Berlin-Moskau – Wolfgang Büscher

Berlin- MoskauSpiegel Edition|04    2006,  224 Seiten.

>>Deutlich nach der politischen Wende macht Büscher sich auf in den Staub: 2.500 km Geradlinigkeit, ein Fußmarsch von Berlin nach Moskau, meist entlang den Marschrouten militanter Wanderer – mit Erinnerungen an Napoleon und Hitlers Heeresgruppe Mitte. Davon spricht sein literarischer Bericht und von den meist bitteren Früchten, die heute all jene ernten, die entlang des Weges sesshaft geblieben sind. 

Während im ostelbischen Werder die Feldsteinkirche „Deckung unter den alten Kastanien“ nimmt, passiert er die Lindenallee bei Müncheberg, wo die SS vermeintliche Deserteure von der Lastwagenrampe aus an die Äste knüpfte. Alles Weitere ergab sich beim Gas geben. Letzte Gedanken an neuntausend Granatwerfer beim letzten Gefecht im deutschen Oderbruch, dann folgt Polen auf der anderen Grenzseite. Damit ist das kurze Deutschland hinter dem bedrückenden Berlin, in dem zur selben Zeit „Angestellte in breiter Formation in ihre Büros“ fahren, schon zu Ende.

Büscher zieht eine gerade, siebenhundert Kilometer lange West-Ost Linie durch Polen – nicht nur weil der Weg tatsächlich kurvenarm ist, sondern weil Büscher auch zügig durch will. „Das Land und ich liefen aneinander vorbei, ich wollte es rasch hinter mich bringen… Polen kam aus der Gegenrichtung und strebte nach Westen“ mit einer „Gegenwart, die ein einziger Baumarkt war“. Auch im polnischen Kernland will sich trotz kräftigem Mischwald kein Naturempfinden einstellen. Wenigstens der Wald von Pniewy beschert ihm eine glückliche Begegnung und eine lückenlose Kette befreundeter Deutschlehrerinnen, die ihm fortan das Nächtigen quer durch Polen erleichtert, auch wenn sie wenig Verständnis für sein Davonlaufen von Daheim haben.

Viele Eindrücke, meist in grau und schwarz und klein, reiht Büscher aneinander. Zwei hingegen wirken groß und hinterlassen historische Farbeindrücke. Es sind die Kriegsgeschichten außergewöhnlicher Frauen und ihrer Männer, die dem politischen Wahnsinn trotzten, starke Menschen blieben in einer unmenschlichen Zeit. So zum Beispiel die polnische Doppelagentin, Gräfin von betörender Schönheit und un- erschrockene Husarin mit pochendem Herz für uniformierte Edelleute diesseits und jenseits des Frontverlaufs. 

Je östlicher der Landstrich desto mehr verblassen die Farben. Das gilt für jeden Punkt der unsäglichen Strecke und für jedes Selbstverständnis, egal wo man es antrifft. Der österlichere Osten wird stets verachtet. „Der Osten wurde weiter und weiter gereicht“, egal ob von Ostdeutschen zu Polen, von Westpolen zu Ostpolen, von Polen zu Weißrussen, von Weißrussen zu Russen. 

Erst Moskau ist wieder westlich, also zivilisiert. Der Übergang nach Weißrussland ist ein stundenlanger Nervenkrieg. Die Businsassen verweigern Bakschisch, der Zollbeamte verbohrt sich in seine Selbstgefälligkeit, keifende alte Schmugglerinnen wollen den Gewinn nicht teilen. Irgendwann ist der Spuk verbraucht. Es folgt die erste Nacht in einem sowjetischen Rohbau, in dem mit aller Pingeligkeit jede Form von Ästhetik unterbunden worden war. Die zweite Nacht konfrontiert ihn mit dem Rohbau einer Seele, als er in der Not den Verschlag mit einem Halbwilden teilt, der wie ein Tier aufschreit, sobald er einschläft. Weißrussland ist das komplizierteste Land. Büscher mag es nicht. Auch das Land mag ihn nicht. So auch am Busbahnhof, wo am doppelt besetzten Fahrkarten-schalter „Person eins“ böse mit ihm ist und ihn an „Person zwei“ verweist, die auch böse mit ihm ist und ihm befiehlt, sich zu setzen. Büscher bleibt nicht lange sitzen, sondern wechselt auf den Standstreifen der Autobahn, der für ihn zur Überholspur wird. Hier bieten Bauern ihre Waren feil, hier kann er so richtig „Strecke machen“ bis er das bühnenbildhafte Minsk erreicht. Ein vertrautes Zwiegespräch folgt und schon bald ist die Metropole ihm ein „Minsky“. 

Minsk saugt das Gift der Nation auf, bietet ganzen Landstrichen im Windschatten der radioaktiven Wolke nach der Vertreibung neue Luft zum Atmen. Hier trifft Büscher einen Liquidator, der ihn in das hunderte Kilometer entfernte Tschernobyl führt und beim Anblick des geborstenen Reaktors in archaische Begeisterung verfällt: „… so viel Potenz. Die Energie! Die Energie!“ Zurück in Minsk pendelt Büscher zwischen orthodoxen Kirchen und McDonalds Filialen – letztere wegen der Toilettenhygiene, die von größerer kultureller Nachhaltigkeit ist als die Bibliothek des deutschen Goethe Institutes. Weißrussland bietet als „exportfähigen Rohstoff“ neben Holz nur Erinnerungen an, deretwegen auch Büscher gekommen ist. Vieles ist noch verwoben mit den Schrecken des Krieges oder den leiser werdenden Schreien der Nachkriegszeit. Im Hier und Jetzt verwurzelt dagegen gibt sich der einzige ortsansässige, sibirische Yogi mit seiner inner- und äußerlich angewandten Wermutkur und natürlich die tüchtige Prostituierte Natascha, die ausdauernd wie ein deutsches Eichengewächs in der Hotelhalle Wurzel geschlagen hat. 

