenswerte sprachliche Klarheit. Und die literarische Überraschung, Unsägliches zu Kunst zu formen. Wem gelingt es schon Hochofen-Schlacke (S. 172) in Poesie zu verwandeln? Einer Nobelpreisträgerin. Note: 1– (ur)<<

 

>>  Herta Müller beschreibt in Atemschaukel das lange verdrängte Schicksal der deutschen Minderheit in Rumänien Anfang 1945, als Zehntausende von ihnen in russische Arbeitslager deportiert werden. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des 17-jährigen Leopold Auberg aus Hermannstadt, der die Deportation anfangs als eine Art Befreiung aus der Enge seiner Heimatstadt und auch seiner Familie begreift, wohl auch deshalb, weil er gerade erst seine Homosexualität entdeckt hat.
In 64 Kapiteln, besser Episoden,  wird ein eindringliches, ergreifendes Bild des Lebens und Sterbens im Lager entfaltet, das trotz fast lyrischer Schönheit aber auch manchmal lakonischer Sprache nie die grausame Wirklichkeit übertüncht. Sprache wird auch zum Überlebensmittel für Leopold in der Trostlosigkeit des Gulag. Er lässt sich ein auf das Lager und Russland und umfängt die praktische Welt des Lagers mit wunderbaren Sprachschöpfungen wie „Angstwünsche“, „Hungerengel“, “Gnadenzwinger“, „Herzschaufel“ „Eigenbrot“ und eben auch der „Atemschaukel“ und macht so das Unerträgliche mit Hilfe der Sprache für sich selbst erträglich. Ein Meisterwerk mit der leichten Tendenz, in der Metaphorik verloren zu gehen. Note: 1/2 (ün)<<

>> Was für ein Buch. Fünf Jahre in einem russischen Arbeitslager. Schon von daher kein Lesevergnügen im eigentlichen Sinne. Aber ein interessantes Buch, gewiss, das seinen  Ausgang in Hermannstadt (heute Sibiu) nimmt. Wer diese schöne Stadt kennt und dann vom „Leben“ in der Steppe liest, kann ermessen, was dem jungen Mann widerfährt. Aber dieser ist anfänglich nicht einmal so unglücklich, dass er auf der Deportationsliste steht und dadurch der für ihn als Homosexuellen eh viel zu engen Stadt entkommen kann. An die Sprache muss man sich gewöhnen. Oft hochartifiziell, enigmatisch, celanisch. Oder vielleicht auch überzogen, manieristisch, gestelzt, gekünstelt? Ein Versuch, das Grauen abzumildern, zu ästhetisieren? Dann aber auch wieder realistisch, schlicht und dadurch packend. Ganz so wie die Nobelpreisträgerin spricht bei ihren unzähligen Interviews. Überzeugend. Bei you tube zum Beispiel. Der omnipräsente Hunger, der entmenschlicht und bestialisiert. Ist es da zynisch, wenn lakonisch geschildert wird, wie die Hungerqual gestillt werden soll durchs Reden über Kochrezepte („Man nehme….“)? Hilft das? Ein eindringliches Kapitel, ebenso wie die „lateinischen Geheimnisse“ aus der maroden Krankenbaracke oder die Schilderung des allmächtigen Zements.  Der „Sieg“ der schwachsinnigen Planton-Kati aus Bakowa über den Tyrannen Tur Prikulitsch. Diese, wie gesagt eher lakonisch geschriebenen Kapitel wirken auf mich am eindringlichsten. Traurig für den Erzähler, dass die Beziehung zur eigenen Familie vor und auch nach der Deportation eher desolat ist. Nur die Großmutter zeigt echte Gefühle für ihn. Nur sie erwartet und erhofft seine Rückkehr. Die Übersetzer/innen dieses Buches sind nicht zu beneiden. Ich werde nachschauen, wie Meldekraut in  romanische Sprachen übersetzt wurde. Die Aufteilung in viele kleine Unterkapitel (Entstehungsgeschichte) macht das Buch gut lesbar. Ansonsten  viele Abgründe, zu viele Hungerengel, zuviel Wut über das, was Menschen Menschen antun (es gibt auch Lichtblicke), zuviel Schaukel ohne allerdings verschaukelt zu werden. Atemschaufel oder Herzschaukel?  Vielleicht habe ich auch nicht alles verstanden. Zum Beispiel auf Seite 236: „Der Nullpunkt ist das Unsagbare.“ Extreme Verdichtung, halluzinatorische Lyrik, lyrische Halluzinationen? Über das Unsagbare sollte man schweigen, hat einmal ein Bedeutenderer geschrieben. Doppelpunkt.
Note:
2+ (ax) <<