Wer den Wind sät – Michael Lüders

Wer den Wind sätC.H. Beck  2015 | 175 Seiten.

>> Lüders beschreibt vor allem die Aussenpolitik der Vereinigten Staaten im Nahen und Mittleren Osten nach dem 2. Weltkrieg. Dabei ist seine Bilanz ernüchternd und erschreckend zugleich. Vom Putsch im Iran, dem Sturz des frei gewählten Premierministers Mossadegh 1953 durch den CIA über die militärischen Interventionen in Somalia, Afghanistan, im Irak, in Syrien und in Libyen (letzeres in Form „delegierter Kriege“ vor allem durch Großbritannien und Frankreich) bleibt ein Scherbenhaufen. Staaten zerfallen, Terrororganisationen wie Al-Qaida und der Islamische Staat entstehen, daneben auch marodierende Banden, die Zivilbevölkerung ist das eigentliche Opfer, Millionen Flüchtlinge verlassen ihre Heimat. Das Grundmuster interventionistischer Politik ist immer dasselbe: Dämonisierung des Gegners, Gut-Böse Klischees, vermeintlich ethische Motive im Namen von Demokratie und Menschenrechte, wo es um knallharte machtpolitische und ökonomische Interessen geht. Wirtschaftsanktionen, auch sie betreffen vor allem die Bevölkerung, gehen als Knebelinstrument der Entscheidung für militärische Mittel voraus. Der militärischen Strategie scheint keinerlei Perspektive einer neuen staatlichen Ordnung zu folgen. Unter Missachtung historischer Entwicklung religiöser und politischer Gegebenheiten (innerislamische Konflikte Sunniten/Schiiten, Feudalstaatlichkeit, Clan- und Stammesstrukturen, Klientilismus etc.) bestimmen angloamerikanische Denkmuster das politische Handeln. Wo, so möchte man auch Lüders fragen, sind angesichts solcher Naivität der politischen Eliten die intellektuellen Eliten der Islamwissenschaft, der Kenner der arabischen Welt? Oder ist das Oval Office allein das Vorzimmer der Rüstungs- und Erdölindustrie, den einzigen Gewinnern des amerikanischen Interventionismus. Neben der im wörtlichen Sinne verheerenden Rolle der USA und z.T. ihrer westlichen Verbündeten wird in Lüders Analyse das innerstaatliche Konfliktpotentiale des arabischen Raumes eher am Rande erwähnt. Rückständigkeit, vorwiegend ländliche Strukturen, Fehlen städtischer Mittelschichten, religiöser Fanatismus, Missachtung von Menschenrechten, korrupte Eliten, keine legitimierten Institutionen – die notwendige Basis für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im westlichen Sinne fehlt. Hinzu kommt, dass durch Erdöl reich gewordene Staaten wie Saudi-Arabien und die Golfstaaten ein doppeltes Spiel spielen, das allerdings durch gigantische Rüstungsexporte vor allem aus den USA befeuert wird. Auch die kompromisslose Politik Israels gegenüber den Palästinensern, die Verweigerung einer Staatenlösung, die völkerrechtswidrige Besatzungs- und Siedlungspolitik, die Brutalität der Gazakriege und die Zerstörung der Lebensgrundlage der dortigen Bevölkerung, vom Westen fast widerspruchslos geduldet, steht jeder Befriedungsperspektive im Nahen Osten im Wege. Lüders Analyse von mehr als 50 Jahre amerikanische Interventionspolitik und ihrer Folgen im vorwiegend arabischen Raum ist dringend notwendig, zumal in solch verständlicher Form. Sein Urteil schonungslos, vielleicht zuweilen auch provokativ. Was fehlt ist die Frage: Welche Alternativen bieten sich an? Gibt es zwischen Raushalten und militärischem Eingreifen noch einen dritten Weg? Für die Zivilbevölkerung ist er überlebensnotwendig. Note: 1/2 (ai) >>