Der Weg zieht sich. Sommerhitze, hartnäckige Gewitter, tagelange Fußmärsche neun, zehn, elf Stunden auf Chaussee und Autobahn Seitenstreifen, sumpfige Einöde und immer der gleiche Lebenserhalt: Schokolade und Wasser. In Orscha, wo mehr Betrunkene nach Luft röcheln als anderswo, flüchtet Büscher in den nächst besten Zug, der ihn vor die russische Grenze bringt. Kurz vor dem Grenzübertritt wirft sich noch mal eine Wodka-durchtränkte Bellorussin an seine Brust zu einem Tanz, der mehr ein Kampf ist. Dann betritt er das lang ersehnte russische Paradies. 

In Rudnja fällt nach bekannt werden von Büschers Ursprung die Begrüßung überschwänglich aus, denn man begrüßt den Verlierer, dessen Niederlage den kleinen Ort berühmt gemacht hat (hier bleibt Vergangenheit). Von hier kommt der Soldat, der bei der Eroberung Berlins die russische Fahne auf dem Reichstag gehisst hat. Leider ist auch er schon aus einer Wodka-vereisten Haarnadelkurve ins Nirwana gerast. Hinter Smolensk dann Kartyn, wo Stalin 4420 Mitglieder der polnischen Elite vernichten ließ, bis er an den russischen Brüdern noch größere Verbrechen am selben Ort beging. Danach die Begegnung mit dem Jungmusiker Andrej, der das notorische Grübeln russischer Textmusik philosophiefrei durch Spaßmusik ersetzen will. Andere dagegen, wie der alte Michail, schöpfen Stärke aus den Harz-weinenden Heiligen Ikonen, die nicht nur den Glauben sondern auch das Leben festigen. 

Büscher hat den Kontakt nach Deutschland seit langem unterbrochen. In Smolensk holt ihn jedoch die exportierte Heimat ein. War das ausgemusterte Vehikel mit der Aufschrift „Busreisen Obersberger“ nicht sein Ausflugsbus als Pennäler gewesen? Jetzt nicht mehr. Jetzt geht er zu Fuß oder besser: es geht ihn. Er nimmt nicht mehr wahr, was um ihn herum geschieht. Die ganze und oft genug die letzte Kraft geht in die ewig dahin-huschenden Wanderschuhe. Er ist ein Landstreicher Russlands geworden. So schmutzig, so behandelt und oft von den gleichen Selbstzweifeln zerfressen. Auch dieses Land ist „bodenlos“, ohne jede Form von Schönheit. Das ist es, was so unendlich viel Kraft kostet. Es ist unglaublich schwer, sich nicht gehen zu lassen. 

Wieder folgt er dem düsteren, abgashaltigen Mundgeruch der röhrenden Autobahn, leistet verbittert Widerstand gegen einen betrügerischen Kellner, muss mit seinen verdreckten Klamotten weiterziehen, weil keine der Kittel beschürzten Frauen sie ihm waschen will. Russland verdichtet sich für ihn zu einem einzigen Wort: „Schrott“ – Staatsschrott, Stadtlandflussschrott, Seelenschrott. Erst am heiligsten Ort Russlands, im Gehölz von Boris-Gleb, wartet Entgegenkommen und spirituelle Ruhe auf ihn, auch wenn er die Zweifel, dass hier himmlische Wunder nur vorgetäuscht werden, nicht los wird. Kurz hinter Gagarin, das nach dem ersten Kosmonauten benannt worden ist, muss er das Zimmer mit einem Mitschläfer teilen, der ihn im Schlaf überfällt – oder ist es nur ein irrealer Wahn, der als Überdruck seines überkochenden Seelenzustand entweicht? Die verwundeten Welten beginnen zu verschwimmen. Zuletzt dann die reale Umarmung des Moskauer Ortschildes. 

Während Büscher feiert, bleibt beim Leser die Beklemmung, nirgendwo angekommen zu sein, das Gefühl, zu dicht hinter dem Autor gegangen zu sein, so dass der Blick ins Offene versperrt bleibt. Hinter einem Schweiß durchsetzten Hemd, das vor allem durchwill, freudlos und verbissen. Und die Landstriche? 2.500 km Wegstrecke entwertet zum transkontinentalen Flur durch eine verwahrloste Sozialstation. Und so flieht am Ende der Leser in die Hoffnung, dass es sich weniger um eine äußere als um eine innere Wegbeschreibung handeln möge, vielleicht eine Aufarbeitung historischen Seelenringens. Doch vom Flur aus ist nur ein unmöblierter Verschlag zu sehen. Dass das Ich des Wanderers sich hier irgendwo niedergelassen hat, lässt der befremdliche Schluss vermuten: mit großer Genugtuung sieht der inzwischen geschmackvoll gekleidete Landstreicher an der Seite einer betreuenden Natalia die stehenden Moskauer Wagenkolonnen an sich vorbeirauschen, während sein Chauffeur auf dem verbotenem Mittelstreifen die Privilegien russischer Limousinen vorführt. 

Trotz inhaltlicher Tiefen darf der Leser wiederholt auf sprachlichen Höhen wandern.
Note: 3– (ur)<<