Älter werden- Silvia Bovenschen

aelterwerdenFischer  2006,  202 Seiten .     

 >> “What a drag it is getting old…” stellen die Stones in ihrem legendären Song “ mothers little helper” schnörkellos fest, was der Tübinger Autor Veit Müller in seinen Live Lyrix frei aber treffend so übersetzt hat: „Was für’n Scheiß ist es, alt zu werden…“ Ein Gerücht sagt, dass der 65 –jährige Mick Jagger diesen Song aus dem Repertoire der Stones gestrichen hat. In unserem Sprachgebrauch ist man aber selten alt, sondern höchstens älter. Eine „Vergewaltigung der Grammatik“ sei es, wenn eine ältere Frau jünger sei als eine alte, so Silvia Bovenschen in ihren „Notizen“, die sich weniger als Ratgeber fürs „Älter werden“, denn als Erinnerungen an Jugend -und Kindheit in den 50er und 60er Jahren und Sammlung mehr oder weniger geistreicher Aphorismen (Lichtenberg immer noch unübertroffen) entpuppen. Wiedererkennungseffekte ergeben sich zuhauf, etwa wenn sie das Erschrecken über manch unvermittelt erblicktes Spiegelbild im Kaufhaus schildert. Bild und geschmeicheltes Selbstbild wollen einfach nicht zusammen passen. Oder das Abwägen zwischen Zeitgemäßem und Altersgemäßem als „wahre Artistik des Alterns“. Klischeehafte Weisheiten, wie ihre Erfahrungen als Lehramtsanwärterin mit den „vielen Lehrern, die sich in eine verfehlte Zukunft gestellt sahen. Musiklehrer, die vordem Konzertpianisten, Mathematiklehrer, die vordem Nobelpreisträger hatten werden wollen“ sind ärgerlich, der Einsatz von Fremdwörtern wie „mnetisch“ schlichtweg affig.
Die eigene MS Erkrankung wird nicht allzu sehr in den Vordergrund gerückt, das ist angenehm. Trotzdem bleibt ihre Erfahrung mit dem Älterwerden offensichtlich von der schweren Erkrankung geprägt. Die witzigste Erkenntnis über das Älter werden stammt allerdings nicht von der Autorin, sondern ist von der amerikanischen Entertainerin Roseanne übernommen: „Ich habe mich zum ersten Mal alt gefühlt, als ich einer wildfremden Frau von meinen Hühneraugen erzählte“. Note: 2/3 (ün)<<

>>  Nein, diese gut gemeinten, jüngst auch noch von geschäftstüchtigen Verlagsstrategen des Fischer Verlags brusttaschengerecht als Hardcoverhandbüchlein auf den Buchmarkt geworfenen Notizen werden nicht im nachlassenden Gedächtnis haften. Was aber bleibt, ist, wozu sie inspirierten: Eine fulminante, bis ins Detail stimmige Inszenierung des Gastgebers, der in mehrfachem Sinne eine Kostprobe von dem gegeben hat, was auch die literarische Viererbande zwischen Pauline Krone und Luise Wetzel einmal erwartet – nur das Probeliegen kam etwas zu kurz. Dass Max – es ist das erste Mal in der Rezensionsgeschichte des LQ, dass ich die Anonymität lüfte – das Zimmer verlassen hat, bevor die Nachtschwester kam, war allerdings ein Verstoß gegen die Hausordnung. Es ist wunderschön mit diesem Quartett älter zu werden.
Noten:
Bovenschen 3/4  Gastgeber 1,0 (ai)<<

>>  Der Untertitel „Notizen“ (ich hatte ihn übersehen) hält, was er verspricht. Für „Älter werden“ gilt dies nicht in gleicher Weise. „Gesammelte Einsichten“ oder „Vermischte Rückblicke“  wäre als Buchtitel angemessener. Das Buch ist nicht leicht zu resümieren, da es sich um eine Sammlung von Fragmenten, Aphorismen, Miniaturen, intelligenten Wortspielereien, verbalen Torsos und Sentenzen handelt. Dabei fast immer klug und geistreich formuliert. Man kann sich nach der Lektüre die Autorin, Tochter aus bestem Hause, ganz gut vorstellen. Das Bändchen im handlichen Mao-Bibelformat wird wahrscheinlich im Gegensatz zu seinen Leser/innen nicht so schnell älter werden. Auch in zehn Jahren wird es noch zu Geburtstagen verschenkt werden können. Überraschend oft hatte ich bei der Lektüre das angenehme Gefühl „Ja, genau. So isses. Das hat sie gut gesagt“. Kein Wunder, dass man so ein Buch gerne liest. Note: 2– (ax)<<

>>Kurze Sentenzen, Assoziationen, Erinnerungen, Bedauern über Vergangenes , verlorene Worte, abhanden gekommene Werte, vorweggenommene Abkehr von einer Zukunft, die immer kürzer wird und schon lange von der Übermacht der Vergangenheit erschlagen wird. 2006 schreibt Bovenschen, sie sei 60, dass sei eine böse Zahl. Da sei nichts mehr zu machen. So dass der Leser schon nach wenigen Seiten ahnt, dass der Titel noch strenger formuliert gehört. Nicht „Älter werden“ – denn das wird auch ein Neugeborener und blickt einer großartigen Entwicklung entgegen – sondern „Alt sein“ – Entwicklungen schon hinter sich haben. Oder noch strenger: „Zu alt sein“ – Entwicklungen schon eingebüßt haben. Je mehr Notizen Bovenschen aneinanderreiht, je weiter das Buch sich dem Ende nähert, desto stärker scheint auch das Ende an sich zu drohen, wird eine Lebensenttäuschung zu Gedanken verdichtet, die den Suizid nicht ausschließt. Obwohl auch Heiteres aufblitzt, obwohl auch originärer Witz seinen Platz hat, wird der Text von einer Niedergeschlagenheit umklammert. Man fühlt sich nicht wohl, man möchte nicht in und mit dieser Lektüre alt werden. Vermutlich ist selbst für Leidende schwerlich Trost oder wenigsten Bestätigung des eigenen Leids in ihren Gedanken zu finden. Warum eigentlich nicht?

Bovenschen ist von zahlreichen, sehr schweren Krankheiten gezeichnet, die sie nur sehr zurückhaltend als Multiple Sklerose und Krebs andeutet. Man ahnt, dass mit den zunehmenden Qualen des voranschreitenden Leids das gefühlte Alter wesentlich fortgeschrittener sein muss als das physische Alter. Und dennoch – die Unstimmigkeit der Stimmung macht die Frage noch drängender, warum sie sich mitteilt. Jede Autobiographie hat etwas Exhibitionistisches. Warum sehr Privates in die anonyme Öffentlichkeit streuen? Und schließlich die Frage auf der Leserseite: will man in jedem Fall Teilhaber des Privaten werden?

Es reihen sich Kapitel verschiedener Prägung aneinander: amüsante Details der Jugend, die schon völlig vergessen waren wie die widerspenstigen Strumpfhalter, die in der Halböffentlichkeit unter dem Rock zur Räson gebracht werden mussten, wenn sie sich wieder einmal gelöst hatten. Oder sehr bemühte, gestelzt vorgetragene Betrachtungen bis hin zu gelungenen Sprachspielen wie etwa, dass die wahre Artistik des Alterns die Gabe sei, zwischen Altersgemäßen und Zeitgemäßen unterscheiden zu können. Das sei ein Können, das Alte vorübergehend noch können können. Die kurzen Kapitel machen das Lesen leicht. Gelegentlich möchte man noch eins mehr – aber man muss nicht unbedingt.  Note: 3– (ur)<<