>> „Was westliche Politik im Orient anrichtet“ ist das Thema des Buches, das der ZEIT-Korrespondent Michael Lüders geschrieben hat. Rund 60 Jahre blickt er zurück. Der „Sündenfall“ beginnt mit dem gewaltsamen Sturz des demokratisch gewählten iranischen Premierministers Mossadegh durch CIA und britischen Geheimdienst. Alles was später im Iran passieren wird, lässt sich hieraus ableiten. Die fatalen Interventionen im Nahen und Mittleren Osten zeitigen schlimme Folgen. Im Schlusskapitel kritisiert der Autor das Kritiktabu am Staat Israel. Ein Stichwortverzeichnis und eine Liste der verwendeten Abkürzungen hätten die Lektüre erleichtert. Auf der letzten Seite schlägt Lüders vor, die Schreibtischtäter George W. Bush, Dick Cheney, Tony Blair und Donald Rumsfeld vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu stellen. Dies wird eher ein frommer Wunsch bleiben. Leider. Ein gut zu lesendes Buch, das klüger macht.
Note: 1/2 (ax)<<

>> Vieles von dem,  was Michael Lüders in diesem wichtigen Beitrag zur aktuellen Lage in Nahost schreibt, ist dem kritischen Beobachter des Zeitgeschehens wohl durchaus bekannt, vielleicht aber nicht mehr voll im Bewusstsein gewesen. Das ist das große Verdienst Lüders: Die komplexen Zusammenhänge historisch nochmals aufzuzeigen. Angefangen vom Sturz der gewählten Regierung Irans durch den CIA im Jahre 1953, die anfängliche Unterstützung der Taliban und Osama bin Ladens in Afghanistan und Sadam Husseins im Irak durch die USA , das spätere Embargo Iraks durch die USA , das Millionen Opfer gefordert hat, bis hin zu den plumpen Fälschungen über angebliche Massenvernichtungswaffen, mit denen der 2. Irakkrieg 2003 gerechtfertigt wurde. Dass dieser Krieg, der die gesamte staatliche Struktur des Irak zerstört hat, Ursache für das Aufkommen der islamistischen Terroristen war, hat nun in einem bei Politikern seltenen Akt der Einsicht sogar Tony Blair zugegeben, immerhin einer der  „willigen“ Beteiligten in diesem Krieg. Lüders wirft dem Westen m.E. nach zu Recht vor, zu häufig, aus Ignoranz oder aus reinem Machtkalkül soll dahingestellt sein, die Falschen unterstützt zu haben und die gesamte Region mit seinen Interventionen ins Chaos gestürzt zu haben. Unverständlich auf diesem Hintergrund bleibt dann allerdings Lüders Empfehlung, in den Muslimbrüdern eine Alternative zum Wahabismus der Saudis zu sehen. Note: 2 (ün)<<

>> Der ehemalige Nahostexperte der „DIE ZEIT“ Lüders seziert die gegenwärtige und bis in die Zwanziger Jahre reichende Vergangenheit verschiedener vorderasiatischer und afrikanischer Regionen. Ein Fazit seiner politischen Analyse ist die Anklage an den industrialisierten Westen, der ursächlich die zerstörerische Entwicklung vieler Staaten beeinflusst habe.

Iran. Ohne auf die historischen Eigenarten distinkter Staaten oder Aspekte des Kolonialismus einzugehen, verortet Lüders den entscheidenden Sündenfall des Westens im Putsch des Jahres 1953 im Iran. Im iranischen, von den Briten erschlossenen Abadan wurde 90% des damals in Europa gehandelten Erdöls raffineriert. Weil nur 15% der Einnahmen dem Iran zugutekamen, entwickelten sich politische Unruhen. Aus der folgenden demokratischen Wahl ging die Nationale Front mit ihrem in der Schweiz ausgebildeten Rechtsanwalt Mossadegh als Sieger hervor, der als Premierminister die Verstaatlichung der Erdölindustrie und die Einengung der Autokratie des Schahs betrieb. In dem darauf folgenden Putsch und durch die Inhaftierung von Mossadegh gelang es den britischen und amerikanischen Geheimdiensten M6 und CIA stattdessen Schah Reza Pahlevi zu inthronisieren, den Ölnachschub zu sichern und direkt benachbart zur Sowjetunion einen amerikanischen Militärstützpunkt zu installieren. Dieser darauf 26 Jahre andauernde Zustand habe
– laut Lüders – die Grundlage für die iranische Revolution 1979 gelegt. Dabei sei nicht nur Ayatollah Khomeini im schiitischen Iran an die Macht gekommen. Auch der islamische Fundamentalismus habe dadurch in vielen sunnitischen Ländern von Marokko bis Indonesien seinen Big Bang erlebt. Die Entwicklung ging auf Kosten säkulärer, nationalistischer und pro-westlicher Strömungen.

