Schweigeminute- Siegfried Lenz

SchweigeminuteHoffmann und Campe 2008,  128 Seiten

 

>>Man muss sein Urteil über dieses Buch auch mal verschweigen dürfen. Note: 4+ (ai)<<

>>Schweigeminute ist ein angemessener Titel auch für den Kommentar: in der Tat möchte man aus Rücksicht über diese Novelle kaum Worte verlieren. Ein zu kleiner Erzählkreis, der sprachliche Raffinesse sucht aber nicht findet. Ein schon gekanntes Melodram: Schüler und Lehrerin verlieben sich bis dass der tragische Tod sie scheidet. Wenig Tiefe in den Gefühlsgründen und manchmal bemühte, fast befremdliche Konstruktionen wie am überaus enttäuschenden Schluss, wo man hofft, dass der wohlgediente Lenz die Sieltore nun schließen möge, damit die alten fruchtbaren Weidegründe nicht im Brackwasser untergehen. Doch es gibt auch von gelegentlichen frischen Winden aus dem Küstenwerk am Rande der Ostsee zu berichten.

Hirtshafen, kleiner Küstenort mit Badegästen, Schülerregatta, bodenständigen Charakteren und der schön-sportlichen und unkonventionellen Englischlehrerin Stella Petersen. Stella verguckt sich still aber direkt in Christian, ihren 18-jährigen Schüler wie auch er in sie. Die Annäherung erleben wir wie das Ansteigen des Meeresspiegels bei auflaufender Flut: eher unauffällig bei Stella und mit Erlebniswellen bei ansonsten ruhiger See bei Christian, der uns mit wenig überzeugender Sachlichkeit die Begebenheiten schildert. Gemeinsame Badeerlebnisse, Ausflüge auf die einsame Vogelinsel, Dünenkuschelei, Strandsommerfest, eine gemeinsame Hotelnacht im Heimatort und alles vor den Augen der interessierten Nachbarschaft. Kaum nachvollziehbar die weit verbreitete Gelassenheit der Akteure und ihrer Voyeure, was wie eine wenig gekonnte literarische Nachlässigkeit anmutet. Mit zunehmender Liebelei gewinnen die Träumereien von Christian an Farbe, während sich Stella schon mal über die Normverletzung ihres pädagogischen Fehltritts sorgt. Christian hortet währenddessen Eingemachtes, um mit Stella auf der Vogelinsel in Einsamkeit und Liebe aber ohne Hunger dem Glück zu frönen. Stella übt zwischenzeitlich eingeschränkte Distanzierung mit schlechten Noten für seine mäßigen Englischleistungen. Dennoch wird ihre Liebe bis zum Ende durchhalten.

Eingeflochten erscheinen Momente des Todes. Bei der kleinen Segelregatta rettet Stella einen Schüler aus einem gekenterten Dingi, verteidigt ein Mädel unter Wasser gegen einen rivalisierenden Mitschüler, pflegt ihren sterbenskranken Vater und stirbt bei einem Segeltörn dann doch als erste. Spätestens an dieser Stelle böte sich ein literarischer Tiefgang als Stellas Segelboot verunglückt. Christian hatte mit seinem Vater, der „Steinfischer“ ist, von einem uralten Unterwassersteinwall Steine zum Hafen transportiert, um dort einen schützenden neuen Wellenbrecher aufzuschütten. Im Mittelalter provozierten die künstlichen Wälle, die bis kurz unter die Meeresoberfläche reichten, das Auflaufen fremder Schiffe, damit die Küstenbewohner sich anschließend am angeschwemmten Strandgut bereichern konnten. Kollektiver Mord mit langlebiger Infrastruktur. Die Tragik liegt in der Tatsache, dass der Abbau der alten und Aufbau der neuen Barriere Leben retten sollte. Doch das Gegenteil geschieht, als sich das Segelschiff bei Sturm in den rettenden Hafen flüchten will, sich am Wellenbrecher verfängt und der brechende Mast Stella erschlägt. All dies wird von Christian beobachtet. Zwar kann er sie noch lebend retten, doch stirbt sie später an ihren schweren Kopfverletzungen. Enttäuschend, dass die Novelle auch hier kaum mehr als eine unreflektierte Unfallbeschreibung liefert. Dann Schülerbesuch im Krankenhaus, schulische Trauerfeier und Seebestattung, Ende.

Letztlich ein auch bei stürmischer See leicht verdauliches Buch, das mehr durch seine Kürze als durch seinen Gehalt überzeugt. Note: 3/4 (ur)<<

 

>> Nicht jedes Alterswerk ist meisterlich, auch wenn der Autor einen großen Namen wie Siegfried Lenz trägt. Trotz gekonnter Erzähltechnik und an sich spannendem Thema – 18 jähriger Schüler verliebt sich in 30- jährige Englisch – Lehrerin – gelingt es Lenz in seiner Novelle nicht , den Figuren genügend Tiefgang zu geben. Ganz im Gegensatz zum Protagonisten Christian, der als Steinfischersohn tief auf den Grund der Ostsee tauchen muss. Nein, Lenz verharrt an der Oberfläche. Manche Dialoge wirken platt, vorhersehbar, hölzern. So was muss auch in den 60-iger Jahren nicht sein und hat nichts mit Lakonie der Erzählkunst zu tun, sondern ist schlicht tröge. Wetten, dass „Schweigeminute“ bald verfilmt wird ? Neben Traumschiff und Pilcher kann es sicher bestehen! Note: 4 (ün) <<

Anmerkung aus dem Jahre 2016:  Es hat zwar etwas länger gedauert, aber acht Jahre nach Erscheinen der Novelle gab es nun tatsächlich eine Verfilmung des Stoffes für das Fernsehen. Selten kann man es behaupten, aber hier war es so: Der Film ist besser als das Buch! Weit über dem sonstigen TV- Niveau. (Trotz Edelkitschverdacht am Ende). Vor allem die beiden Hauptdarsteller sind glänzend besetzt.

>>Vom Schweigen zum Heilschweigen. ‚Schweigeminute’ wird von der gesamten literarischen Kritik einhellig gelobt. Fast überschlägt sie sich: “Wir haben meinem Freund Siegfried Lenz für ein poetisches Buch zu danken“, schreibt zum Beispiel der Vater aller literarischen Quartette. Die zweite Auflage lief schon durch die Druckmaschinen, bevor das Buch auf dem Markt war, meldet der Spiegel (19/2008). „Die `Schweigeminute`, eine zeitlose Kostbarkeit, sie passt in diese Zeit, resümiert Ulrich Greiner in der ZEIT (08.05.08).In diese unsere Zeit, in der, wie von unsichtbarer Hand gelenkt, Bestseller entstehen oder auch nicht. All dies Lob steigert die Erwartungen des Lesers, übersteigert sie sogar vielleicht.

 Der Inhalt de Novelle ist allerorts nachzulesen. Deshalb beschränke ich mich auf ein paar Anmerkungen, die obiges Lob etwas in Frage stellen. Manche Details bleiben rätselhaft, wie zum Beispiel die Oxford-Stipendien, die Direktor Block (nomen est omen?) explizit in seiner Trauerrede erwähnt (S.9). Wozu eigentlich?„Hat es keinen anderen Ausweg für dich gegeben?“ fragt Kollege Kugler während der Trauerfeier (S.19). Da wird etwas Gravierendes angedeutet, das später nicht mehr aufgenommen oder ausgeführt wird.

Lesen Sie bitte Sätze des Schülers Christian laut: „Lob und Herrlichkeit, ich nenne die Namen und ergebe mich, Glorie sei Dir. Und dann dies Amen, das unser Orchester echohaft aufnahm, das leiser wurde und das sich wunderbar verlor an ein Universum des Trostes, überwunden der Actus Tragicus.“ Und dann stellen Sie sich einen Gymnasiasten vor, egal ob von heute oder von der Penne  anno 1956. Was fällt Ihnen auf? Heilige Stella, ora pro nobis, warum auch  nicht. Oder wenn die Lehrerin in Stella durchbricht und sie zur Oberlehrerin wird. Da klingen ihre Sätze gedrechselt wie ein Erwartungshorizont zur Animals Farm. Dabei ist sie allein mit Christian und spricht mit ihm über Mängel seiner Interpretation. Auch dieses Buch bildet. Der Südländer erfährt allerlei über Bräuche, Kleidung und Wortschatz  an der Ostsee. Wer hätte auch geahnt, dass Steine gefischt werden?

Was hat mir gefallen? Beeindruckend, wie geschickt Lenz immer wieder die Perspektive wechselt „Sie trat ans Fenster, als suchtest du etwas“. Immer wieder gelingen dem Erzähler wunderbare Sätze, wenn er in Abwandlung eines Nietzsche-Zitates („Denn alle Lust will Ewigkeit“) bescheidener von der „Sehnsucht nach Dauer“ oder den Zusammenhang zwischen Schweigen und Glück andeutet: „Ich begriff, dass ich diese Entdeckung nicht in der Schule preisgeben durfte, einfach, weil mit einer Preisgabe etwas aufzuhören drohte, das mir alles bedeutete – vielleicht muss ja im Schweigen ruhen und bewahrt werden, was uns glücklich macht“. (S.126) Ein Ja zum Heil-Schweigen.
Note: 3+ ( ax)<<

Gut gegen Nordwind – Daniel Glattauer

Gut gegen NordwindDeuticke 2006,  223 Seiten.             

>>Man nehme zwei fremde Menschen, die einander begehren und einen störenden Ehegatten, verzichte auf eine treibende Handlung und serviere ausnahmslos in Dialogen. Fertig ist die Schöpfung. Also der klassische Langweiler unter den literarischen Serviervorschlägen? Daniel Glattauer belehrt uns eines besseren.

Mit zunehmender Wissbegierde folgen wir dem postmodernen Emailgeflüster zweier Gleichgesinnter, die ein Internet-Missverständnis zwar nur virtuell aber mit zunehmender Geschwindigkeit auch mental verlinkt. Aus hingeworfenen Grüßen werden komponierte Passagen, die sich zu minutenschnellen Stakkati eines erotisch subtil angehauchten Elektronenwindes verdichten. Die Beteiligten werden rasend schnell aneinander süchtig, und wir als voyeuristische Zuhörer ebenso. Was wir erleben ist nicht nur eine platonische Hingebung Unbekannter und damit das ewig lebendige Pulsieren des Eros sondern auch die Faszination einer neuen Kommunikationsform. Auch wenn wir den Briefroman schon lange kennen, eröffnet der Emailroman eine neue Qualität, weil schon fast im Takt des gesprochenen Wortes eine größere Vitalität möglich wird und dennoch durch den geschriebenen Text die Worte authentisch gefasster und damit bei Glattauer auch poetischer gesetzt werden können als in direkten Zwiegesprächen.

Leo Leike ist Psychologe und als treffsicherer Sprachanalytiker in ein Forschungsprojekt eingebunden, welches auf emotionale Inhalte in der Emailkommunikation gerichtet ist. Auf Grund eines Vokalfehlers erreicht ihn mehrmals ein an den LIKE Verlag gerichtetes Beschwerdeschreiben einer Emmi Rothner. Beide kommen neun Monate später zufällig in dem Moment wieder in Kontakt, als Leo verzweifelt auf eine beruhigende Nachricht seiner ihn zum wiederholten Male verlassenden Lebensgefährtin wartet. Er wartet vergeblich – sie gewährt ihm keinen Versöhnungsausflug nach Paris sondern gibt sich einem anderen hin. Just in dem Moment erreicht ihn erneut eine Weihnachts-Rundmail aus Emmis Verteilerbox. Die Unbekannten kommen bald ins Gespräch, getrieben von der inneren Leere, die sie beide erfüllt. Emmi ist mit ihrem ehemaligen, 14 Jahre älteren Musiklehrer verheiratet, der nach dem Tod seiner ersten Ehefrau zwei kleine Kinder in die Ehe mitbrachte. Zwar genießt sie das grenzenlose Verständnis ihres respektvollen Gatten, doch fühlt sie nach acht bilderbuchartigen Ehejahren eine ungestillte Lust nach Grenzüberschreitungen, ohne diese jedoch klar zu erfassen. Im Internetgespräch mit Leo gewinnt diese Bedürftigkeit immer mehr Konturen und schon bald hofft sie Leo sehen zu können. Doch Leo ist überzeugt, dass die Realität nie mit dem inzwischen entstandenen Visionen des (visuell unbekannten) Gesprächspartners überstimmen wird. Damit müsste unweigerlich das inzwischen gereifte Traumbild des anderen in sich zusammenstürzen.

Auf Drängen von Emmi stimmt er einem anonymen Treffen in einem stark frequentierten Kaffeehaus zu, bei dem sich beide jedoch nicht zu erkennen geben dürfen. Raffiniert treibt der Autor die Geschichte auf einen ersten Höhepunkt zu, ohne jedoch die Spannung aufzulösen. Beide erkennen einander nicht. Emmi studiert alle allein auftretenden Männer und ist von deren Erscheinungen grenzenlos enttäuscht. Leo ist mit seiner attraktiven Schwester Adrienne erschienen, steht mit dem Rücken zum Publikum und gibt sich als Verliebter, der seine Aufmerksamkeit ausschließlich seiner vermeintlichen Partnerin widmet. Während dessen beschreibt Adrienne ihm die Besucherinnen des Lokals. Sein Bild von Emmi wird zwar konkretisiert, doch bleibt es ausreichend unscharf und nährt damit weitere Traumbilder. Die Virtualität bleibt trotz der Realität erhalten.

