Gut gegen Nordwind – Daniel Glattauer

Gut gegen NordwindDeuticke 2006,  223 Seiten.             

>>Man nehme zwei fremde Menschen, die einander begehren und einen störenden Ehegatten, verzichte auf eine treibende Handlung und serviere ausnahmslos in Dialogen. Fertig ist die Schöpfung. Also der klassische Langweiler unter den literarischen Serviervorschlägen? Daniel Glattauer belehrt uns eines besseren.

Mit zunehmender Wissbegierde folgen wir dem postmodernen Emailgeflüster zweier Gleichgesinnter, die ein Internet-Missverständnis zwar nur virtuell aber mit zunehmender Geschwindigkeit auch mental verlinkt. Aus hingeworfenen Grüßen werden komponierte Passagen, die sich zu minutenschnellen Stakkati eines erotisch subtil angehauchten Elektronenwindes verdichten. Die Beteiligten werden rasend schnell aneinander süchtig, und wir als voyeuristische Zuhörer ebenso. Was wir erleben ist nicht nur eine platonische Hingebung Unbekannter und damit das ewig lebendige Pulsieren des Eros sondern auch die Faszination einer neuen Kommunikationsform. Auch wenn wir den Briefroman schon lange kennen, eröffnet der Emailroman eine neue Qualität, weil schon fast im Takt des gesprochenen Wortes eine größere Vitalität möglich wird und dennoch durch den geschriebenen Text die Worte authentisch gefasster und damit bei Glattauer auch poetischer gesetzt werden können als in direkten Zwiegesprächen.

Leo Leike ist Psychologe und als treffsicherer Sprachanalytiker in ein Forschungsprojekt eingebunden, welches auf emotionale Inhalte in der Emailkommunikation gerichtet ist. Auf Grund eines Vokalfehlers erreicht ihn mehrmals ein an den LIKE Verlag gerichtetes Beschwerdeschreiben einer Emmi Rothner. Beide kommen neun Monate später zufällig in dem Moment wieder in Kontakt, als Leo verzweifelt auf eine beruhigende Nachricht seiner ihn zum wiederholten Male verlassenden Lebensgefährtin wartet. Er wartet vergeblich – sie gewährt ihm keinen Versöhnungsausflug nach Paris sondern gibt sich einem anderen hin. Just in dem Moment erreicht ihn erneut eine Weihnachts-Rundmail aus Emmis Verteilerbox. Die Unbekannten kommen bald ins Gespräch, getrieben von der inneren Leere, die sie beide erfüllt. Emmi ist mit ihrem ehemaligen, 14 Jahre älteren Musiklehrer verheiratet, der nach dem Tod seiner ersten Ehefrau zwei kleine Kinder in die Ehe mitbrachte. Zwar genießt sie das grenzenlose Verständnis ihres respektvollen Gatten, doch fühlt sie nach acht bilderbuchartigen Ehejahren eine ungestillte Lust nach Grenzüberschreitungen, ohne diese jedoch klar zu erfassen. Im Internetgespräch mit Leo gewinnt diese Bedürftigkeit immer mehr Konturen und schon bald hofft sie Leo sehen zu können. Doch Leo ist überzeugt, dass die Realität nie mit dem inzwischen entstandenen Visionen des (visuell unbekannten) Gesprächspartners überstimmen wird. Damit müsste unweigerlich das inzwischen gereifte Traumbild des anderen in sich zusammenstürzen.

Auf Drängen von Emmi stimmt er einem anonymen Treffen in einem stark frequentierten Kaffeehaus zu, bei dem sich beide jedoch nicht zu erkennen geben dürfen. Raffiniert treibt der Autor die Geschichte auf einen ersten Höhepunkt zu, ohne jedoch die Spannung aufzulösen. Beide erkennen einander nicht. Emmi studiert alle allein auftretenden Männer und ist von deren Erscheinungen grenzenlos enttäuscht. Leo ist mit seiner attraktiven Schwester Adrienne erschienen, steht mit dem Rücken zum Publikum und gibt sich als Verliebter, der seine Aufmerksamkeit ausschließlich seiner vermeintlichen Partnerin widmet. Während dessen beschreibt Adrienne ihm die Besucherinnen des Lokals. Sein Bild von Emmi wird zwar konkretisiert, doch bleibt es ausreichend unscharf und nährt damit weitere Traumbilder. Die Virtualität bleibt trotz der Realität erhalten.

In wiederholten und manchmal ermüdenden Rhythmen erleben wir ein weiteres Element der virtuellen Kommunikation. Die Unschärfe bewirkt eine durchgängige Metastabilität des Beziehungsverhältnisses. Bleibt eine Emailantwort etwas länger aus, schleichen sich vor allem bei Emmi augenblicklich Zweifel über das tatsächliche Interesse an ihrer Person ein. Offen ausgetragene Zuneigung verkehrt sich in wenigen Sätzen ins Gegenteil. Nicht-Wissen wird vorschnell kompensiert mit Lücken-füllenden Vermutungen, vermeintliche Verletzungen werden mit Angriffen aufgewogen. Doch auch diese Wendungen sind kurzlebig und lassen Raum für erneute Annäherungen.

