Der Weltensammler – Ilja Trojanow

weltensammler_1Hanser 2007,  466 Seiten.

>>Eine literarisch verfremdete Biographie. Drei annähernd getrennte Bücher angestrengt zusammengehalten durch den Weltensammler Burton. Drei Reisen mit zunehmend blasser Ausmalung. Weit über einhundertfünfzig Kurzkapitel. Steter Wechsel von übergeordneter Erzählung und sich wiederholenden Dialogsituationen. Allgegenwärtige Sachkenntnis, bemühte Detailverweise. Angehängter Glossar als Nachweis erschöpfender Fleißarbeit. Der geduldige Leser auf der Suche nach einem Leitfaden. Ein Entwicklungsroman? Ein Dokument der Völkerverständigung? Die stillen Momente eines Abenteuerromans?
Richard Burton wurde als Offizier der vermeintlich ehrwürdigen Ostindischen Gesellschaft nach Bombay versetzt. Imperialismus im Jahrhundert 19 mit desinteressierten Befehlsempfängern, die einmal jährlich zur Bauchpinselung indischer Lokalfürsten salutieren und ansonsten die britischen Handelsausbeuten sichern. Burton ist anders. Manisch studiert er bis zum Perfektionismus die Landessprachen und ihre Dialekte. Saugt Lebensweisen und fremde Gebräuche auf, versucht durch Verkleidung und Eintauchen in fremde Kulturen Rituale zu erschließen ohne sich ihrer zu bemächtigen. Im Konflikt mit den eigenen Vorgesetzten entlarvt er den britischen Kolonialismus als dümmlichen Imperialismus, der nur auf Grund des umfassenden Minderwertigkeitsgefühls der Unterdrückten überleben kann. Burton betrachtet das Fremde als wissenschaftliches Phänomen: interessant, dokumentationswürdig, unantastbar um seine Originalität zu wahren. Burton erscheint dabei jedoch nicht als empathischer Mensch, sondern nur als schier grenzenloses Speichermedium.

Sein Haushalt wird von zahlreichen Dienern organisiert, seine Nächte werden von der Kurtisane Kundalini versüßt. Ihre Liebesdienste wecken den Menschen in Burton. Er will sie ganz verstehen, will nicht nur ihre ergebenen Dienste sondern ihre Gefühle, die sie ihm jedoch aus Angst vor einem späteren Verlust vorenthält. Kundalini ist als religiös missbrauchte Klosterprostituierte auf einer mentalen Flucht und bleibt in der erfolglosen Suche nach einer anderen Identität und Geborgenheit gefangen. Sie ist eine Aussätzige, der man am Ende sogar ihre Bestattung verweigert. Kundalinis Identitätsleere steht im Gegensatz zu Burton, der suchtartig wieder und wieder in neue kulturelle Identitäten schlüpft um diese inhaltlich zu durchdringen. Durch Kundalinis Tod, der vielleicht ein Eifersuchtsmord seines Dieners war, bricht Burton seelisch ein, teilt fortan sein Haus mit sechs Affen und erklärt eine von ihm geschminkte Affin zu seiner Mätresse.

Wie aus den eingestreuten Dialogen zwischen seinem Oberdiener Naukaram und einem Schreiber deutlich wird, teilte Naukaram mit dem ahnungslosen Burton Leib und Liebe von Kundalini. Alle drei werden Verlierer dieser unheiligen Verbindungen. In den Dialogen mit dem Schreiber wird ein weiteres Identitätsmotiv entwickelt. Der Schreiber, der an sich nur ein Empfehlungsschreiben für Naukaram aufsetzen sollte, ist zunehmend fasziniert von Naukarams Berichten über Burton und entlockt ihm immer mehr Details. Da er als Schreiber nicht die erhoffte Wertschätzung genießt, nutzt er Naukarams Erzählungen, um sie weiter zu spinnen in der Hoffnung, mit einem eigenen Werk zum Literaten zu werden und sich damit einen Identitätstraum zu erfüllen.

Jahre später ist Burton wieder unterwegs. Inzwischen unter dem Namen Sheikh Abdullah. Die Berührung mit dem Islam während der ersten Reise hat ihn konvertieren lassen. In Ägypten praktiziert er als Arzt, der er eigentlich nicht ist, dem aber bald durch seine Heilerfolge ein legendärer Ruf vorauseilt. Doch er verspielt durch Trinkgelage diesen Ruf. Letztlich erleichtert, endlich keine Rolle mehr spielen zu müssen, begibt er sich auf die strapaziöse Pilgerfahrt nach Mekka. Die Fahrt ist von Überfällen, Entbehrungen und der Angst vor dem Entdecktwerden gezeichnet. Denn sollte er als vermeintlich Ungläubiger entlarvt werden, wäre sein Leben gefährdet.