In wiederholten und manchmal ermüdenden Rhythmen erleben wir ein weiteres Element der virtuellen Kommunikation. Die Unschärfe bewirkt eine durchgängige Metastabilität des Beziehungsverhältnisses. Bleibt eine Emailantwort etwas länger aus, schleichen sich vor allem bei Emmi augenblicklich Zweifel über das tatsächliche Interesse an ihrer Person ein. Offen ausgetragene Zuneigung verkehrt sich in wenigen Sätzen ins Gegenteil. Nicht-Wissen wird vorschnell kompensiert mit Lücken-füllenden Vermutungen, vermeintliche Verletzungen werden mit Angriffen aufgewogen. Doch auch diese Wendungen sind kurzlebig und lassen Raum für erneute Annäherungen.

Mit dem Verweis, Leo bräuchte dringend mal eine Frau, versucht Emmi in naiver Weise weitere Erkenntnisse über Leo zu gewinnen, in dem sie ihn mit ihrer besten Freundin Mia bekannt macht. Aus Trotz gegenüber dem instrumentalisierenden Spiel von Emmi schlafen beide miteinander. Leo spürt jedoch, dass man nur miteinander schlafen kann, aber nicht gegen einen Dritten. Es bleibt beim one-night stand. Die Wechsel intensivieren sich, der Emailverkehr beginnt für beide schon vor dem Frühstück. Nachts wird der Labtop zum Beischläfer, sollte das Info-Läuten eine späte Email ankündigen. Beiden wird zunehmend der Suchtcharakter ihrer Beziehung klar, dem sie sich nur phasenweise entziehen können. Bei kollektiv genossenem Alkohol vor getrennten Bildschirmen jedoch nie. Völlig überraschend meldet sich eines Tages Emmis Gatte Bernhard mit der überzeugenden Beichte, alle Emails gelesen zu haben, nachdem seine Frau ihm und den Kindern entglitten sei und nur noch zurückgezogen mit ihrem PC lebe. Weil ihm klar sei, dass die Abhängigkeit seiner Frau von ihrer idealisierenden Fantasie genährt werde, erhoffe er sich ein Ende des Spuks, sollte an ihre Stelle die Wirklichkeit treten. Deshalb möge Leo ein einziges Mal mit seiner Frau schlafen, um sie dann endgültig freizugeben. Leo lässt die Antwort offen, sichert Stillschweigen zu und drängt den Ehemann mit Emmi ein klärendes Gespräch zu führen, warum sie überhaupt in eine virtuelle Abenteuerwelt flüchte und wo die Defizite ihrer Ehe lägen. Das Gespräch findet nicht statt.

Leo scheint diese Entwicklung als gefährliche Grenzüberschreitung zu erleben, der er einen totalen Schnitt entgegensetzt. Er teilt Emmi mit, in Kürze zwei Jahre nach Boston im Rahmen eines Forschungsprojektes zu gehen und den Kontakt mit ihr abbrechen zu wollen, um für eine reale, legale Beziehung offen sein zu können. Zuvor möchte er sie nochmals treffen: im Dunkeln ohne sich zu sehen. Das weitere würden sie dem Moment überlassen. Tatsächlich bereiten sich beide ernsthaft auf die Begegnung vor, doch kommt auch diese nicht zustande. Bei ihrem Abschied zuhause wünscht Bernhard: „Amüsiere dich gut, Emmi“, wodurch Emmi realisiert, dass sie entdeckt wurde. Wie zu Beginn der Geschichte ist es wieder ein Vokal. Bernhard nannte sie stets Emma. Mit dem „i“ hat er die entfremdete Gattin entlarvt und paralysiert. Ein identitätsstiftender Vokal, die für Emmi die besagte virtuelle Grenzüberschreitung zusammenfasst. Die klärende Email von Emmi erreicht Leo jedoch nicht mehr, der inzwischen seinen Account storniert hat.

Für Emmi waren Leos Emails gut gegen Nordwind, wenn sie nicht schlafend konnte. Für jeden Schlafgeschädigten dürfte das nicht anders sein. Eine kurzweilige Bettlektüre.
Note:
2+ (ur)<<

>> Eine fehlgeleitete  E-Mail von Emmi Rothner landet bei dem Sprachpsychologen Leo Leik. Ein harmloser Zufall, wie er im Cyberspace  tatsächlich wahrscheinlich täglich tausendfach vorkommt. Was Daniel Glattauer in „Gut gegen Nordwind“  aus diesem Plot macht, gehört zum Besten und Schönsten, was ich seit langem gelesen habe. Deshalb soll auch nicht viel verraten werden. Selber lesen! Mit Sprachwitz und psychologischem Tiefgang entwickelt sich ein E-Maildialog, in dem die beiden Protagonisten sich zunehmend näher kommen und gleichzeitig fern bleiben, sich gleichsam in die Seele des anderen einnisten ohne eine Ahnung vom Äußeren des anderen zu haben. Doppelbödig, wie vieles in diesem Meisterwerk,  auch der Umstand, dass der Sprachpsychologe Leik an einer Untersuchung mitwirkt, „wie Emotionen per E-Mail transportiert“ werden können. Immer wieder Überraschungen bereithaltend, kreist die Geschichte um die alles entscheidende Frage. Am Ende sorgt die Vertauschung von nur zwei Buchstaben an einem äußerst stimmigen Ende mit. Wie nahe man sich ausschließlich mit den Mitteln der Sprache kommen kann, ohne jeglichen materiellen Unterbau, das zeigt uns Glattauer in atemberaubend schöner und gelungener Weise. Note : 1 (ün)<<

>>Ein Roman, der nur aus E-Mails besteht, ist vermutlich ein Novum.Ein Frau, ein Mann, die Mails jagen sich manchmal fast pausenlos; längere Mail- Pausen lösen Entzugserscheinungen aus. Leo Leike bringt ideale Voraussetzungen fürs Mailen mit, untersucht er doch den Einfluss dieser Textsorte auf unser Sprachverhalten und seine Eignung als Transportmittel für Emotionen. Der Roman ist voll davon. Alles beginnt mit einem Tippfehler. Ein Prozess der langsamen Annäherung folgt, die Neugier auf den anderen Menschen wächst. Kann man zum Beispiel  „jünger schreiben“ als man tatsächlich ist? Ein Puzzle-Bild des anderen entsteht und gleichzeitig die Befürchtung, eine reale Begegnung  könne das positive Bild zerstören. Fehleinschätzungen der eigenen Person, aber auch des Partners komplizieren die Kontakte. So unterschätzt Emmi Rothner grandios die Eifersucht ihres Ehemanns, aber auch ihre eigene. Wie und wo soll das alles enden, fragte ich mich besorgt schon ziemlich früh. Zum Glück erfährt man es erst recht spät. Daniel Glattauer macht die Magie des geschriebenen Wortes erfahrbar. Wer selbst mit unbekannten Menschen über längere Zeit kommunizierte, vielleicht erlebt hat, wie „Menschenbilder“ bei wirklichen Begegnungen sekundenschnell zusammen-brechen können, der wird dieses Buch ganz besonders genießen können.
Note: 1–  (ax)<<

 >>Ein „e“ zuviel in der Emailadresse, das ist der Anfang und ein enthüllendes Emmi „i“, das ist in doppeltem Sinne das Ende. Zwischen diesen beiden Buchstaben entfaltet sich eine faszinierende virtuelle Beziehungsgeschichte zwischen dem 36 jährigen Sprachpsychologen Leo Leike und der sich in einer glückliche Ehe wähnenden 34 jährigen Emmi Rothner. Ein Spiel beginnt, in das sich beide zunächst noch souverän agierende Protagonisten Schritt für Schritt doch Hals über Kopf verstricken. Ein Spiel – vor allem mit Sprache. Entscheidender noch als die recht spärlichen faktischen Mitteilungen ist, was zwischen den Zeilen vermutet wird, welche Bilder und Erwartungen das geschriebene Wort am Bildschirm vom jeweiligen Gegenüber in den Köpfen der beiden Protagonisten freisetzt, wie eine Parallelwelt virtueller Zweisamkeit entsteht. Da sieht sich  Emmi zuweilen als Teil der Marlene-Verarbeitungs- therapie Leos und der durch Marlene leicht beziehungsgeschädigte Leo setzt mit  bedeutungs- tragenden Anführungszeichen zur glücklichen Ehe Emmis ( Bernhard, die Kinder und die vermuteten Streifenhörnchen repräsentieren diese Familien-Idylle) erste Kontrapunkte. Der Reiz die virtuelle Welt durch ein Stück Wirklichkeit  zu ergänzen- -Emmi unterstellt Leo, er bastele sich lieber seine eigene Emmi Rother, als die echte kennen zu lernen, führt zu einem kunstvollen Arrangement einer ersten Camouflage-Begegnung im Cafe Huber,  in dem vor allem Leo ein wiederum nur durch seine Schwester vermitteltes Bild dreier möglicher Emmis erhält. Als Emmi ihre Freundin Mia zur Realerkundung Leos einsetzt, entgleitet ihr das Spiel,weil Leo und Mia die ihnen zugedachten Rollen verlassen und es durch trotzigen einmaligen Sex „vermasseln“. In dem Maße, in dem Emmis Eifersucht zunimmt, wächst ihr Verlangen nach Leo gegen den nächtlichen Nordwind, während Leo in einem möglichen Treffen die große Ernüchterung wähnt. „Wir können das nicht leben, was wir schreiben“, kann man eine Liebeserklärung pathetischer und zugleich nüchterner formulieren. Und so ist es zugleich der eigentliche literarische Zauber Glattauers, der Faszination der virtuellen Beziehung nicht die Entzauberung durch eine reale Begegnung folgen zu lassen. Dass der anrührende Bittbrief von Emmis Ehemann Bernhard – seine Emailenthüllung ist die moderne Form von. Innstettens aufgebrochenem Effi-Nähkästchen – für Leo die Boston-Wende und für Emma das Ende einleitet, ist ein weiterer Kunstgriff Glattauers. Leo holt Emmi aus ihrem „Versteck“, Leo versteckt sich hinter einer neuen Emailadresse:  die Realität hat sie wieder, die Faszination lässt sich nicht leben. Note: 1/2 (ai) <<

Der Weltensammler – Ilja Trojanow

weltensammler_1Hanser 2007,  466 Seiten.

>>Eine literarisch verfremdete Biographie. Drei annähernd getrennte Bücher angestrengt zusammengehalten durch den Weltensammler Burton. Drei Reisen mit zunehmend blasser Ausmalung. Weit über einhundertfünfzig Kurzkapitel. Steter Wechsel von übergeordneter Erzählung und sich wiederholenden Dialogsituationen. Allgegenwärtige Sachkenntnis, bemühte Detailverweise. Angehängter Glossar als Nachweis erschöpfender Fleißarbeit. Der geduldige Leser auf der Suche nach einem Leitfaden. Ein Entwicklungsroman? Ein Dokument der Völkerverständigung? Die stillen Momente eines Abenteuerromans?
Richard Burton wurde als Offizier der vermeintlich ehrwürdigen Ostindischen Gesellschaft nach Bombay versetzt. Imperialismus im Jahrhundert 19 mit desinteressierten Befehlsempfängern, die einmal jährlich zur Bauchpinselung indischer Lokalfürsten salutieren und ansonsten die britischen Handelsausbeuten sichern. Burton ist anders. Manisch studiert er bis zum Perfektionismus die Landessprachen und ihre Dialekte. Saugt Lebensweisen und fremde Gebräuche auf, versucht durch Verkleidung und Eintauchen in fremde Kulturen Rituale zu erschließen ohne sich ihrer zu bemächtigen. Im Konflikt mit den eigenen Vorgesetzten entlarvt er den britischen Kolonialismus als dümmlichen Imperialismus, der nur auf Grund des umfassenden Minderwertigkeitsgefühls der Unterdrückten überleben kann. Burton betrachtet das Fremde als wissenschaftliches Phänomen: interessant, dokumentationswürdig, unantastbar um seine Originalität zu wahren. Burton erscheint dabei jedoch nicht als empathischer Mensch, sondern nur als schier grenzenloses Speichermedium.

Sein Haushalt wird von zahlreichen Dienern organisiert, seine Nächte werden von der Kurtisane Kundalini versüßt. Ihre Liebesdienste wecken den Menschen in Burton. Er will sie ganz verstehen, will nicht nur ihre ergebenen Dienste sondern ihre Gefühle, die sie ihm jedoch aus Angst vor einem späteren Verlust vorenthält. Kundalini ist als religiös missbrauchte Klosterprostituierte auf einer mentalen Flucht und bleibt in der erfolglosen Suche nach einer anderen Identität und Geborgenheit gefangen. Sie ist eine Aussätzige, der man am Ende sogar ihre Bestattung verweigert. Kundalinis Identitätsleere steht im Gegensatz zu Burton, der suchtartig wieder und wieder in neue kulturelle Identitäten schlüpft um diese inhaltlich zu durchdringen. Durch Kundalinis Tod, der vielleicht ein Eifersuchtsmord seines Dieners war, bricht Burton seelisch ein, teilt fortan sein Haus mit sechs Affen und erklärt eine von ihm geschminkte Affin zu seiner Mätresse.

Wie aus den eingestreuten Dialogen zwischen seinem Oberdiener Naukaram und einem Schreiber deutlich wird, teilte Naukaram mit dem ahnungslosen Burton Leib und Liebe von Kundalini. Alle drei werden Verlierer dieser unheiligen Verbindungen. In den Dialogen mit dem Schreiber wird ein weiteres Identitätsmotiv entwickelt. Der Schreiber, der an sich nur ein Empfehlungsschreiben für Naukaram aufsetzen sollte, ist zunehmend fasziniert von Naukarams Berichten über Burton und entlockt ihm immer mehr Details. Da er als Schreiber nicht die erhoffte Wertschätzung genießt, nutzt er Naukarams Erzählungen, um sie weiter zu spinnen in der Hoffnung, mit einem eigenen Werk zum Literaten zu werden und sich damit einen Identitätstraum zu erfüllen.