Mit dem Verweis, Leo bräuchte dringend mal eine Frau, versucht Emmi in naiver Weise weitere Erkenntnisse über Leo zu gewinnen, in dem sie ihn mit ihrer besten Freundin Mia bekannt macht. Aus Trotz gegenüber dem instrumentalisierenden Spiel von Emmi schlafen beide miteinander. Leo spürt jedoch, dass man nur miteinander schlafen kann, aber nicht gegen einen Dritten. Es bleibt beim one-night stand. Die Wechsel intensivieren sich, der Emailverkehr beginnt für beide schon vor dem Frühstück. Nachts wird der Labtop zum Beischläfer, sollte das Info-Läuten eine späte Email ankündigen. Beiden wird zunehmend der Suchtcharakter ihrer Beziehung klar, dem sie sich nur phasenweise entziehen können. Bei kollektiv genossenem Alkohol vor getrennten Bildschirmen jedoch nie. Völlig überraschend meldet sich eines Tages Emmis Gatte Bernhard mit der überzeugenden Beichte, alle Emails gelesen zu haben, nachdem seine Frau ihm und den Kindern entglitten sei und nur noch zurückgezogen mit ihrem PC lebe. Weil ihm klar sei, dass die Abhängigkeit seiner Frau von ihrer idealisierenden Fantasie genährt werde, erhoffe er sich ein Ende des Spuks, sollte an ihre Stelle die Wirklichkeit treten. Deshalb möge Leo ein einziges Mal mit seiner Frau schlafen, um sie dann endgültig freizugeben. Leo lässt die Antwort offen, sichert Stillschweigen zu und drängt den Ehemann mit Emmi ein klärendes Gespräch zu führen, warum sie überhaupt in eine virtuelle Abenteuerwelt flüchte und wo die Defizite ihrer Ehe lägen. Das Gespräch findet nicht statt.

Leo scheint diese Entwicklung als gefährliche Grenzüberschreitung zu erleben, der er einen totalen Schnitt entgegensetzt. Er teilt Emmi mit, in Kürze zwei Jahre nach Boston im Rahmen eines Forschungsprojektes zu gehen und den Kontakt mit ihr abbrechen zu wollen, um für eine reale, legale Beziehung offen sein zu können. Zuvor möchte er sie nochmals treffen: im Dunkeln ohne sich zu sehen. Das weitere würden sie dem Moment überlassen. Tatsächlich bereiten sich beide ernsthaft auf die Begegnung vor, doch kommt auch diese nicht zustande. Bei ihrem Abschied zuhause wünscht Bernhard: „Amüsiere dich gut, Emmi“, wodurch Emmi realisiert, dass sie entdeckt wurde. Wie zu Beginn der Geschichte ist es wieder ein Vokal. Bernhard nannte sie stets Emma. Mit dem „i“ hat er die entfremdete Gattin entlarvt und paralysiert. Ein identitätsstiftender Vokal, die für Emmi die besagte virtuelle Grenzüberschreitung zusammenfasst. Die klärende Email von Emmi erreicht Leo jedoch nicht mehr, der inzwischen seinen Account storniert hat.

Für Emmi waren Leos Emails gut gegen Nordwind, wenn sie nicht schlafend konnte. Für jeden Schlafgeschädigten dürfte das nicht anders sein. Eine kurzweilige Bettlektüre.
Note:
2+ (ur)<<

>> Eine fehlgeleitete  E-Mail von Emmi Rothner landet bei dem Sprachpsychologen Leo Leik. Ein harmloser Zufall, wie er im Cyberspace  tatsächlich wahrscheinlich täglich tausendfach vorkommt. Was Daniel Glattauer in „Gut gegen Nordwind“  aus diesem Plot macht, gehört zum Besten und Schönsten, was ich seit langem gelesen habe. Deshalb soll auch nicht viel verraten werden. Selber lesen! Mit Sprachwitz und psychologischem Tiefgang entwickelt sich ein E-Maildialog, in dem die beiden Protagonisten sich zunehmend näher kommen und gleichzeitig fern bleiben, sich gleichsam in die Seele des anderen einnisten ohne eine Ahnung vom Äußeren des anderen zu haben. Doppelbödig, wie vieles in diesem Meisterwerk,  auch der Umstand, dass der Sprachpsychologe Leik an einer Untersuchung mitwirkt, „wie Emotionen per E-Mail transportiert“ werden können. Immer wieder Überraschungen bereithaltend, kreist die Geschichte um die alles entscheidende Frage. Am Ende sorgt die Vertauschung von nur zwei Buchstaben an einem äußerst stimmigen Ende mit. Wie nahe man sich ausschließlich mit den Mitteln der Sprache kommen kann, ohne jeglichen materiellen Unterbau, das zeigt uns Glattauer in atemberaubend schöner und gelungener Weise. Note : 1 (ün)<<