            Afghanistan. Amanullah Khan wurde erster König nach der Unabhängigkeit 1919. Seine Modernisierungsversuche des mittelalterlichen Landes in Anlehnung an Atatürks Reformen in der Türkei scheiterten jedoch an landesweiten Aufständen der Landbevölkerung, regionalen Clans und der Geistlichkeit. Mit Khans Sturz wurden Schulpflicht, Schulmöglichkeit auch für Mädchen und allgemeine Alphabetisierung unerreichbar. Der entbrannte Bürgerkrieg wurde von den konkurrierenden Weltmächten Sowjetunion und USA nach Kräften befeuert. Den USA gelang es mittels durch die CIA unterstützter Mudschahedin, die Sowjetunion zur Invasion zu provozieren und sie damit in ein zweites „Vietnam-Abenteuer“ zu locken. Nach 10 Jahren mussten die Sowjets den Kampf erfolglos und wirtschaftlich ausgeblutet abbrechen. Damit sei laut dem amerikanischen Sicherheitsberater Brzezinski das überhaupt wichtigste Ziel, der Zusammenbruch des Sowjetsystems, erreicht worden. Für dieses geopolitische Ziel habe es Afghanistan als Plattform gebraucht. Laut Lüders habe sich im folgenden Chaos Al-Qaida und später Osama bin Ladens Taliban etablieren können.

Überlagert wurde und wird die Situation von konkurrierenden islamischen Kräften. Das sunnitische Saudi-Arabien versucht den erzkonservativen Wahabismus in der gesamten islamischen, überwiegend sunnitischen Welt zu verbreiten und zu dominieren. Der vor allem von muslimischen Jugendlichen präferierte Salafismus als „Wahhabismus light“ mit seiner idealisierten Rückbesinnung auf das 7. Jahrhundert gerät dabei genauso in militärische Konkurrenz wie Al-Qaida, Taliban und der sunnitische Islamische Staat IS. Allen gemeinsam ist u.a. das Prinzip „takfir“, das die Liquidierung aller muslimisch- und nicht-muslimisch Andersgläubigen fordert. Unterschiedlich sind in den verschiedenen sunnitischen Strömungen jedoch die Loyalitäten: entweder gegenüber dem saudischen König, oder dem IS Kalifen oder dem Nachfolger Osama bin Ladens. Diese Unterschiede machen die meisten Fraktionen zu Todfeinden, so dass eine Viel-Fronten Konfrontation die logische Konsequenz ist.