Jahre später ist Burton wieder unterwegs. Inzwischen unter dem Namen Sheikh Abdullah. Die Berührung mit dem Islam während der ersten Reise hat ihn konvertieren lassen. In Ägypten praktiziert er als Arzt, der er eigentlich nicht ist, dem aber bald durch seine Heilerfolge ein legendärer Ruf vorauseilt. Doch er verspielt durch Trinkgelage diesen Ruf. Letztlich erleichtert, endlich keine Rolle mehr spielen zu müssen, begibt er sich auf die strapaziöse Pilgerfahrt nach Mekka. Die Fahrt ist von Überfällen, Entbehrungen und der Angst vor dem Entdecktwerden gezeichnet. Denn sollte er als vermeintlich Ungläubiger entlarvt werden, wäre sein Leben gefährdet.

Die Kaaba, die Inbrunst der religiösen Massenrituale und der Rausch hunderttausender Gläubiger überwältigen ihn – ein emotionaler Tsunami, auf den er nicht vorbereitet ist, und der ihn zeitweise fortspült. Und dennoch kommen ihm Zweifel: zwar nimmt der Islam seinen Ausgang nicht bei einer Erbschuld wie im Christentum, doch zeugt der positive Gedanke, dass alle Menschen einander gleichermaßen schätzen und stützen sollen von mangelnder Weisheit, weil er in der Enge des menschlichen Herzens nicht lebbar sei. Die auch in diesen Reisebericht eingefügten, wiederkehrenden Dialogkapitel bescheinigen Burton ausgeprägte altruistische Züge, womit er gerade jenen Charakter darstellt, den er als Gegenstand seiner religiösen Zweifel in Frage stellt. Entsprechend stößt der türkische Großwesir, der Burton als Spion zu entlarven sucht, bei Zeugenbefragungen nur auf wahrhaft anerkennende Aussagen über den selbstlosen Burton.

Die letzte große Reise führt nach Ostafrika. Von Sansibar ausgehend sucht Burton mit einer Expeditionsgruppe von über 100 schwarzen Trägern, bewaffneten Milizen und dem zunehmend konkurrierenden englischen Entdecker Speke auf dem afrikanischen Kontinent die Ursprünge des Nil. Während die indische Reise der Entdeckung des Fremden und die arabische der des religiösen Ichs diente, wird die dritte Reise von der Eitelkeit des Ego getrieben. Das geographische Ziel soll vor allem das Vehikel für den erhofften Ruhm hergeben. Wieder begleiten unendliche Strapazen die Karawane, die in wasserlosen Wüsten fast verdurstet, in sintflutartigen Regengüssen von Schlammlawinen begraben wird, und in der brütenden Feuchtigkeit durch nicht endende Erkrankungen gelähmt wird. Am Ende ist es Speke, der am durch Malaria niedergestreckten Burton vorbeizieht, den Viktoriasee als Quelle des Nil entdeckt und später die großen Ehrungen der Heimat für sich beansprucht.

Trojanow zeichnet einen britischer Burton, der wie der deutsche Humboldt den Weg zum Ziel erklärt, für den sich die Suche zur Sucht verdichtet und dabei Vieles findet nur nicht sich selbst. Beide befähigt Ehrgeiz und der Hang zum Skurrilen zu grenzenloser Ausdauer bis an die Grenzen der physischen Selbstaufgabe. Trojanows „Weltensammler“ Roman hat dabei nicht die Klar- und Leichtigkeit von Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ (Humboldt…). Dennoch überzeugt Trojanow immer wieder durch sprachliche Raffinesse und die Paralleldarstellungen einmal aus der Sicht des übergeordneten Erzählers und einander mal aus der voreingenommener Zeitgenossen. Dennoch leidet der Roman nachhaltig unter der unvollendeten inhaltlichen Konzeption, dem situativen Flickenteppich und ermüdender Längen. Note: 3– (ur)<<

>>Auf der ersten und auf der letzten Seite ist es so dämmrig, dass  ein schwarzer und ein weißer Faden nicht mehr zu unterscheiden sind. Der rote Faden im „Weltensammler“ ist hingegen gut erkennbar: Anekdoten, Episoden, Reflexionen und Abenteuer  verschiedenster Art reihen sich aneinander. Die Reise geht nach Bombay und zurück nach England über Arabien zu den Quellen des Nils. Richard Burton (1821-1890), ein meist vorbildlicher interkultureller Lerner, ist der  Fremde „verfallen“. Er möchte  „denken, sehen, fühlen“  wie ein Nativer und  wird dadurch als Mitglied einer kolonialen Armee zum Außenseiter. Lokalkolorit in Fülle, ein langes Glossar hilft, es ist aber längst nicht vollständig.  Der Erzähler setzt vor allem im ersten Teil sehr geschickt eine Collagetechnik ein, die die Handlung aus völlig unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und dadurch die Länge des Buches weniger spürbar macht. Manchmal geraten die Erzählabschnitte auch zu Häppchen, der Leser wird fast zum Zapper. Fast alle bekannten Textsorten  (Protokoll, Dialog, Brief, Lyrik) kommen zum Einsatz. Man spürt, dass der Autor seinen Stoff kennt und sehr gründlich bearbeitet hat.
Die Robert Bosch Stiftung hat ihm vermutlich ideale Arbeitsbedingungen ermöglicht, die nicht jedem Schriftsteller vergönnt sind. Manchmal wirkt  die Fabulierlust des  Autors etwas grenzwertig:
„… Wolke um Wolke, und er wurde hart wie ein Gewehrlauf…“ (S.37)
„während sie auf seinem pulsierenden Staunen sitzen blieb“ (S.154, das pulsierende Staunen wiederholt sich)
„Wenn seine Gesichtszüge sich in Bewegung setzen, verlassen sie den Hafen der Hässlichkeit“(S.383),
„…summten die Moskitos ein allnächtliches Stabat Mater über den ausgestreckten Leibern“ (S.279).

Wer mir den obigen Satz schlüssig erläutern kann, erhält von mir umgehend einen Vividus-Büchergutschein in Höhe von 10€.  Die Zeit läuft.

Die professionellen Rezensenten sind  voll des höchsten Lobes über dieses Buch. Auf dem Buchdeckel der Bäbber „Beststeller“. So  kann ich mich kurz fassen: Insgesamt ein lohnendes Buch, streckenweise sehr spannend, manchmal vielleicht auch ein bisschen Karl May für die so genannten gebildeteren Schichten, wobei ich nichts gegen Karl May gesagt haben möchte. Note: 3+ (ax) <<

>>Trotz Bestseller-Ankündigung: Mich hat der Weltensammler nicht gepackt, die Klappenversprechungen nicht eingelöst: Ich fand ihn weder packend, noch wirklich abenteuerlich. Der Protagonist Burton ist mir als Mensch fremd geblieben. Von seinen Gefühlen habe ich wenig erfahren. Sicherlich ist der Roman kunstfertig konstruiert: Verschiedenste Perspektiven, bei denen nicht immer sofort klar ist, wer eigentlich spricht oder erzählt, versetzte Zeitebenen, diverse Formen – alles halt, was den gemeinen Literaturkritiker halt so erfreut. Dem Lesevergnügen dient es nicht. Auch vermisst man sowohl sprachlichen als auch inhaltlichen Witz. Die Fülle landeskundlichen Details oder originalsprachlicher Zitate oder Begriffe wirkt eher ermüdend als authentisch.  Das Eintauchen in die fremde Kultur, die man sich erhofft hat, bleibt weitgehend aus. Am ehesten gelingt Trojanow dies noch im ersten Teil, der in Indien angesiedelt ist. In den Begegnungen mit den Kurtisanen finden sich sprachlich starke Passagen, trotz etwas bemüht wirkenden wörtlichen Satzwiederholungen bei den Vereinigungsszenen. Der Name Kundalini für seine indische Geliebte wirkt auf mich allerdings etwas vordergründig und platt, bezeichnet er doch nach der tantrischen  Lehre die in jedem Menschen innewohnende „göttliche kosmische Kraft“, die sich ruhend am unteren Ende der Wirbelsäule befindet.
Ob ich dieses Buch weiterempfehlen kann? – Nein. Note: 4+ (ün)<<

>> Statt imperialer Kolonialgeschichte drei Entdeckungsreisen des Leutnants der britischen Armee Richard Burton, die zeigen, was den modernen Bush-und-Blair-Kriegern auf allen Ebenen fehlt: Verständnis für die Andersartigkeit fremder Kulturen (lassen wir einmal  die Rückfälle Burtons über die „Primitivität“ afrikanischer Häuptlinge kurzfristig außer Acht). Doch die teils faszinierenden Einblicke in die Welt des Hinduismus, des Islam und der afrikanischen Naturreligionen muss sich der Leser hart verdienen: im Gestrüpp verschiedener Erzählperspektiven, Textsorten und überbordender Details und nur scheinbar an die Hand genommen durch ein fast unbrauchbares Glossar gerät zuweilen sogar Kundalini, die es im ersten Teil am wenigsten verdient hätte, aus den Augen. Pflichtlektüre für US and Royal Army trotz Note: 3 (ai)<<

 

 

Wie ein Stein im Geröll – Maria Barbal

Wie ein Stein im GeröllTransit Buchverlag 2007, 125 Seiten.

>>Maria Barbals Roman ist die persönliche Geschichte von Conxa, die als Mädchen in den mittellosen katalanischen Pyrenäen aufwächst und als junge Frau ein bescheidenes Familienglück erlebt, um es schließlich tragisch zu verlieren. Als alte Frau vergeht sie letztlich in der Gesichtslosigkeit der entfremdenden Großstadt. Eine Geschichte, die nicht nur biographische Züge Maria Barbals Verwandtschaft tragen soll, sondern auch das persönliche Schicksal der Protagonistin Conxa in die Wirren des spanischen Bürgerkriegs und damit in eine widersprüchliche historische Epoche der iberischen Halbinsel einbindet. Dreimal muss sie in ihrem Leben von dem wenigen, was sie ihr seelisches Eigentum nennt, Abschied nehmen. Erst wird unter der Armutslast die Dreizehnjährige von den Eltern an die Tante abgetreten. Dann verliert die glückliche Ehefrau durch die mörderische Willkür der falangistischen Milizen ihren Gatten. Im letzten Lebensabschnitt entgleitet der Großmutter schließlich ihre Heimat. In gewisser Weise wird Conxa somit auch zur Inkarnation einer politischen Landesgeschichte, da auch Katalonien lange Zeit leidend und auf der Suche nach Identität viele Verluste hat hinnehmen müssen. Während jedoch Katalonien und allen voran Barcelona in der Gegenwart erstarken, vergeht Conxa gerade in Barcelona in der Identitätslosigkeit.

Erzählt wird die Geschichte aus der unspektakulären Sicht der einfachen, aufrichtigen Frau vom Lande – eine Sicht, die durch ihre Schnörkellosigkeit geprägt ist, die keine Wortgewalt kennt und der die ursächlichen Zusammenhänge politischer und sozialer Verflechtungen weitgehend verschlossen bleiben. Literarisch konsequent folgen die Gedanken einer schlichten, chronologischen Gradlinigkeit und bleiben auf kurze, weitgehend nur einem Thema gewidmete zwei- bis dreiseitige Kapitel begrenzt, wodurch die facettenarme, aber klare Gedankenwelt der Ich-Erzählerin für den Leser noch stärker profiliert wird. Die tägliche Mühsal in den kargen Regionen Kataloniens lässt den Eltern keine Muße und kaum Brot für die eigenen sechs Kindern. Conxa wird der kinderlosen Tante übertragen, die eine Arbeitskraft gut gebrauchen kann. Von Daheim unerreichbar weit entfernt, versucht Conxa sich mit dem Gedanken zu trösten, dass sie der eigenen Familie etwas Gutes tue, da es nach ihrem Fortgehen einen Esser weniger an deren Tisch gebe. Wie ihre aufopfernd sich plagende (aber gefühlsarme) Mutter fällt auch Conxa als rechtschaffendes Mädel auf, das im neuen Verwandtschaftskreis bald ein verbindendes, respektbetontes Familiengefühl entwickelt. Die leibliche Familie wird Conxa erst nach fünf Jahren und nur beiläufig wiedersehen. Das Leben und Arbeiten folgt dem steten Kreis der Jahreszeiten, Conxa reift zur jugendlichen Frau und lernt auf einem Tanzabend den lebensfrohen Handwerker Jaume kennen. Nachdem Jaume Conxas Tante die Übertragung seiner laufenden Einkünfte zusagt, wird ihm gestattet Conxa zu ehelichen. Es folgen ausgefüllte Familienjahre mit drei Kindern bis der politische Freiheitsdrang von Jaume ihn zum Opfer der inzwischen etablierten Franco-Anhänger werden lässt. Während Conxa ihrem eng umschriebenen Biotop verhaftet bleibt und angstvoll auf Unbekanntes außerhalb ihres Horizontes reagiert, stellt Jaume den Gegenpol dazu dar. Zieht Conxa intuitiv die Sicherheit der Freiheit vor, so tritt Jaume begeistert vom republikanischen Gedankengut öffentlich als lokaler Friedensrichter auf und wird nach einem tödlichen Anschlag unbekannter Täter von den Faschisten ermordet. Conxa wird im Zuge der Sippenhaft zusammen mit der ältesten Tochter verschleppt, wochenlang interniert, erniedrigt und schließlich in ihr Dorf entlassen, welches ihr fortan mit Misstrauen begegnet. Ihr Lebenswille ist gebrochen, sie fühlt sich wie ein Stein im Geröll: leblos und nur weiterrollend, wenn der ganze Hang ins Rutschen gerät. Ihre drei Kinder heiraten, die beiden Töchter verlassen die Mutter, Tante und Onkel sterben, in Haus und Seele gefriert die Leere. Der mürrische Sohn Mateu bindet sich an eine empfindsame Frau, die Conxa mit Ablehnung begegnet. Der Generationenvertrag verpflichtet jedoch den Sohn, die alternde Mutter zu versorgen. Als ihm ein Pförtnerloggenposten im fernen Barcelona angeboten wird, ziehen sie in den Moloch Großstadt. Für die junge Generation ist es die lang ersehnte Flucht aus den entbehrungsreichen Härten des Landlebens, für die alte Conxa der letztmögliche Verlust. „Barcelona, das ist ein ferner Himmel und schreckhafte Sterne… Barcelona, das ist niemanden zu kennen…Barcelona, das ist Lärm ohne Worte und ein klebriges Schweigen“. Conxa schreibt ihre Lebensgeschichte aus der Einsamkeit eines siebenstöckigen Hochhauses mit dem Rückblick auf eine einfache, aber letztlich sinnstiftende Heimat, die es für sie nicht mehr gibt, so dass sie mit den Worten schließt: „Barcelona, das ist für mich etwas sehr Schönes. Die letzte Stufe vor dem Friedhof.“