>>Ein Roman, der nur aus E-Mails besteht, ist vermutlich ein Novum.Ein Frau, ein Mann, die Mails jagen sich manchmal fast pausenlos; längere Mail- Pausen lösen Entzugserscheinungen aus. Leo Leike bringt ideale Voraussetzungen fürs Mailen mit, untersucht er doch den Einfluss dieser Textsorte auf unser Sprachverhalten und seine Eignung als Transportmittel für Emotionen. Der Roman ist voll davon. Alles beginnt mit einem Tippfehler. Ein Prozess der langsamen Annäherung folgt, die Neugier auf den anderen Menschen wächst. Kann man zum Beispiel  „jünger schreiben“ als man tatsächlich ist? Ein Puzzle-Bild des anderen entsteht und gleichzeitig die Befürchtung, eine reale Begegnung  könne das positive Bild zerstören. Fehleinschätzungen der eigenen Person, aber auch des Partners komplizieren die Kontakte. So unterschätzt Emmi Rothner grandios die Eifersucht ihres Ehemanns, aber auch ihre eigene. Wie und wo soll das alles enden, fragte ich mich besorgt schon ziemlich früh. Zum Glück erfährt man es erst recht spät. Daniel Glattauer macht die Magie des geschriebenen Wortes erfahrbar. Wer selbst mit unbekannten Menschen über längere Zeit kommunizierte, vielleicht erlebt hat, wie „Menschenbilder“ bei wirklichen Begegnungen sekundenschnell zusammen-brechen können, der wird dieses Buch ganz besonders genießen können.
Note: 1–  (ax)<<

 >>Ein „e“ zuviel in der Emailadresse, das ist der Anfang und ein enthüllendes Emmi „i“, das ist in doppeltem Sinne das Ende. Zwischen diesen beiden Buchstaben entfaltet sich eine faszinierende virtuelle Beziehungsgeschichte zwischen dem 36 jährigen Sprachpsychologen Leo Leike und der sich in einer glückliche Ehe wähnenden 34 jährigen Emmi Rothner. Ein Spiel beginnt, in das sich beide zunächst noch souverän agierende Protagonisten Schritt für Schritt doch Hals über Kopf verstricken. Ein Spiel – vor allem mit Sprache. Entscheidender noch als die recht spärlichen faktischen Mitteilungen ist, was zwischen den Zeilen vermutet wird, welche Bilder und Erwartungen das geschriebene Wort am Bildschirm vom jeweiligen Gegenüber in den Köpfen der beiden Protagonisten freisetzt, wie eine Parallelwelt virtueller Zweisamkeit entsteht. Da sieht sich  Emmi zuweilen als Teil der Marlene-Verarbeitungs- therapie Leos und der durch Marlene leicht beziehungsgeschädigte Leo setzt mit  bedeutungs- tragenden Anführungszeichen zur glücklichen Ehe Emmis ( Bernhard, die Kinder und die vermuteten Streifenhörnchen repräsentieren diese Familien-Idylle) erste Kontrapunkte. Der Reiz die virtuelle Welt durch ein Stück Wirklichkeit  zu ergänzen- -Emmi unterstellt Leo, er bastele sich lieber seine eigene Emmi Rother, als die echte kennen zu lernen, führt zu einem kunstvollen Arrangement einer ersten Camouflage-Begegnung im Cafe Huber,  in dem vor allem Leo ein wiederum nur durch seine Schwester vermitteltes Bild dreier möglicher Emmis erhält. Als Emmi ihre Freundin Mia zur Realerkundung Leos einsetzt, entgleitet ihr das Spiel,weil Leo und Mia die ihnen zugedachten Rollen verlassen und es durch trotzigen einmaligen Sex „vermasseln“. In dem Maße, in dem Emmis Eifersucht zunimmt, wächst ihr Verlangen nach Leo gegen den nächtlichen Nordwind, während Leo in einem möglichen Treffen die große Ernüchterung wähnt. „Wir können das nicht leben, was wir schreiben“, kann man eine Liebeserklärung pathetischer und zugleich nüchterner formulieren. Und so ist es zugleich der eigentliche literarische Zauber Glattauers, der Faszination der virtuellen Beziehung nicht die Entzauberung durch eine reale Begegnung folgen zu lassen. Dass der anrührende Bittbrief von Emmis Ehemann Bernhard – seine Emailenthüllung ist die moderne Form von. Innstettens aufgebrochenem Effi-Nähkästchen – für Leo die Boston-Wende und für Emma das Ende einleitet, ist ein weiterer Kunstgriff Glattauers. Leo holt Emmi aus ihrem „Versteck“, Leo versteckt sich hinter einer neuen Emailadresse:  die Realität hat sie wieder, die Faszination lässt sich nicht leben. Note: 1/2 (ai) <<