Die Vermessung der Welt – Daniel Kehlmann

Die Vermessung der Weltrowohlt 2005,  302 Seiten.

>>Der Autor verwebt die Lebensgeschichten der großen deutschen Naturwissenschaftler des 19. Jahrhundert, Gauß und Humboldt, zu einem aufschlussreichen Gewebe, das die Textur eines überraschenden Wissenschaftsromans und die vielfältigen Muster unterhaltsamer Situations- und Sprachkomik trägt. In wechselnden Kapiteln, die die Lebensstationen beider Wissenschaftler in Szene setzen, reist der Leser ohne aufdringliche Faktenfolge durch die Erkenntnisabenteuer beider Wissenschaftler mit keinem geringeren Anspruch, als die Welt zu vermessen. Während wir vordergründig der erstaunlichen Erforschung von Urwäldern und Sternenhimmel folgen, werden wir hintergründig zu der Vermessung zweier Psychogramme geleitet. 
In der anekdotischen Gegenüberstellung beider Genies baut sich ein kontrastreiches Spannungsfeld zwischen zwei notorischen Egomanen auf. Auch wenn beiden das unbändige Streben, die Regelwerke der Natur entschlüsseln zu müssen, gemeinsam ist, können ihre Charaktere kaum verschiedener sein. Gauß, der Mathematiker und Physiker, entpuppt sich als bissiger Kauz mit autistischen Zügen. Während er die Gesellschaft als Bedrohung meidet, ist sie für Humboldt, den Geo- und Biologen, eine unverzichtbare Bühne für seine Selbstinszenierung. Namenlose Damen ebenso wie Regenten und amerikanische Präsidenten schätzen seine charmanten und unterhaltsamen Auftritte. Nicht überraschend sind die Arbeitsweisen der beiden einmal von Einsamkeit der abgeschiedenen Schreibstube (Gauß) und das andere Mal von den provozierten Naturgewalten auf selbstmörderischen Weltreisen geprägt (Humboldt).
Auch wenn die intellektuellen Kompetenzen der beiden überwältigend sind, werden sie (notwendigerweise?) von einem Mangel an Empathie, Erotik (Humboldt) und Sozialkompetenz (Gauß) begleitet. Humboldt, von einer ehrgeizigen Mutter zum Gelehrten aufgebaut, kommt in seinem Gefühlsleben über eine stille Pädophilie nicht hinaus. Ohne den geringsten Sinn für Sinnlichkeit bleibt er ein Leben lang ohne Ehefrau und unterlegt seine Unfähigkeit mit der Anmerkung, dass man nur dann heirate, wenn man nichts Wesentliches im Leben vorhabe. Gauß dagegen, der seiner aufrichtig sorgenden Mutter über all die Jahre zutiefst verbunden bleibt, heiratet wiederholt, zeugt Kinder, hurt und schnurrt schönen Damenrücken hinterher. Angesichts seines ansonsten entrückten Daseins wirken diese emotionalen Lebenszeichen geradezu erfrischend – mehr Mensch als erwartet. Haben die unterschiedlichen Mutterbindungen der Söhne die Frauenbilder der erwachsenen Männer vorweggenommen? 
Der Aufbau des Buches folgt einem chronologischen Wechselspiel der Figuren, bei dem die Kapitel einmal Humboldt und dann wieder Gauß gewidmet sind. Das Eingangskapitel durchbricht diesen Zyklus, indem es eine späte Kongressbegegnung beider Gestalten entwickelt. In dieser Szene wird wie in so vielen anderen Passagen des Buches die zielsichere literarische Handlungsführung offenkundig. Mit Humboldt, Gauß und seinem Sohn Eugen werden bereits an dieser Stelle nicht nur alle Hauptpersonen eingeführt, sondern es werden in einer parodistischen Situation auch deren Wesensmerkmale spielerisch herausgearbeitet. Nachdem Gauß mit der Trotzigkeit eines Kleinkindes die Reise nicht verhindern konnte, erniedrigt er während der stundenlangen Kutschfahrt mit beschämender Überheblichkeit seinen Sohn Eugen: Gottes böser Humor zeige sich schon darin, dass Eugen als Dummkopf mit strotzender Gesundheit gesegnet sei, während sein eigener Geist in einen kränkelnden Körper eingesperrt sei. Bei der Ankunft in Berlin veranlasst Humboldt ein gemeinsames Foto. Die gerade erfundene Fotographie verlangt wegen der langen Belichtungszeiten mit viertelstündigem Stillhalten noch erheblichen körperlichen Einsatz, der für Humboldt selbstverständlich ist, doch Gauß an den Rand der Verzweiflung bringt. Letztlich löst ein patrouillierender Polizist das Unterfangen auf, da eine Zusammenrottung von mehr als zwei Personen in der Öffentlichkeit wegen des zu erwartenden Aufruhrs untersagt ist. So treffend läßt sich die politische Engstirnigkeit preußischer Zeitgeschichte vorführen. 