Ein bewegt-stilles und in der Einfachheit berührendes Werk, das in Katalonien mit Recht in den Literaturkanon des Bildungssystems aufgenommen wurde.Note: 2+ (ur)<<

 

>>Arbeit, Liebe und Tod. Diese Dreifaltigkeit bestimmt das Leben von Conxa, der Protagonistin von „Wie ein Stein im Geröll“. Keine ungewöhnlichen Ingredienzien für einen Roman. Die Jahre vor der Zweiten Republik, der Bürgerkrieg, die Franco-Diktatur bilden den zeitlichen Rahmen der in den katalanischen Pyrenäen spielenden Handlung. Mit dreizehn Jahren muss Conxa ihre Familie verlassen, zieht zu Tante und Onkel; eine Esserin weniger am familiären Küchentisch. Sie ist tüchtig, wird zusehends akzeptiert, vielleicht auch weil sie sich fast immer an vorgegebene Strukturen anpasst. Eignet sich also nicht als Identifikationsfigur für den feministischen Stammtisch. Ganz anders Jaume, d i e Liebe ihres Lebens, mit dem sie drei Kinder hat. Er ist Wanderarbeiter, eine Ausnahme im Bauerndorf, kämpft für Veränderungen. Dabei ist er ein rücksichtsvoller Mensch. Wie sollen wir seinen Satz verstehen, „dass alles eigentlich ganz einfach wäre, wenn… Dann schaute er mich an und schwieg….“(Seite 43). Wenn, ja wenn? Conxa, die das Vertraute liebt, erlebt sein Politengagement eher als bedrohlich. Manchmal quälen sie düstere Vorahnungen. Jaume wird am Ende des Bürgerkrieges ermordet und verscharrt. Auch Conxa und ihre Töchter werden deportiert und monatelang interniert. Anrührend wird der nie überwundene Schmerz (weil durch die politischen Verhältnisse tabuisiert) über den Verlust des Partners beschrieben. Als ihr Sohn Mateu den Hof aufgibt und in Barcelona als Pförtner arbeitet, zieht sie mit. „Barcelona, das ist ein ferner Himmel und schreckhafte Sterne“. Conxa kennt Barcelona nur aus der Sicht der Pförtnerloge und als die „letzte Stufe vor dem Friedhof“. Davon gibt es dort einige sehr schöne (für temporäre Besucher natürlich).Es gibt viele Barcelonas. Meines sieht ganz anders aus. Als „Stadt der Wunder“ hat Eduardo Mendoza diese Stadt beschrieben.

Conxa ist keine typische Romanheldin. Aber vielleicht weiß sie intuitiv mehr als viele moderne Menschen von der Schicksalhaftigkeit menschlicher Existenz, von den Illusionen über die Spielräume der sogenannten Lebensentwürfe, der vorgeblichen Autonomie. Nur einmal spielt Conxa Schicksal. Bei der Suche nach einer Frau für ihren Sohn wird sie aktiver als gewöhnlich. Das Ergebnis möge die Leserin/ der Leser selbst beurteilen.

 Kein politischer Roman, kein sozialer Roman, obwohl ein subtiles Soziogramm des dörflichen Lebens gezeichnet wird. Wir erfahren viel über das harte Leben in Gebirgsdörfern, die sozialen Strukturen und Kontraste, die Rolle einer konservativ bis reaktionären Kirche in Gestalt des Dorfpfarrers. Die spanische Sprache taucht nur in negativen Zusammenhängen auf: In der Schule oder aus dem Mund der Franco-Soldaten. Daneben viel Natur. Allein die vielen Namen von Pflanzen und Tieren. Ein stellenweise anrührender Roman, ein Gebirgsroman ohne katalanische Heidi, ein Roman, der nicht geschrieben wurde um verfilmt zu werden.

Unprätentiös und ohne literarische Vexier-oder Collagespielchen, ein Roman, der dem wie hieß er doch gleich Literaturpapst vermutlich kaum gefallen hätte, ein guter Roman also. Note: 1/2 (ax)<<

 

 

Drachenläufer – Khaled Hosseini

DrachenläuferBerliner Taschenbuch Verlag 2003,  376 Seiten.

>> In der Tradition großartiger orientalischer Geschich-tenerzähler entfaltet der Ich-Erzähler  seine anrührende Vater-Söhne Geschichte, die zeigt, wie stark Menschen durch kulturelle Bindungen geprägt, vor allem beengt, werden. Neben der tragischen Verstrickung Amirs und Babas in Schuld und Sühne vermittelt dieses Familienepos auch Einblicke in die Geschichte Afgha-nistans vor, während und nach der Herrschaft der Taliban, die mehr über die Hinter- und Abgründe dieser Gesellschaft offenbaren als die mediale Informations- und Nachrichtenschwemme vom Hindukusch, wo angeblich unsere Demokratie verteidigt wird. Dass Khaled Hosseini vor allem mit dem Show-down Auftritt des sonnenbebrillten Schlächters von Kabul Assef (Zugeständnis an cineastische „Bad-man-Dramaturgie“) und mit der abschließenden Adoptionsgeschichte zuweilen erzählerisch und inhaltlich ins Straucheln gerät (Gefühlskitsch), sei ihm vor allem deshalb verziehen, weil der offene Drachenläuferschluss zum Höhenflug des Romananfangs zurückfindet. Note : 1/2 (ai) <<

>> Khaled Hosseini gelingt es in seinem brilliant erzählten Drachenläufer vom ersten Augenblick an, den Leser für seine mit viel Liebe und psychologischem Einfühlungs-vermögen gestalteten Figuren zu interessieren und ihn fesseln. Für den 12- jährigen Amir im Kabul der 70-iger Jahre, der uns seine bewegende Geschichte um Freundschaft und Verrat, um Liebe und Zurückweisung, um Schuld und Sühne  rückblickend als Erwachsener erzählt. Für Baba, seinen charismatischen (Über-)Vater, um dessen Liebe und Anerkennung er Zeit seines Lebens kämpft. Für Ali und dessen Sohn Hassan,  Diener des Hauses, aber schicksalhaft mit Baba verbunden. Amir und Hassan, gleichaltrig, wachsen gemeinsam auf. Sie verbindet eine innige, wenn doch auch asymmetrische,  von absoluter Loyalität auf der einen und von Rivalität auf der anderen Seite geprägte Beziehung.
Wie dieses Beziehungsgeflecht auf dem Hintergrund des Schicksals Afghanistans vor und während der Taliban Herrschaft  entwickelt wird, ist schon meisterhaft und sehr spannend. Da verzeiht man auch schon mal die eine oder andere Annäherung an die Grenze zum Melodram. Note: 1/2 (ün) <<

>> Sieben Millionen verkaufte Exemplare, spricht das nun eher für oder eher gegen ein Buch? Natürlich, Verkaufszahlen sind primär kein Kriterium literarischer Wertung, aber sie lassen mich auch nicht ganz unbeeindruckt schon bevor ich mit dem Lesen beginne.
Dann geht alles ganz schnell. Schon drei Sätze auf der ersten Seite des Buches, eine fast programmatische Erklärung, nehmen mich für den Autor ein: „Viel Zeit ist inzwischen vergangen, aber das, was man über die Vergangenheit sagt, dass man sie begraben kann, stimmt nicht. So viel weiß ich nun. Die Vergangenheit wühlt sich mit ihren Krallen immer wieder hervor.“
Keine Inhaltsangabe – nur so viel: Kahled Hosseini hat viel in sein Buch gepackt. Leben und Sterben, Treue und Verrat, Zärtliches und Grausames und vom letzteren eine spürbare Prise zuviel. Ohne in die Ethnokitschfalle zu tappen, erzählt  uns der Autor viel Interessantes über Afghanistan und seine Menschen. Dabei wird deutlich, dass das Land  und seine Bewohner schon bessere Zeiten gesehen haben. Neu war für mich die problematische Beziehung der unterschiedlichen Ethnien. Hierzulande würde man von Rassismus sprechen. Besonders gelungen und gut ausgearbeitet scheint mir der erste Teil zu sein, in dem die komplizierte Beziehung der beiden „Milchbrüder“ (eine Amme, ein Vater) Amir und Hassan dargestellt wird. Bewegend die unglückliche Vater-Sohn-Beziehung. Hassan im immerwährenden Bemühen um die Zuwendung des Vaters, dem der Sohn alles andere unterordnet. So wird er schuldig. Aber es fehlt auch nicht die frohe Botschaft: „Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen.“ Amir versucht es. Erfolgreich? Problematisch scheint es mir, den Talibanismus als individual-psychologisches Problem sadistisch veranlagter Menschen zu zeichnen, wie dies im Fall von Assef geschieht.
Anfang 2008 wird der Film in die Kinos kommen. Das überrascht nicht. Man darf gespannt sein,  ob das Drehbuch Vergewaltigung, Steinigung und ähnliches in den Mittelpunkt stellen wird. Aber schrieb nicht kürzlich ein bekannter Filmkritiker, schlechte Literaturverfilmungen seien vielleicht oft die besten. Na dann. Note: 1/2 (ax) <<

>>Fast 40 Jahre blickt der Ich-Erzähler in die Vergangenheit zurück, findet und verliert sich selbst in seelischen Strudeln, auf ethnisch-religiösen Sandbänken und in politisch-fundamentalistischen Schlagwettern, die seine Lebensbarkasse von Afghanistan nach Amerika abtreiben lassen. Es ist die fesselnde Geschichte eines kleinen Jungen, der seinen besten Kameraden verrät, jahrzehntelang Schuld verdrängt, bereut und als Erwachsener dramatische Wiedergutmachung wider die Vernunft begeht. Es ist die Geschichte eines weichen Buben, der um die Anerkennung eines harten Vaters buhlt. Es ist auch die Geschichte eines Landes, das beim Sprint durch die politischen Zeitalter zerfetzt wird und letztlich die Geschichte traditioneller Werte, deren Sinnhaftigkeit heute befremdet.
Amir ist der Sohn eines wohlhabenden, lebenshungrigen Witwers im Kabul der siebziger Jahre. Nachdem die bewunderte Mutter verstarb, leben Vater Baba und Sohn allein mit dem Diener Ali und dessen Sohn Hassan auf dem innerstädtischen Anwesen. So wie Baba mit Hassan aufwuchs, nachdem sein Vater den verwaisten Sohn einer verarmten Hazara-Familie aufnahm, so wächst auch Amir mit dem mutterlosen Hassan auf. Engste Kameradschaft wird sie verbinden, auch wenn Amirs intuitive Zugehörigkeit zu den elitären sunnitischen Paschtunen und Hassans Wurzeln bei den verachteten schiitischen Hazara sie nie gleichwertige Freunde werden lässt. Diener und Herr sind ein ungleiches Paar: während der eine die Schule besucht, wäscht der andere ihm die Wäsche. Und dennoch sind sie ein Paar, welches Blutsbrüdern gleich, unzertrennlich durch die Kindheit tobt.

Die schicksalsträchtige Wende kommt mit dem Tag des Drachenkampfs. Alljährlich findet ein Wettkampf mit selbstgebauten Drachen statt, bei dem es Ziel ist, mit Hilfe Glassplitter-besetzter Drachenschnüre benachbarte Drachenschnüre in der Luft zu zerschneiden. Wer die abstürzenden Drachen findet, darf sie als Trophäe behalten. Der größte Triumph gehört dem Sieger am Himmel und dem Finder des letzten abstürzenden Drachen. Dieses Jahr gelingt es tatsächlich dem 13-jährigen Amir den Sieg nach Hause zu fliegen, während Hassan sogar noch den abstürzenden Konkurrenten erläuft. Hassan ist der unerreichte Drachenläufer, der einem unbekannten Instinkt folgend die Absturzstelle im Gassengeflecht Kabuls im voraus erahnt. Auf dem Heimweg passiert die schicksalhafte Tragödie, als der unerschrockene Hassan von einer erbarmungslosen Straßengang gequält und vergewaltigt wird. Amir stößt zufällig zu der Szene, wähnt sich unbeobachtet und hilft aus Angst seinem Kameraden nicht. Angefüllt von bedingungsloser Pflichterfüllung überlässt Hassan später den Beutedrachen Amir, wodurch Amir als Doppelsieger endlich die schmerzlich entbehrte Anerkennung des Vaters erfährt.