Die Kaaba, die Inbrunst der religiösen Massenrituale und der Rausch hunderttausender Gläubiger überwältigen ihn – ein emotionaler Tsunami, auf den er nicht vorbereitet ist, und der ihn zeitweise fortspült. Und dennoch kommen ihm Zweifel: zwar nimmt der Islam seinen Ausgang nicht bei einer Erbschuld wie im Christentum, doch zeugt der positive Gedanke, dass alle Menschen einander gleichermaßen schätzen und stützen sollen von mangelnder Weisheit, weil er in der Enge des menschlichen Herzens nicht lebbar sei. Die auch in diesen Reisebericht eingefügten, wiederkehrenden Dialogkapitel bescheinigen Burton ausgeprägte altruistische Züge, womit er gerade jenen Charakter darstellt, den er als Gegenstand seiner religiösen Zweifel in Frage stellt. Entsprechend stößt der türkische Großwesir, der Burton als Spion zu entlarven sucht, bei Zeugenbefragungen nur auf wahrhaft anerkennende Aussagen über den selbstlosen Burton.

Die letzte große Reise führt nach Ostafrika. Von Sansibar ausgehend sucht Burton mit einer Expeditionsgruppe von über 100 schwarzen Trägern, bewaffneten Milizen und dem zunehmend konkurrierenden englischen Entdecker Speke auf dem afrikanischen Kontinent die Ursprünge des Nil. Während die indische Reise der Entdeckung des Fremden und die arabische der des religiösen Ichs diente, wird die dritte Reise von der Eitelkeit des Ego getrieben. Das geographische Ziel soll vor allem das Vehikel für den erhofften Ruhm hergeben. Wieder begleiten unendliche Strapazen die Karawane, die in wasserlosen Wüsten fast verdurstet, in sintflutartigen Regengüssen von Schlammlawinen begraben wird, und in der brütenden Feuchtigkeit durch nicht endende Erkrankungen gelähmt wird. Am Ende ist es Speke, der am durch Malaria niedergestreckten Burton vorbeizieht, den Viktoriasee als Quelle des Nil entdeckt und später die großen Ehrungen der Heimat für sich beansprucht.

Trojanow zeichnet einen britischer Burton, der wie der deutsche Humboldt den Weg zum Ziel erklärt, für den sich die Suche zur Sucht verdichtet und dabei Vieles findet nur nicht sich selbst. Beide befähigt Ehrgeiz und der Hang zum Skurrilen zu grenzenloser Ausdauer bis an die Grenzen der physischen Selbstaufgabe. Trojanows „Weltensammler“ Roman hat dabei nicht die Klar- und Leichtigkeit von Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ (Humboldt…). Dennoch überzeugt Trojanow immer wieder durch sprachliche Raffinesse und die Paralleldarstellungen einmal aus der Sicht des übergeordneten Erzählers und einander mal aus der voreingenommener Zeitgenossen. Dennoch leidet der Roman nachhaltig unter der unvollendeten inhaltlichen Konzeption, dem situativen Flickenteppich und ermüdender Längen. Note: 3– (ur)<<