Humboldt entpuppt sich früh als Praktiker, der zunächst dem Bergbau mit naturwissenschaftlicher Methodik zu Leibe rückt und damit zu größerer Effizienz verhilft. Doch aus der Enge der Stollen treibt es ihn bald in die Weiten der Kontinente. Ein Zufall macht ihn mit dem arbeitslosen Arzt Bonpland bekannt, der ihn auf seinen akribisch vorbereiteten Weltreisen begleiten wird. An Geld und politisch unverzichtbaren Empfehlungsschreiben fehlt es nicht, so dass die legendäre fünfjährige Südamerikareise möglich wird. Als Extremsportler wird der höchste (bekannte) Sechstausender bestiegen, als Selbstmörder der Orinoco und die Verbindung zum Amazonas bezwungen, als Leichenschänder indianische Friedhöfe für die Wissenschaft erschlossen, als Aztekenforscher tausendjährige Astronomie wiederbelebt, als Workoholic zehntausendfach das Erdmagnetfeld vermessen, als deutscher Intellektueller an den Humanismus durch Erkenntnisgewinn geglaubt und als globaler Entertainer die eigene Publizität vermarktet. Am Ende legen sich wie bei späteren Nobelpreisträgern die Öffentlichkeit und ihre Repräsentanten als Schlinge um seinen Hals. Die letzte große Reise nach Russland ist bereits der Missbrauch seiner Person. Gauß ermittelt mittels neu erfundener Statistik, dass Humboldts verbleibende Lebenserwartung nur noch fünf Jahre beträgt. Auch Humboldt spürt seinen Fall, sehnt sich nach suizidalem Verlorengehen in der Natur, doch man lässt ihn nicht – der Bär soll noch auf diversen Festen tanzen. 
Ein Leben lang bleibt für Alexander v. Humboldt in paradoxer Form sein älterer Bruder der bedeutendste Beziehungspunkt. In einer konkurrierenden Symbiose versuchen sie sich als Kinder gegenseitige Qualen zu verlängern und das Leben zu verkürzen. Gleichzeitig bleiben sie einander unverzichtbare Partner. Forschungsobjekte, Berichte und Lebenseindrücke richtet Alexander in erster Linie an seinen Bruder Wilhelm. Der Ältere, der es zum preußischen Gesandten, Gründer und Professor der bedeutendsten Berliner Universität gebracht hat, vermutet dass ihr beider Schaffensdrang vor allem auf den anderen Bruder gerichtet sei. Angeblich nicht, um sich dem anderen gegenüber zu erhöhen. Oder doch – Bruderzwist als Genie gebärender Motor? 
Während Humboldt sich als Wissenschaftler entpuppt, dessen Intellektualität durch Fleiß in Form gebracht wurde, erscheint Gauß im reinsten Sinne als Genie, als gebürtiger Champion, dessen Geistreichtum von Natur aus schier unermesslich ist, ohne dass es einer mühsamen Formung bedurft hätte. Früh wird seine mathematische Ausnahmebegabung erkannt, durch die sich Lehrer sich entwertet fühlen, und das Kind Gauß verängstigen, da Lehrer es fortan bedrohen. Mit 20 Jahren ist bereits der weltberühmte arithmetische Durchbruch formuliert. Nur um Geld für die inzwischen gegründete Familie zu verdienen, wartet er in der zu jener Zeit öffentlichkeitsträchtigen Astronomie, die er als Mathematik der Fleißigen und wenig Begabten abtut, mit weiteren bahnbrechenden Entdeckungen auf. Zur Seite steht ihm jetzt mit großer praktischer Intelligenz seine Ehefrau Johanna. Er ist ihr so nah wie umgekehrt ihm die gemeinsam gezeugten Kinder fremd bleiben. Gleichzeitig gibt sie ihm Halt im Hier und Jetzt: er könne nicht so einfach nach Göttingen umziehen wollen, da dies bekanntlich zu Hannover gehöre, welches über die Personalunion mit England inzwischen ein Opfer Napoleons geworden wäre. Gauß ist überrascht über so viel Weitsicht. Beim dritten Kind stirbt Johanna. Gauß füllt geistesabwesend die Lücke mit der ihm ewig fremd bleibenden Minna. Weil er ihre Anwesenheit scheut, flüchtet er sich in die Abwesenheit eines reisenden Landvermessers. Unterwegs geht ihm Sohn Eugen zur Hand, für den er nur Spott und Tadel übrig hat. So verwundert es nicht, dass Gauß Eugen jeden Beistand versagt, als er im preußisch reglementierten Berlin bei einer konspirativen Turnvater-Jahn-Veranstaltung verhaftet wird. Stattdessen verfängt sich Gauß in seiner Ich-bezogenen Borniertheit im entscheidenden Gespräch mit einem Polizeioffizier, und der Sohn bleibt ohne jede Hilfe des berühmten Vaters.
Der Anfang und das beginnende Ende (vorletztes Kapitel) des Buches schließen einen Kreis. Beide Kapitel geben Reisen wieder. Während anfangs beide Wissenschaftler sich aufeinander zu bewegen entfernen sie sich während der Russlandreise sinnbildlich voneinander. Beider Schaffenskraft und -dasein neigt sich dem Ende entgegen. Was bleibt sind zwar Ruhm und Erkenntnis, doch nicht die beiden Gestalten, die im Schlusskapitel gänzlich fehlen. Das Schlusskapitel ringt allerdings noch mit seiner Zugehörigkeit zum Ganzen. Was am Ende des Buches als Schatten des großen Ruhmes bleibt, ist der von Vater Gauß verratene Sohn auf seiner Fahrt in die amerikanische Verbannung. Es ist eben vermessen, nur die Welt zu vermessen und das Menschsein zu vergessen. 

Überraschend überzeugend gelingt es dem Autor Ernst und Tiefe mit Leichtigkeit zu kleiden, informativ und gleichzeitig literarisch kunstvoll zu sein. Die erbauliche Leichtigkeit des Buches speist sich auch aus dem Verzicht der Wertung über die weltruhmträchtigen Taten und absonderlichen Charakterzüge der beiden großen Naturforscher. Sehr lesenswert – wie sich herausgestellt hat vor allem für Männer. Note: 1– (ur)<<