Zerfressen von Selbstvorwürfen, aber gefangen im inneren Schuldkokon, betreibt Amir die Vertreibung von Hassan mit der Erwartung dem täglichen Anblick seiner Schuld zu entkommen. Amir täuscht schließlich einen Diebstahl vor. Aus unerschütterlicher Loyalität gesteht Hassan, Geburtstagsgeschenke von Amir gestohlen zu haben, obwohl Amir es selbst war, der sie unter Hassans Bett versteckte. In der Folge verlassen Vater Ali und sein Sohn für immer das Haus, ohne dass es je zu einer klärenden Aussprache kommen wird. Ein kleiner Verrat nährt den Boden für den großen, der ihre Freundschaft für immer zerbrechen wird. Auch das Land zerbricht, die Taliban ergreifen die Macht und rufen zur Verurteilung Ungläubiger auf. Für den gottlosen Baba bleibt nur die Flucht ins benachbarte Pakistan. In einer halsbrecherischen, mehrmonatigen Odyssee geleitet und verraten von Menschenschmugglern gelangen Vater und Sohn unter quälenden Bedingungen schließlich in die USA. Selbstmorde, Verrat und Verzweiflung säumen den Weg.

Während das schnelllebige, vergangenheitslose Amerika für Amir den Raum des Vergessens bietet, findet der in der Heimat lebenshungrige Baba keinen Boden unter den Füssen, auch wenn er sich nicht zu schade ist, als Automechaniker einen mageren Lebensunterhalt zu verdienen. Nach wenigen Jahren schon wird er einem Tumor erliegen, dessen Behandlung sein Stolz nicht zulässt. Amir – inzwischen mit einer Afghanin kinderlos verheiratet – ist nach einem Creative Writing Studium zum Schriftsteller avanciert. Zwanzig Jahre nach der Flucht zerrt ihn ein Anruf eines alten Freundes in die Vergangenheit zurück: es sei der letzte Moment, eine alte Schuld zu sühnen.

Amir erfährt, dass Hassan, gezeugt von seinem Vater mit der Frau von Hassans Vater, sein Halbbruder war. Zwei Jahrzehnte später verheiratet sich Hassan. Das Paar bekommt einen Sohn Suhrab, der auch verwaist als beide Eltern als minderwertig behandelte Harzara von den Taliban erschossen werden. Der alte Freund drängt nun Amir, die alte auch ihm bekannte Schuld mit der Rettung Suhrabs wieder gut zu machen. Trotz Entsetzen über die Ruchlosigkeit seines geachteten Vaters, überwältigt ihn schließlich die alte Schuld und neu erkannte Blutsverbundenheit, so dass er in das mörderische Afghanistan aufbricht. Es folgt eine beispiellose, fast surrealistische Höllenfahrt begleitet von Lynchjustiz, Steinigungen, Kindesmisshandlungen, Perversionen, grauenhaftem Elend und religiös-fanatischen Entartungen. Amir befreit Suhrab schließlich aus den Fängen eben jenes Assefs, der bereits Hassan vergewaltigte, wobei Amir quasi als Sühneleistung schwere Verletzungen provoziert und erleidet. Letztlich gelingt die gemeinsame Flucht ins pakistanische Ausland. Als die Einreise in die USA zum kafkaesken, hoffnungslosen Akt zu werden droht, versucht Suhrab sich das Leben zu nehmen. Er wird gerettet, man gibt ihm das Leben zurück, das er jedoch nicht wirklich annimmt. In den USA angekommen wird das kinderlose Paar endlich zur Familie, doch hält das afghanische Trauma Suhrab in einer autistischen Umklammerung. Erst als Amir Suhrab zu einem Drachenkampf mitnimmt, wird ein Lächeln sichtbar.

Ein geradliniger Erzählstrang zieht sich durch den Roman, der auf parallele und invertierte Handlungsstränge weitgehend verzichtet, so wie auch die Sprache eher schlicht und schnörkellos die Geschehnisse an einander reiht. Der Plot wirkt stellenweise lehrbuchhaft konstruiert, zu viele Schleifen schließen sich vermeintlich zufällig. So kehrt die leichtlebige Mutter von Hassan, die ihren Sohn nie angenommen hatte, als alte, reumütige Frau eben rechtzeitig zurück, um Hassans Sohn Suhrab mit auf die Welt zu bringen. So vergeht sich der zum offiziellen Henker Kabuls aufgestiegene Assef, der schon Hassan vergewaltigte auch an seinem Sohn Suhrab. So schießt Suhrab mit einer Schleuder Assef treffsicher eine Auge aus um damit sich und Amir aus seinen Mörderklauen zu befreien wie auch Hassan schon Assef mit einer Schleuder bedrohte. So finden der Ersatzvater Amir und Suhrab durch einen Drachenkampfsieg zueinander, wie auch Amir das Herz seines Vaters durch einen Drachenkampsieg für sich einnehmen konnte. Letztlich gibt es befremdliche Ramboszenen, die eher für das Medium Kinofilm geschrieben scheinen wie etwa die Knochenbrecher-Sonate, die Assefs Schlagring auf Amirs Skelettapparat intoniert.

Um so erstaunlicher, dass trotz dieser Dunkelschatten der Roman so licht und ergreifend wirkt, dass man mit einem geradezu interkulturellen Angefülltsein und literarisch bereichert die letzte Buchseite schließt. Note: 2+(ur)<<

Stadt der Verlierer – Lilian Faschinger

Stadt der VerliererHanser 2007,  316 Seiten.

>> Lilian Faschinger zeichnet in „Stadt der Verlierer“ ein Panoptikum schräger Vögel, sie karikiert Menschen (Verlierer?) anstatt sie zu charakterisieren und mit Leben zu füllen.
Wenn der Plot nicht gar so bemüht und konstruiert daherkäme, könnte man den Roman zum Drehbuch drehen. So werden sich allenfalls die amüsieren, die schon tief im Sommerloch hängen.  Note : 3/4 (ax)<<

 >> Lilian Faschinger entwickelt im ersten Teil von „Stadt der Verlierer“  einen krimihaften Plot mit überschaubarem Personal, der neugierig macht. Die beabsichtigte Groteske, die sie um den scheinbaren Verlierer Matthias herum gestaltet, misslingt allerdings gründlich. Vielen Figuren fehlt die Kontur und die ewigen pseudotiefsinnigen Springsteen Texte nerven auf Dauer gewaltig.
Im zweiten Teil (Faschinger nimmt diese unerfindliche Unterteilung selbst vor) steigt zwar die Spannung, die Dialoge werden aber immer hölzerner und geraten schließlich dermaßen aus den Fugen, dass sie wohl nicht mal mehr für eine Vorabend Telenovela ausreichen würden. Schade! Note: 4 (ün) <<

>>Im Gewand eines literarischen Kriminalromans zeichnet Faschinger das Psychogramm des jungen Mannes Matthias Karner, dessen umfassend entwertende Grundhaltung nur den Konsum weiblicher Charaktere kennt. Mit einer unverstandenen Anziehung sammelt er Frauen, die sich ihm hinwerfen, auch wenn oder vielleicht gerade weil sie letztlich verbraucht werden. „Town full of losers“ (Bruce Springsteen): Frauen, denen eine ehrwürdige Selbstbestimmung abhanden gekommen ist und ein Mann, der partnerschafts- und ich-entleert durch das Leben mäandert. Zu diesem geradezu nihilistischen Grundzug gesellt sich im Laufe des Romans das krimi -treibende Motiv in Form der Ehrverletzung und des daraus erwachsenen verselbstständigten Racheantriebs. Doch bis dahin sind es noch 200 Seiten.

 Die Anziehungskraft von Matthias K. scheint auch für (fast) Tote zu gelten. Die versuchte Selbstmörderin Vera Suttner, von Matthias K. halbtot gefunden und gerettet, gerät ebenso in seinen Bann. Wieder zum Leben auferstanden, gebraucht sie ihn jedoch gleichermaßen und bezahlt dies am Ende des Romans, wenn auch aus einem anderen Grund, mit dem Leben. Der Mörder ist ihr Retter Matthias K.

Die für den Romanverlauf zentrale Parallelfigur, die Täter und Opfer schicksalhaft zusammenführt, ist die autodidaktische Privatdetektivin Emma Novak. Sie schreibt ihre eigene Geschichte in der Geschichte, ohne dass die Autorin dafür dramaturgische Kreuzungspunkte mit Matthias K. bemüht. Im formalen Sinne ist auch sie eine Verliererin, die ihre Universitätsanstellung als Historikerin mit Frauen-emanzipatorischer Interpretation des Altertums verlor. Im Gegensatz zu vielen anderen weiblichen Nebendarstellerinnen etwa aus der Kunstszene, dem wohlhabenden Mittelstand oder der esoterischen Nachhut, bleibt sie jedoch eine unbefleckte, unaufdringlich klar denkende Frauengestalt, die auf dem Sympathiekonto eher schwarze Zahlen schreibt. Wie an so vielen Stellen in dem Roman kann sich L. Faschinger auch an dieser Stelle erzählerische Schnörkel nicht verkneifen. So lässt sie Emma mit ihrer verhaltenden Emotionalität im Fahrstuhl den erotischen Anflutungen einer Gerichtsmedizinerin erliegen, nachdem die Medizinerin mit einem ermüdenden, aber mit Landwein flüssig gehaltenen Monolog über italienische Gourmetrezepturen und chirurgische Leichenanleitungen ihre Interessenverflechtungen ausbreitete. Natürlich hat Emma noch mehr Unruhe in ihrem Leben, wozu auch ihr halberwachsener Sohn gehört, der zur resoluten Oma zieht, um sich einer Reinkarnationstherapie auszusetzen. Durch Entschlüsselung vergangener Leben glaubt die alte Dame eine (nicht erkennbare) Aquaphobie des Jungen heilen zu müssen.

Der kriminalistische Faden des Romans entspringt dem Verlangen der Greta Mautner nach 28 Jahren ihren Sohn wieder sehen zu wollen. Auf Druck ihrer Eltern musste sie als 16-jährige Mutter ihren Sohn zur Adoption freigeben. Emma wird mit der Suche beauftragt und kann über eine schier endlose Abfolge unglücklicher Liebschaften tatsächlich Matthias K. ausfindig machen, so dass es zur Mutter-Sohn Begegnung kommt. Der Faden wird an dieser Stelle neu eingefärbt, als Matthias K. erfährt, dass er einen Zwillingsbruder hat und seine Mutter diesen behalten durfte. Schockiert empfindet er sich als Verlierer, dessen Verstoßenensein umso schwerer wiegt, da sein Bruder bevorzugt wurde. Die dramaturgischen Fäden werden an dieser Stelle zu einem Geflecht mit überraschenden (und nicht immer überzeugenden) Muster. Bei seinen Nachforschungen stößt Matthias K. nicht nur auf einen ungemein erfolgreichen Bruder als Stararchitekten, sondern auch auf den Umstand, dass Vera Suttner, die Matthias K. rettete und mit der er inzwischen genitale Gemeinsamkeiten genießt, die Frau seines Bruders ist. Je tiefer Matthias K. in die Erfolgsgeschichte seines Bruders eindringt, desto größer wird seine Ablehnung, die sich schleichend zu einer Form von Rache am Schicksal verdichtet. So zerstört er bei einem Einbruch in die Villa seines Bruders dessen Cello oder liquidiert seine geliebte Katze. Als Vera hartnäckig jede Verbindung mit seinem Bruder leugnet, wird sie in zunehmenden Maße zum Ersatzobjekt und – opfer, in dem Matthias K.s Destruktion letztlich kumuliert. Natürlich vergewaltigt Matthias am Ende Vera Suttner, ersticht sie dabei natürlich und schläft natürlich auf der blutüberströmten Leiche ein. Wenn das Blut von diesem faden Romangewebe abgetropft ist, entdeckt der Leser eine interessante Knotenführung des Kriminalromans. Da Matthias K. und sein Bruder eineiige Zwillinge sind, ist ihr genetisches Material völlig identisch. Da niemand von der Existenz eines Zwillingsbruders weiß, können die reichhaltigen Blut- und Samenspuren den Verdacht nur auf den Architektenbruder lenken. Die doppelte Rache an Bruder und Ehefrau scheint genial inszeniert. Auffällig bleibt, dass es überhaupt keine Fingerabdrücke gibt. Wohl wissend, dass diese auch zwischen eineiigen Zwillingen stets verschieden sind, hatte Matthias K. sie peinlich genau verwischt. Doch sowohl Emma wie auch seine Mutter ahnen den Zusammenhang, so dass Matthias K. schließlich festgesetzt wird.