>>Auf der ersten und auf der letzten Seite ist es so dämmrig, dass  ein schwarzer und ein weißer Faden nicht mehr zu unterscheiden sind. Der rote Faden im „Weltensammler“ ist hingegen gut erkennbar: Anekdoten, Episoden, Reflexionen und Abenteuer  verschiedenster Art reihen sich aneinander. Die Reise geht nach Bombay und zurück nach England über Arabien zu den Quellen des Nils. Richard Burton (1821-1890), ein meist vorbildlicher interkultureller Lerner, ist der  Fremde „verfallen“. Er möchte  „denken, sehen, fühlen“  wie ein Nativer und  wird dadurch als Mitglied einer kolonialen Armee zum Außenseiter. Lokalkolorit in Fülle, ein langes Glossar hilft, es ist aber längst nicht vollständig.  Der Erzähler setzt vor allem im ersten Teil sehr geschickt eine Collagetechnik ein, die die Handlung aus völlig unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und dadurch die Länge des Buches weniger spürbar macht. Manchmal geraten die Erzählabschnitte auch zu Häppchen, der Leser wird fast zum Zapper. Fast alle bekannten Textsorten  (Protokoll, Dialog, Brief, Lyrik) kommen zum Einsatz. Man spürt, dass der Autor seinen Stoff kennt und sehr gründlich bearbeitet hat.
Die Robert Bosch Stiftung hat ihm vermutlich ideale Arbeitsbedingungen ermöglicht, die nicht jedem Schriftsteller vergönnt sind. Manchmal wirkt  die Fabulierlust des  Autors etwas grenzwertig:
„… Wolke um Wolke, und er wurde hart wie ein Gewehrlauf…“ (S.37)
„während sie auf seinem pulsierenden Staunen sitzen blieb“ (S.154, das pulsierende Staunen wiederholt sich)
„Wenn seine Gesichtszüge sich in Bewegung setzen, verlassen sie den Hafen der Hässlichkeit“(S.383),
„…summten die Moskitos ein allnächtliches Stabat Mater über den ausgestreckten Leibern“ (S.279).

Wer mir den obigen Satz schlüssig erläutern kann, erhält von mir umgehend einen Vividus-Büchergutschein in Höhe von 10€.  Die Zeit läuft.

Die professionellen Rezensenten sind  voll des höchsten Lobes über dieses Buch. Auf dem Buchdeckel der Bäbber „Beststeller“. So  kann ich mich kurz fassen: Insgesamt ein lohnendes Buch, streckenweise sehr spannend, manchmal vielleicht auch ein bisschen Karl May für die so genannten gebildeteren Schichten, wobei ich nichts gegen Karl May gesagt haben möchte. Note: 3+ (ax) <<

>>Trotz Bestseller-Ankündigung: Mich hat der Weltensammler nicht gepackt, die Klappenversprechungen nicht eingelöst: Ich fand ihn weder packend, noch wirklich abenteuerlich. Der Protagonist Burton ist mir als Mensch fremd geblieben. Von seinen Gefühlen habe ich wenig erfahren. Sicherlich ist der Roman kunstfertig konstruiert: Verschiedenste Perspektiven, bei denen nicht immer sofort klar ist, wer eigentlich spricht oder erzählt, versetzte Zeitebenen, diverse Formen – alles halt, was den gemeinen Literaturkritiker halt so erfreut. Dem Lesevergnügen dient es nicht. Auch vermisst man sowohl sprachlichen als auch inhaltlichen Witz. Die Fülle landeskundlichen Details oder originalsprachlicher Zitate oder Begriffe wirkt eher ermüdend als authentisch.  Das Eintauchen in die fremde Kultur, die man sich erhofft hat, bleibt weitgehend aus. Am ehesten gelingt Trojanow dies noch im ersten Teil, der in Indien angesiedelt ist. In den Begegnungen mit den Kurtisanen finden sich sprachlich starke Passagen, trotz etwas bemüht wirkenden wörtlichen Satzwiederholungen bei den Vereinigungsszenen. Der Name Kundalini für seine indische Geliebte wirkt auf mich allerdings etwas vordergründig und platt, bezeichnet er doch nach der tantrischen  Lehre die in jedem Menschen innewohnende „göttliche kosmische Kraft“, die sich ruhend am unteren Ende der Wirbelsäule befindet.
Ob ich dieses Buch weiterempfehlen kann? – Nein. Note: 4+ (ün)<<

>> Statt imperialer Kolonialgeschichte drei Entdeckungsreisen des Leutnants der britischen Armee Richard Burton, die zeigen, was den modernen Bush-und-Blair-Kriegern auf allen Ebenen fehlt: Verständnis für die Andersartigkeit fremder Kulturen (lassen wir einmal  die Rückfälle Burtons über die „Primitivität“ afrikanischer Häuptlinge kurzfristig außer Acht). Doch die teils faszinierenden Einblicke in die Welt des Hinduismus, des Islam und der afrikanischen Naturreligionen muss sich der Leser hart verdienen: im Gestrüpp verschiedener Erzählperspektiven, Textsorten und überbordender Details und nur scheinbar an die Hand genommen durch ein fast unbrauchbares Glossar gerät zuweilen sogar Kundalini, die es im ersten Teil am wenigsten verdient hätte, aus den Augen. Pflichtlektüre für US and Royal Army trotz Note: 3 (ai)<<