Ein leicht lesbarer Roman mit leicht ansteigender Spannung, angereichert mit humorvoll-originellen Schleifen und ebenso befremdlichen Skurrilitäten, die auch mal literarische Fettnäpfen aufspritzen lassen. Anekdoten besetztes Panoptikum, aber sicher keine Gesellschaftskritik der Kleinstadt Wien, wie der Titel „Stadt der Verlierer“ suggerieren mag. Note: 2– (ur) <<

>> Dass wir  eine lebensmüde Beinaheleiche namens Vera Suttner im Lainzer Tiergarten und ihren zufälligen 30 jährigen Wiener Lebensretter Matthias Karner zum Romanbeginn  am Romanende als echte Leiche und  Mörder in einer Wiener Nobelvilla wiederfinden,  dafür ist eigentlich Greta Mautner verantwortlich, die als frühgebärende 16-Jährige einen ihrer Zwillingssöhne, nämlich Matthias zur Adoption freigegeben hat. Ihre späte Suche nach dem verlorenen Sohn mit Hilfe des Detektivbüros Hammerl&Novak fällt mit dem Zeitpunkt zusammen, zu dem sich zwischen dem vorwiegend von Frauen ausgehaltenen aber beziehungsgestörten Adoptivsohn Matthias und der wiedergenesenen Beihnahe-leiche Vera eine Beziehung entwickelt, die sein Leben und auch sein alle Frauen sind Hurenbild verändert. Die Suche nach Veras wahrer Identität wird in dem Augenblick zur Suche nach der eigenen Identität, als der wiedergefundene Sohn aus dem Munde seiner Mutter von der Existenz eines Zwillingsbruders erfährt. Nicht dass dieser als Stararchitekt und Winnertyp den gesellschaftlichen Gegenpol zum vagabundierenden Loser und Bruce Springsteen Verschnitt Matthias Karrer bildet, leitet das abschließende Eifersuchtsdrama ein, nein,  Faschinger muss uns den Klon erst noch als Veras Ehemann präsentieren, um die Katastrophe zu komplettieren. Das ruft nach Rache, zumal dann, wenn der Rächer glaubt dem Zwillingsbruder sein Sperma in die Schuhe schieben zu können und so wird Vera, die sich von Matthias zurückzieht ohne die Zwillingsgeschichte zu kennen, in einem wahren Blutbad zum Ersatzopfer. Als kriminaltechnisch entscheidend erweist sich zum Schluss dann aber doch die Erkenntnis, dass Zwillingsbrüder zwar dieselbe DNS, nicht aber dieselben Fingerabdrücke haben. Dieser Teil einer spannenden, wenn auch reichlich konstruierten Geschichte wird uns sowohl aus der Ich-Perspektive des Protagonisten wie aus der Perspektive eines neutralen Erzählers vermittelt, dessen zusätzliche Aufgabe darin besteht uns die reichlich mit karikaturesken Elementen versehene Geschichte des  Detektivbüros Dr. Novak & Hammerl zu erzählen. Vor allem das familiäre Umfeld der an einer akademischen Karriere gescheiterten Emma Novak (Eine Promotion über Seherinnen im alten Byzanz hat auch in Wien geringen Gebrauchswert) erweist sich in Sachen Groteske als ergiebig und unterhaltsam. Was mit der Figur der Mutter als Reinkarnationstherapeutin, die den Karmaknoten des Enkels aufzulösen sucht, beginnt, mit dem reichlich senilen Vater, der als ewig Gestriger mit  einem selbstgebastelten U-Boot Modell auf der Donau sein Nazitrauma verarbeitet , seine familiäre Fortsetzung findet, erfährt mit der Figur von Dr. Sissi Fux, einer Freundin Emma Novak ihren schrägen Höhepunkt. Hier tischt Faschinger im doppelten Sinne auf: Die Gerichtsmedizinerin Fux erweist sich nicht nur am Seziertisch, sondern auch am Küchentisch als wahre Könnerin. Dass Emma Novak das Raffinement der italienischen Küche mehr zu schätzen vermag als die lesbischen Verführungsrituale ihrer Gastgeberin mildert nicht deren Kochkünste.

Mit Emmas Detektivpartner Micke und seinem Umfeld gerät die Abteilung Groteske in Faschiners Roman fast ausschließlich zum Klamauk, der seinen Höhepunkt in dem skurrilen Happy-End des Romans, der Heirat Mickes mit seiner türkischen Freundin Asli, findet. In dieser Geschichte ist Platz für alles: Allergien, Diät, Qigong, Islam, Hinduatmung, Aktionsanalyse von Wilhelm Reich, Türkenklischee bis hin zu Otto Mühls utopischem Soziallabor – und gerade deshalb ist dieser Teil der Geschichte der schlechteste.

Was die Auseinandersetzung der beiden Erzähler  mit der Stadt Wien als gesellschaftlicher Hintergrundsfolie des Geschehens angeht (Für Matthias Karner ist „die Stadt ein Fall für die Neutronenbombe“!!), ist der Roman wenig ergiebig. Die wahren Verlierer der Stadt jedenfalls bleiben namenlos. Note: 3 (ai) <<

Terrorist – John Updike

Rowohlt 2006 |  397 Seiten.

>>Vermutlich unter dem zutiefst bedrohlichen Eindruck anhaltender Terroranschläge als Ausdruck eines religiös motivierten culture clash veröffentlicht Updike 2006 diesen Roman, der versucht die Terrorist-Werdung eines jungen US-Amerikaners muslimischen Glaubens zu thematisieren. In London waren ein Jahr zuvor bei vier gleichzeitigen, islamistischen Bombenanschlägen 50 Menschen getötet und 700 verletzt worden. 2004 verübten islamistische Terroristen zehn abgestimmte Bombenexplosionen mit 193 Toten im Madrider Bahnverkehr. Und auch die koordinierten Anschläge auf das Pentagon und WorldTrade Center mit fast 3000 Opfern lagen erst fünf Jahre zurück. Updike verzichtet in seinem Werk weitgehend auf eine wertende Gegenüberstellung von Glaubensrichtungen. Stattdessen hebt er die politkriminelle Problematik auf eine individuell-soziologische. Sein unbescholtener Hauptprotagonist Ahmed gerät unter den Einfluss eines demagogischen Eiferers. Im letzten Moment vor einem geplanten Terrorakt, bahnen sich Zweifel in dem jungen Mann ihren Weg und verhindern die Katastrophe. Kann der Autor überzeugen? Kaum.

Der Inhalt. Ahmeds Geschichte bewegt sich zwischen „Diese Teufel wollen mir meinen Gott nehmen“ (S.7) und „Diese Teufel haben mir meinen Gott genommen“ (S. 397). Ahmed ist tiefgläubiger Muslim, einsam aber gefestigt inmitten seiner High School Kommilitonen, deren Oberflächlichkeit, Moralarmut und Konsumabhängigkeit ihn zunehmend abstoßen. Seine biedere Frömmigkeit, sein Anstand und sein zurückgezogenes Wesen provozieren Hohn und tätliche Angriffe durch die Klassenkameraden. Nur die gleichaltrige Joryleen fühlt sich mit ihm verbunden, ohne dass sich zwischen ihnen eine tiefergehende Freundschaft entwickelt. Obwohl Ahmed ihre anzüglichen Annäherungen nicht schätzt, bedeutet sie ihm so viel, dass er ihr in die Kirche, dem Ort des falschen Glaubens, folgt, um sie im Kirchenchor zu erleben. Auch die freundliche Aufnahme in der Gemeinde – symbolhaft dargestellt durch ein kleines Mädchen, das an ihn gelehnt einschläft – kann seine abgrundtiefe Ablehnung des teuflischen Irrglaubens nicht beeinflussen.

Früh vom Vater verlassen, wächst Ahmed mit seiner Mutter allein auf. Als Schwesternhelferin verdient sie den mageren Unterhalt. Als expressive Malerin erntet sie keine Anerkennung. Als Verlassene verfängt sie sich immer wieder in den Armen fremder Männer. Ihr Sohn verachtet sie dafür. Dennoch verbietet sein Respekt vor der Mutter, sie offen zu kritisieren. Halt findet Ahmed stattdessen bei Scheich Rashid, dessen einziger Schüler er über viele Jahre ist. In fast täglichen Sitzungen prägt der Imam den suchenden Geist mit Koransuren und inbrünstigen Interpretationen. Die Absicht, das historische Weltbild in die Gegenwart zu zwingen.

Literarischer Gegenspieler von Ahmed ist der Beratungslehrer Jack Levy, der es nicht hinnehmen will, dass Ahmeds intellektuelle Fähigkeiten der Glaubensdoktrin zum Opfer fallen sollen. Der Imam hatte weiterführende Ausbildungsstätten als Hort des Unglaubens verdammt. Levy selbst ist ein dem Menschen zugewandter Charakter. Väterlich, weise, aber bestimmt. Andererseits haben Jahrzehnte vergeblicher Bildungsarbeit seine Kräfte aufgezehrt: Jugendliche, die desinteressiert durch das Leben driften; ein Bildungssystem, das keine Orientierung bietet; eine Ehefrau, die aus falsch verstandener Verantwortung für seine beruflichen Enttäuschungen zu grenzenloser Fettleibigkeit neigt. Ein fehlender Glaube an sich oder eine übergeordnete Fügung geben Levy das Gefühl, ein zu dünnes Leben zu führen. Symbolhaft schwankt seine kastrierte Katze durch das Bild. Wohlbehütet, Gefangene eines geschlossenen Systems. Nachts von Ängsten ums Mobiliar gehetzt. Von nichts gefährdet, außer einer inneren Leere.

Ahmed schließt die Schule ab, macht nach Plan des Imam den LKW-Führerschein und wird an ein Gebrauchtmöbelgeschäft arabischer Auswanderer vermittelt. Langatmig wird der Leser durch die unspektakulären Kleinstädte New Jerseys geführt. Man beobachtet die wiederholte Auslieferung angeschlagener Möbel. Wenig überzeugend beschreibt der Autor die von Ahmed wahrgenommene inhaltsarme, wert-lose US-amerikanische Lebensart. Ohne nachvollziehbare Begründungen entpuppen sich später die kleinbürgerlichen Möbelhändler als Terrorsympathisanten, die Geld, Sprengstoffchemikalien und einen präparierten LKW besorgen. Ahmed wird reibungslos als Selbstmordattentäter rekrutiert. Er soll im Hudson River Tunnel zwischen Staten Island und Manhattan während des Berufsverkehrs das Inferno auslösen.

Ein kleiner kriminaltechnischer Spannungsbogen ohne Überzeugungskraft folgt am Schluss. Der Firmenmitarbeiter Charly war CIA-Provokateur und hatte den geplanten Anschlag zum Jahrestag des Angriffs auf das World Trade Center vorangetrieben. Er wurde jedoch von Islamisten zu früh enttarnt und geköpft. Entsprechend verlieren sich die Spuren für das CIA beim Möbelhaus, so dass Ahmed nicht dingfest gemacht werden kann. Bei der Terrorfahrt steht überraschend Levy gestikulierend am Wegesrand. Ahmed nimmt ihn prompt auf. Der erste Schritt zurück. Besänftigend wirken auch winkende Kinder im PKW vor Ahmeds LKW. Er zündet den riesigen Sprengsatz nicht. Die Vernunft siegt im literarischen Alltag. Ende.

Bis zu diesem Ende rutscht der Leser auf allzu plakativ-kitschigem Matsch dahin. Dieser beinhaltet willkürlich zusammengeschaufelte Komponenten. Beispiele: Levy, der vermeintlich Integere teilt mit Ahmeds Mutter ein reges Geschlechtsleben, das in keinem Bezug zu Ahmeds Entwicklung steht. Joryleen wird vor Ahmeds geplanter Todesfahrt von Charly als Prostituierte gebucht, um Ahmed schon auf Erden auf die Begegnung mit dem Heer himmlischer Jungfrauen einzustimmen. Levy steht zufällig genau an der vielspurigen Ausfallstraße vor dem Tunnel, als Ahmed einfahren will. Ahmed lässt ihn prompt einsteigen und sich kurzerhand überzeugen, direkt zur Polizei zu fahren, um sich selbst anzuzeigen. Das wirkt fast albern. Insgesamt ein äußerst bemühter Plot, ermüdende Textpassagen, die das magere Geschehen nicht voranbringen. Dazwischen Plattitüden und Frivolitäten („ich habe deine Mutter gebumst“). Erstaunlich auch, dass trotz der breiten Darstellung von Ahmed, der Typus blass und statisch bleibt. Die Entwicklung zum Selbstmordattentäter ist kaum nachvollziehbar. Einzig überzeugend und literarisch getroffen erscheint die Gestalt Levy. Ansatzweise auch erkennbar ist die Gesellschaftskritik, die ausnahmslos alle Gestalten dieser Episode als Versager, Verlierer, Entrückte, Gesichtslose oder Täter zeigt. Teils werden die Charakterzüge in einer direkten oder indirekten Kausalität zur Gesellschaft gruppiert. Doch selbst bei den beiden Antipoden wird kein überzeugender Kontrast aufgebaut: auf der einen Seite der atheistische Jude Levy mit einem Glauben an das Menschliche nicht aber an Gott. Auf der anderen Seiter der Muslim Ahmed mit fanatischem Gottesglaube aber ohne Empfinden für das Menschliche.

Fazit: Ein eindrucksloser Roman mit zu wenigen sprachlichen Höhepunkten.

Note: 3/4 (ur)  <<

Tag und Nacht und auch im Sommer – Frank McCourt

Luchterhand 2005 – 331 Seiten

            Nach dem Weltbestseller Die Asche meiner Mutter nun eine beruflich-psychologische Aufarbeitung. In einem autobiographischen Kurs führt FMcC durch seine pädagogisch geprägten Lebensabschnitte. Der Autor spricht als fühlender Lehrer von mehr als 10.000 SchülerInnen in über 30 Jahren: Tag und Nacht und auch im Sommer. Von den Abgründen und Selbstzweifeln, den Fronten mit der vorgesetzten Bürokratie, unorthodoxen Lehransätzen, der Begeisterung gerade selbst das zu sein, was er ist und dem Glanz in den Augen zugewandter junger Menschen. Eine Prosa mit lebendigem Humor, überzeugender Empathie und berührender Privatheit.

            In den USA als Sohn verarmter, irischer Einwanderer geboren, kehrt die Familie von den amerikanischen Lebensumständen enttäuscht, nach Irland zurück. Die Mutter zieht die Kinder alleine groß, bis FMcC als Halbwüchsiger erneut nach New York aufbricht. Die Erwartung, dort doch ein zuträglicheres Leben zu finden, ist ungebrochen. In den harten, prägenden Jahren als Hafenarbeiter und Küchenjunge reift der unbestimmte Wunsch, Lehrer zu werden. Der erste Versuch einer Lehrtätigkeit als irischer Küchenjunge ist, kubanischen Leidensgenossen die Vokabeln der Küchengeräte beizubringen. Dann der Eintritt in die Armee. Der Wehrsold ermöglicht das Lehrerstudium. Mit Mühe quält er sich durch die Prüfungen, schafft mit mäßigem Erfolg den Abschluss und verliert wiederholt den Kopf in Weibergeschichten. So narrt ihn eine ganze Zeit die attraktive June. June teilt das Bett mit ihm, leider aber auch mit dem gemeinsamen Pädagogik-Professor, mit dem sie das Unikum FMcC interessiert analysiert.

            Dauerhafter Begleiter aller Bemühungen sind die nagenden Selbstzweifel. Ire zu sein, ist ein Makel. Pöbelhaftes Wesen, Dummheit, Trunk- und Streitsucht sind verbreitete Urteile. Entsprechend schwer fällt es, eine erste Anstellung zu finden. Auf dem Kampffeld High School greift FMcC intuitiv zu unorthodoxen Mitteln. Ein nach ihm geworfenes Pausenbrot isst er kurzerhand auf. Den lästernden Schülerbemerkungen über irische Sexualität begegnet er mit dem ironischen Verweis auf die in Irland angeblich vorherrschende Sodomie. Die Schüler sind geplättet, der Rektor alarmiert. Die Elternschaft ruft nach Sanktionen. Die Motivation der Randgruppenkinder bleibt dennoch schwer zu entfachen, sein Fach Englisch ist für den Nachwuchs ein nicht enden wollendes Ärgernis. Wie seine Kollegen notieren, verfällt FMcC dem Kardinalfehler, sein Privatleben zum Unterrichtsthema zu machen. Auch wenn es den Schülern auf diese Weise gelingt, den Unterricht auszuhebeln, gewinnt FMcC vereinzelt Schülervertrauen. Dennoch bleiben die ersten zwei Pädagogenjahrzehnte mühsam. Konflikte mit den Vorgesetzten und die wiederkehrende Not, Autoritäten über sich zu dulden, führen zu einem Vagabundendasein zwischen zahlreichen Schulen. Ein `Wanderpokal`, den keiner will. In einer zweijährigen Auszeit erhofft der Ausgelaugte sein Leben neu ausrichten zu können. Zurück in Irland betritt er den umstrittenen Boden des elitären Trinity College. Trinity College – seit Jahrhunderten der Inbegriff protestantischer Machtausübung über notleidende Katholiken wie FMcC. Der Doktorand verliert sich schnell auf akademischen Abwegen, in allzu vielen Trinkgelagen und zwischen bedürftigen Weiberschenkeln. Es bleibt nur die Rückkehr nach New York, wo bald darauf seine Tochter zur Welt kommt. Die Ehe überdauert jedoch wie so vieles in seinem Leben nur kurze Zeit.

            Eine Lebenswende beginnt erst mit dem Einstieg in die Stuyvesant High School, ein Urquell für zahlreiche spätere Nobelpreisträger. Man lässt ihm Spielraum. Gerade genug um aus diesem widerspenstigen Charakter ein Höchstmaß an Kreativität freizusetzen. Als Lehrer für Creative Writing lässt er zur Begeisterung seiner Schüler Kochrezepte vertont rezitieren und Restaurant-Reportagen formulieren. Ebenso werden die einfallsreichsten Entschuldigungsschreiben belohnt. Während er früher ein Schuljahr als erfolgreich empfand, wenn es wenigstens gelang, das Wort Kauderwelsch verständlich zu machen, wird er jetzt Jahr für Jahr mit einem begeisterungsfähigen Publikum belohnt.

            Auf verträgliche Art kokettiert FMcC mit seiner letztendlichen Beliebtheit. Nach all dem detailliert dargelegten Alltagsleid der frühen Jahre sympathisiert der Leser mit dem Sisyphos-Aktivisten. Dies besonders, da er mit dem Motto „mea culpa“ im irischen Katholizismus großgezogen wurde. „Ich bin schuldig“ ist was die Seele kränkt, die Reifung unterbindet und das Unglück perpetuiert. FMcC hat diesen Schuldkomplex durch eine besonders lebenszugewandte Art entkräftet. Letztlich mit umwerfendem Erfolg.

Für Lehrer ein Buch aus ihrem Herzen. Für Nicht-Lehrer ein Reigen zeitweise wiederkehrender Anekdoten aus einem kräftezehrenden Schulalltag, in dem der biographische Lauf des Autors zu ertrinken drohte. Bekömmliche Kost auch für literarische Diabetiker, humorvoll gewürzt.  Note:    2 (ur)

Berlin-Moskau – Wolfgang Büscher

Berlin- MoskauSpiegel Edition|04    2006,  224 Seiten.

>>Deutlich nach der politischen Wende macht Büscher sich auf in den Staub: 2.500 km Geradlinigkeit, ein Fußmarsch von Berlin nach Moskau, meist entlang den Marschrouten militanter Wanderer – mit Erinnerungen an Napoleon und Hitlers Heeresgruppe Mitte. Davon spricht sein literarischer Bericht und von den meist bitteren Früchten, die heute all jene ernten, die entlang des Weges sesshaft geblieben sind. 

Während im ostelbischen Werder die Feldsteinkirche „Deckung unter den alten Kastanien“ nimmt, passiert er die Lindenallee bei Müncheberg, wo die SS vermeintliche Deserteure von der Lastwagenrampe aus an die Äste knüpfte. Alles Weitere ergab sich beim Gas geben. Letzte Gedanken an neuntausend Granatwerfer beim letzten Gefecht im deutschen Oderbruch, dann folgt Polen auf der anderen Grenzseite. Damit ist das kurze Deutschland hinter dem bedrückenden Berlin, in dem zur selben Zeit „Angestellte in breiter Formation in ihre Büros“ fahren, schon zu Ende.

Büscher zieht eine gerade, siebenhundert Kilometer lange West-Ost Linie durch Polen – nicht nur weil der Weg tatsächlich kurvenarm ist, sondern weil Büscher auch zügig durch will. „Das Land und ich liefen aneinander vorbei, ich wollte es rasch hinter mich bringen… Polen kam aus der Gegenrichtung und strebte nach Westen“ mit einer „Gegenwart, die ein einziger Baumarkt war“. Auch im polnischen Kernland will sich trotz kräftigem Mischwald kein Naturempfinden einstellen. Wenigstens der Wald von Pniewy beschert ihm eine glückliche Begegnung und eine lückenlose Kette befreundeter Deutschlehrerinnen, die ihm fortan das Nächtigen quer durch Polen erleichtert, auch wenn sie wenig Verständnis für sein Davonlaufen von Daheim haben.

Viele Eindrücke, meist in grau und schwarz und klein, reiht Büscher aneinander. Zwei hingegen wirken groß und hinterlassen historische Farbeindrücke. Es sind die Kriegsgeschichten außergewöhnlicher Frauen und ihrer Männer, die dem politischen Wahnsinn trotzten, starke Menschen blieben in einer unmenschlichen Zeit. So zum Beispiel die polnische Doppelagentin, Gräfin von betörender Schönheit und un- erschrockene Husarin mit pochendem Herz für uniformierte Edelleute diesseits und jenseits des Frontverlaufs. 

Je östlicher der Landstrich desto mehr verblassen die Farben. Das gilt für jeden Punkt der unsäglichen Strecke und für jedes Selbstverständnis, egal wo man es antrifft. Der österlichere Osten wird stets verachtet. „Der Osten wurde weiter und weiter gereicht“, egal ob von Ostdeutschen zu Polen, von Westpolen zu Ostpolen, von Polen zu Weißrussen, von Weißrussen zu Russen. 

Erst Moskau ist wieder westlich, also zivilisiert. Der Übergang nach Weißrussland ist ein stundenlanger Nervenkrieg. Die Businsassen verweigern Bakschisch, der Zollbeamte verbohrt sich in seine Selbstgefälligkeit, keifende alte Schmugglerinnen wollen den Gewinn nicht teilen. Irgendwann ist der Spuk verbraucht. Es folgt die erste Nacht in einem sowjetischen Rohbau, in dem mit aller Pingeligkeit jede Form von Ästhetik unterbunden worden war. Die zweite Nacht konfrontiert ihn mit dem Rohbau einer Seele, als er in der Not den Verschlag mit einem Halbwilden teilt, der wie ein Tier aufschreit, sobald er einschläft. Weißrussland ist das komplizierteste Land. Büscher mag es nicht. Auch das Land mag ihn nicht. So auch am Busbahnhof, wo am doppelt besetzten Fahrkarten-schalter „Person eins“ böse mit ihm ist und ihn an „Person zwei“ verweist, die auch böse mit ihm ist und ihm befiehlt, sich zu setzen. Büscher bleibt nicht lange sitzen, sondern wechselt auf den Standstreifen der Autobahn, der für ihn zur Überholspur wird. Hier bieten Bauern ihre Waren feil, hier kann er so richtig „Strecke machen“ bis er das bühnenbildhafte Minsk erreicht. Ein vertrautes Zwiegespräch folgt und schon bald ist die Metropole ihm ein „Minsky“. 

Minsk saugt das Gift der Nation auf, bietet ganzen Landstrichen im Windschatten der radioaktiven Wolke nach der Vertreibung neue Luft zum Atmen. Hier trifft Büscher einen Liquidator, der ihn in das hunderte Kilometer entfernte Tschernobyl führt und beim Anblick des geborstenen Reaktors in archaische Begeisterung verfällt: „… so viel Potenz. Die Energie! Die Energie!“ Zurück in Minsk pendelt Büscher zwischen orthodoxen Kirchen und McDonalds Filialen – letztere wegen der Toilettenhygiene, die von größerer kultureller Nachhaltigkeit ist als die Bibliothek des deutschen Goethe Institutes. Weißrussland bietet als „exportfähigen Rohstoff“ neben Holz nur Erinnerungen an, deretwegen auch Büscher gekommen ist. Vieles ist noch verwoben mit den Schrecken des Krieges oder den leiser werdenden Schreien der Nachkriegszeit. Im Hier und Jetzt verwurzelt dagegen gibt sich der einzige ortsansässige, sibirische Yogi mit seiner inner- und äußerlich angewandten Wermutkur und natürlich die tüchtige Prostituierte Natascha, die ausdauernd wie ein deutsches Eichengewächs in der Hotelhalle Wurzel geschlagen hat. 

Der Weg zieht sich. Sommerhitze, hartnäckige Gewitter, tagelange Fußmärsche neun, zehn, elf Stunden auf Chaussee und Autobahn Seitenstreifen, sumpfige Einöde und immer der gleiche Lebenserhalt: Schokolade und Wasser. In Orscha, wo mehr Betrunkene nach Luft röcheln als anderswo, flüchtet Büscher in den nächst besten Zug, der ihn vor die russische Grenze bringt. Kurz vor dem Grenzübertritt wirft sich noch mal eine Wodka-durchtränkte Bellorussin an seine Brust zu einem Tanz, der mehr ein Kampf ist. Dann betritt er das lang ersehnte russische Paradies. 

In Rudnja fällt nach bekannt werden von Büschers Ursprung die Begrüßung überschwänglich aus, denn man begrüßt den Verlierer, dessen Niederlage den kleinen Ort berühmt gemacht hat (hier bleibt Vergangenheit). Von hier kommt der Soldat, der bei der Eroberung Berlins die russische Fahne auf dem Reichstag gehisst hat. Leider ist auch er schon aus einer Wodka-vereisten Haarnadelkurve ins Nirwana gerast. Hinter Smolensk dann Kartyn, wo Stalin 4420 Mitglieder der polnischen Elite vernichten ließ, bis er an den russischen Brüdern noch größere Verbrechen am selben Ort beging. Danach die Begegnung mit dem Jungmusiker Andrej, der das notorische Grübeln russischer Textmusik philosophiefrei durch Spaßmusik ersetzen will. Andere dagegen, wie der alte Michail, schöpfen Stärke aus den Harz-weinenden Heiligen Ikonen, die nicht nur den Glauben sondern auch das Leben festigen. 

Büscher hat den Kontakt nach Deutschland seit langem unterbrochen. In Smolensk holt ihn jedoch die exportierte Heimat ein. War das ausgemusterte Vehikel mit der Aufschrift „Busreisen Obersberger“ nicht sein Ausflugsbus als Pennäler gewesen? Jetzt nicht mehr. Jetzt geht er zu Fuß oder besser: es geht ihn. Er nimmt nicht mehr wahr, was um ihn herum geschieht. Die ganze und oft genug die letzte Kraft geht in die ewig dahin-huschenden Wanderschuhe. Er ist ein Landstreicher Russlands geworden. So schmutzig, so behandelt und oft von den gleichen Selbstzweifeln zerfressen. Auch dieses Land ist „bodenlos“, ohne jede Form von Schönheit. Das ist es, was so unendlich viel Kraft kostet. Es ist unglaublich schwer, sich nicht gehen zu lassen. 

Wieder folgt er dem düsteren, abgashaltigen Mundgeruch der röhrenden Autobahn, leistet verbittert Widerstand gegen einen betrügerischen Kellner, muss mit seinen verdreckten Klamotten weiterziehen, weil keine der Kittel beschürzten Frauen sie ihm waschen will. Russland verdichtet sich für ihn zu einem einzigen Wort: „Schrott“ – Staatsschrott, Stadtlandflussschrott, Seelenschrott. Erst am heiligsten Ort Russlands, im Gehölz von Boris-Gleb, wartet Entgegenkommen und spirituelle Ruhe auf ihn, auch wenn er die Zweifel, dass hier himmlische Wunder nur vorgetäuscht werden, nicht los wird. Kurz hinter Gagarin, das nach dem ersten Kosmonauten benannt worden ist, muss er das Zimmer mit einem Mitschläfer teilen, der ihn im Schlaf überfällt – oder ist es nur ein irrealer Wahn, der als Überdruck seines überkochenden Seelenzustand entweicht? Die verwundeten Welten beginnen zu verschwimmen. Zuletzt dann die reale Umarmung des Moskauer Ortschildes. 

Während Büscher feiert, bleibt beim Leser die Beklemmung, nirgendwo angekommen zu sein, das Gefühl, zu dicht hinter dem Autor gegangen zu sein, so dass der Blick ins Offene versperrt bleibt. Hinter einem Schweiß durchsetzten Hemd, das vor allem durchwill, freudlos und verbissen. Und die Landstriche? 2.500 km Wegstrecke entwertet zum transkontinentalen Flur durch eine verwahrloste Sozialstation. Und so flieht am Ende der Leser in die Hoffnung, dass es sich weniger um eine äußere als um eine innere Wegbeschreibung handeln möge, vielleicht eine Aufarbeitung historischen Seelenringens. Doch vom Flur aus ist nur ein unmöblierter Verschlag zu sehen. Dass das Ich des Wanderers sich hier irgendwo niedergelassen hat, lässt der befremdliche Schluss vermuten: mit großer Genugtuung sieht der inzwischen geschmackvoll gekleidete Landstreicher an der Seite einer betreuenden Natalia die stehenden Moskauer Wagenkolonnen an sich vorbeirauschen, während sein Chauffeur auf dem verbotenem Mittelstreifen die Privilegien russischer Limousinen vorführt. 

Trotz inhaltlicher Tiefen darf der Leser wiederholt auf sprachlichen Höhen wandern.
Note: 3– (ur)<<

Die Vermessung der Welt – Daniel Kehlmann

Die Vermessung der Weltrowohlt 2005,  302 Seiten.

>>Der Autor verwebt die Lebensgeschichten der großen deutschen Naturwissenschaftler des 19. Jahrhundert, Gauß und Humboldt, zu einem aufschlussreichen Gewebe, das die Textur eines überraschenden Wissenschaftsromans und die vielfältigen Muster unterhaltsamer Situations- und Sprachkomik trägt. In wechselnden Kapiteln, die die Lebensstationen beider Wissenschaftler in Szene setzen, reist der Leser ohne aufdringliche Faktenfolge durch die Erkenntnisabenteuer beider Wissenschaftler mit keinem geringeren Anspruch, als die Welt zu vermessen. Während wir vordergründig der erstaunlichen Erforschung von Urwäldern und Sternenhimmel folgen, werden wir hintergründig zu der Vermessung zweier Psychogramme geleitet. 
In der anekdotischen Gegenüberstellung beider Genies baut sich ein kontrastreiches Spannungsfeld zwischen zwei notorischen Egomanen auf. Auch wenn beiden das unbändige Streben, die Regelwerke der Natur entschlüsseln zu müssen, gemeinsam ist, können ihre Charaktere kaum verschiedener sein. Gauß, der Mathematiker und Physiker, entpuppt sich als bissiger Kauz mit autistischen Zügen. Während er die Gesellschaft als Bedrohung meidet, ist sie für Humboldt, den Geo- und Biologen, eine unverzichtbare Bühne für seine Selbstinszenierung. Namenlose Damen ebenso wie Regenten und amerikanische Präsidenten schätzen seine charmanten und unterhaltsamen Auftritte. Nicht überraschend sind die Arbeitsweisen der beiden einmal von Einsamkeit der abgeschiedenen Schreibstube (Gauß) und das andere Mal von den provozierten Naturgewalten auf selbstmörderischen Weltreisen geprägt (Humboldt).
Auch wenn die intellektuellen Kompetenzen der beiden überwältigend sind, werden sie (notwendigerweise?) von einem Mangel an Empathie, Erotik (Humboldt) und Sozialkompetenz (Gauß) begleitet. Humboldt, von einer ehrgeizigen Mutter zum Gelehrten aufgebaut, kommt in seinem Gefühlsleben über eine stille Pädophilie nicht hinaus. Ohne den geringsten Sinn für Sinnlichkeit bleibt er ein Leben lang ohne Ehefrau und unterlegt seine Unfähigkeit mit der Anmerkung, dass man nur dann heirate, wenn man nichts Wesentliches im Leben vorhabe. Gauß dagegen, der seiner aufrichtig sorgenden Mutter über all die Jahre zutiefst verbunden bleibt, heiratet wiederholt, zeugt Kinder, hurt und schnurrt schönen Damenrücken hinterher. Angesichts seines ansonsten entrückten Daseins wirken diese emotionalen Lebenszeichen geradezu erfrischend – mehr Mensch als erwartet. Haben die unterschiedlichen Mutterbindungen der Söhne die Frauenbilder der erwachsenen Männer vorweggenommen? 
Der Aufbau des Buches folgt einem chronologischen Wechselspiel der Figuren, bei dem die Kapitel einmal Humboldt und dann wieder Gauß gewidmet sind. Das Eingangskapitel durchbricht diesen Zyklus, indem es eine späte Kongressbegegnung beider Gestalten entwickelt. In dieser Szene wird wie in so vielen anderen Passagen des Buches die zielsichere literarische Handlungsführung offenkundig. Mit Humboldt, Gauß und seinem Sohn Eugen werden bereits an dieser Stelle nicht nur alle Hauptpersonen eingeführt, sondern es werden in einer parodistischen Situation auch deren Wesensmerkmale spielerisch herausgearbeitet. Nachdem Gauß mit der Trotzigkeit eines Kleinkindes die Reise nicht verhindern konnte, erniedrigt er während der stundenlangen Kutschfahrt mit beschämender Überheblichkeit seinen Sohn Eugen: Gottes böser Humor zeige sich schon darin, dass Eugen als Dummkopf mit strotzender Gesundheit gesegnet sei, während sein eigener Geist in einen kränkelnden Körper eingesperrt sei. Bei der Ankunft in Berlin veranlasst Humboldt ein gemeinsames Foto. Die gerade erfundene Fotographie verlangt wegen der langen Belichtungszeiten mit viertelstündigem Stillhalten noch erheblichen körperlichen Einsatz, der für Humboldt selbstverständlich ist, doch Gauß an den Rand der Verzweiflung bringt. Letztlich löst ein patrouillierender Polizist das Unterfangen auf, da eine Zusammenrottung von mehr als zwei Personen in der Öffentlichkeit wegen des zu erwartenden Aufruhrs untersagt ist. So treffend läßt sich die politische Engstirnigkeit preußischer Zeitgeschichte vorführen. 
Humboldt entpuppt sich früh als Praktiker, der zunächst dem Bergbau mit naturwissenschaftlicher Methodik zu Leibe rückt und damit zu größerer Effizienz verhilft. Doch aus der Enge der Stollen treibt es ihn bald in die Weiten der Kontinente. Ein Zufall macht ihn mit dem arbeitslosen Arzt Bonpland bekannt, der ihn auf seinen akribisch vorbereiteten Weltreisen begleiten wird. An Geld und politisch unverzichtbaren Empfehlungsschreiben fehlt es nicht, so dass die legendäre fünfjährige Südamerikareise möglich wird. Als Extremsportler wird der höchste (bekannte) Sechstausender bestiegen, als Selbstmörder der Orinoco und die Verbindung zum Amazonas bezwungen, als Leichenschänder indianische Friedhöfe für die Wissenschaft erschlossen, als Aztekenforscher tausendjährige Astronomie wiederbelebt, als Workoholic zehntausendfach das Erdmagnetfeld vermessen, als deutscher Intellektueller an den Humanismus durch Erkenntnisgewinn geglaubt und als globaler Entertainer die eigene Publizität vermarktet. Am Ende legen sich wie bei späteren Nobelpreisträgern die Öffentlichkeit und ihre Repräsentanten als Schlinge um seinen Hals. Die letzte große Reise nach Russland ist bereits der Missbrauch seiner Person. Gauß ermittelt mittels neu erfundener Statistik, dass Humboldts verbleibende Lebenserwartung nur noch fünf Jahre beträgt. Auch Humboldt spürt seinen Fall, sehnt sich nach suizidalem Verlorengehen in der Natur, doch man lässt ihn nicht – der Bär soll noch auf diversen Festen tanzen. 
Ein Leben lang bleibt für Alexander v. Humboldt in paradoxer Form sein älterer Bruder der bedeutendste Beziehungspunkt. In einer konkurrierenden Symbiose versuchen sie sich als Kinder gegenseitige Qualen zu verlängern und das Leben zu verkürzen. Gleichzeitig bleiben sie einander unverzichtbare Partner. Forschungsobjekte, Berichte und Lebenseindrücke richtet Alexander in erster Linie an seinen Bruder Wilhelm. Der Ältere, der es zum preußischen Gesandten, Gründer und Professor der bedeutendsten Berliner Universität gebracht hat, vermutet dass ihr beider Schaffensdrang vor allem auf den anderen Bruder gerichtet sei. Angeblich nicht, um sich dem anderen gegenüber zu erhöhen. Oder doch – Bruderzwist als Genie gebärender Motor? 
Während Humboldt sich als Wissenschaftler entpuppt, dessen Intellektualität durch Fleiß in Form gebracht wurde, erscheint Gauß im reinsten Sinne als Genie, als gebürtiger Champion, dessen Geistreichtum von Natur aus schier unermesslich ist, ohne dass es einer mühsamen Formung bedurft hätte. Früh wird seine mathematische Ausnahmebegabung erkannt, durch die sich Lehrer sich entwertet fühlen, und das Kind Gauß verängstigen, da Lehrer es fortan bedrohen. Mit 20 Jahren ist bereits der weltberühmte arithmetische Durchbruch formuliert. Nur um Geld für die inzwischen gegründete Familie zu verdienen, wartet er in der zu jener Zeit öffentlichkeitsträchtigen Astronomie, die er als Mathematik der Fleißigen und wenig Begabten abtut, mit weiteren bahnbrechenden Entdeckungen auf. Zur Seite steht ihm jetzt mit großer praktischer Intelligenz seine Ehefrau Johanna. Er ist ihr so nah wie umgekehrt ihm die gemeinsam gezeugten Kinder fremd bleiben. Gleichzeitig gibt sie ihm Halt im Hier und Jetzt: er könne nicht so einfach nach Göttingen umziehen wollen, da dies bekanntlich zu Hannover gehöre, welches über die Personalunion mit England inzwischen ein Opfer Napoleons geworden wäre. Gauß ist überrascht über so viel Weitsicht. Beim dritten Kind stirbt Johanna. Gauß füllt geistesabwesend die Lücke mit der ihm ewig fremd bleibenden Minna. Weil er ihre Anwesenheit scheut, flüchtet er sich in die Abwesenheit eines reisenden Landvermessers. Unterwegs geht ihm Sohn Eugen zur Hand, für den er nur Spott und Tadel übrig hat. So verwundert es nicht, dass Gauß Eugen jeden Beistand versagt, als er im preußisch reglementierten Berlin bei einer konspirativen Turnvater-Jahn-Veranstaltung verhaftet wird. Stattdessen verfängt sich Gauß in seiner Ich-bezogenen Borniertheit im entscheidenden Gespräch mit einem Polizeioffizier, und der Sohn bleibt ohne jede Hilfe des berühmten Vaters.
Der Anfang und das beginnende Ende (vorletztes Kapitel) des Buches schließen einen Kreis. Beide Kapitel geben Reisen wieder. Während anfangs beide Wissenschaftler sich aufeinander zu bewegen entfernen sie sich während der Russlandreise sinnbildlich voneinander. Beider Schaffenskraft und -dasein neigt sich dem Ende entgegen. Was bleibt sind zwar Ruhm und Erkenntnis, doch nicht die beiden Gestalten, die im Schlusskapitel gänzlich fehlen. Das Schlusskapitel ringt allerdings noch mit seiner Zugehörigkeit zum Ganzen. Was am Ende des Buches als Schatten des großen Ruhmes bleibt, ist der von Vater Gauß verratene Sohn auf seiner Fahrt in die amerikanische Verbannung. Es ist eben vermessen, nur die Welt zu vermessen und das Menschsein zu vergessen. 

Überraschend überzeugend gelingt es dem Autor Ernst und Tiefe mit Leichtigkeit zu kleiden, informativ und gleichzeitig literarisch kunstvoll zu sein. Die erbauliche Leichtigkeit des Buches speist sich auch aus dem Verzicht der Wertung über die weltruhmträchtigen Taten und absonderlichen Charakterzüge der beiden großen Naturforscher. Sehr lesenswert – wie sich herausgestellt hat vor allem für Männer. Note: 1– (ur)<<