Irak. Der Irak wurde bereits seit mehreren Jahrhunderten trotz ihres Minderheitenstatus von einer sunnitischen Machtelite regiert, als Saddam Hussein unter dem Dach der arabisch-nationalistischen Baath-Partei die Macht ergriff. Die 80% Mehrheit von Kurden und Schiiten hatte auch nach dem ersten Weltkrieg im künstlichen Staatsgebilde Irak weiterhin das blutgetränkte Nachsehen. 1980 versuchte Saddam Hussein vergeblich sich in einem verlustreichen Krieg Öl-reiche Regionen des Irans einzuverleiben. Der schiitische Iran antwortete u.a. mit einer halben Million geopferter Kindersoldaten als menschliche Minenräumkommandos. Das Massensterben endete mit einem Patt und gigantischen Staatsschulden des Irak nach acht Jahren. Um der entstandenen Schuldenlast zu entkommen, überfiel das Hussein Regime 1990 Kuwait, womit der weltweit größte Öllieferant entstanden wäre. Eine von den USA geführte Koalition befreite innerhalb von 6 Wochen Kuwait. Die Kosten von über 60 Milliarden Dollar trug zur Hälfte Saudi-Arabien. Deutschland zahlte ebenso mehrere Milliarden ohne jedoch militärisch direkt einzugreifen. 2003 wurde in dem Krieg der Willigen das Regime liquidiert und Hussein schließlich 2006 gehängt. Lüders sieht mehrere US-Verantwortungspunkte. 1) Der iranisch-irakischen Krieg wäre nach 2 statt nach 8 Jahren zu Ende gewesen, hätten die USA nicht das Hussein Regime militärisch gerettet, da der Iran schon die Übermacht gewonnen hatte. Die USA wollten jedoch auf keinen Fall eine Stärkung des Iran zulassen. 2) Dass die USA Kuwait befreiten, sei honorig. Den USA sei jedoch vorzuwerfen, dass sie anschließend Hussein und sein Regime im folgenden Irakkrieg mit Lügen von Massenvernichtungswaffen verteufelten. 3) Nach dem Sieg hätten die USA den folgenschweren Fehler gemacht, die Sunniten-dominierte Baath-Partei zu verbieten. In der Folge hätten sich die jetzt politisch heimatlosen Aktivisten zu neuen Guerilla Einheiten gegen die neuen schiitischen Machthaber zusammengeschlossen. Späte Folge des US initiierten Chaos sei die Entstehung des IS.

Angefeuert wurde bzw. wird der desolate Zustand im Irak durch die Regionalmächte Iran und Saudi-Arabien, die jeweils die schiitischen bzw. sunnitischen Fraktionen militärisch unterstützen. Der konfessionell aufgeladene Bürgerkrieg hat somit eine Stellvertreterfunktion und fordert nach wie vor monatlich 3.000 Tote. Ein ähnlich trauriges Schauspiel liefern sich beide Regionalmächte gegenwärtig im Jemen, wo die schiitischen Huthi-Rebellen als IS-Ableger gegen die sunnitische Machtelite angetreten sind.

Syrien. Das machtpolitische Syrien ist schiitisch und enger Verbündeter des schiitischen Irans. Damit ist Syrien natürlicher Feind der USA (und Israels). Vor allem in Syrien kollidieren erneut geopolitische Ambitionen, da hier Russland seine einzige Mittelmeerbasis unterhält und ebenso auch von China gegen den kapitalistischen Westen gestützt wird, während Europa – allen voran Frankreich 2012 mit Sarkozy – den Sturz des Diktators (vergeblich) betrieb/betreibt. Ausgangspunkt ist der arabische Frühling 2011, als sich Bevölkerungsteile gegen das Regime erhoben. Seitdem verteidigt Assad mit noch größerer mordenden Konsequenz die Macht gegen sunnitische Aufständische. Neben den militärisch organisierten Hauptakteuren Assad-Regime, Kurden im Norden, Nusra-Front/Al-Qaida und konkurrierender islamischer Staat IS gibt es vermutlich mehr als 1.000 Fraktionen von Warlords, konkurrierenden Clans, und lokal marodierenden Milizenfraktionen, die keine politischen Ziele sondern persönliche Bereicherung verfolgen. Hier sind also höchst gefährlich völlig unübersichtlich metastasierende Gewaltgeschwüre aller Größenordnungen mit geopolitischen Globalinteressen verquickt, so dass eine Parteinahme fast unmöglich wird.

Lüders erhebt an dieser Stelle den Vorwurf, dass man Assad nicht hätte abkanzeln dürfen. Das Blut-Vergießen wäre dann geringer ausgefallen. An anderer Stelle formuliert der Autor jedoch entgegengesetzt den Vorwurf, dass der Westen mit Gewalttätern zusammenarbeitet, was prinzipiell verwerflich sei. Oder dass der Westen zu einem Zeitpunkt mit Aufständischen zusammenarbeitet, die zu einem späteren Zeitpunkt zu ihren Feinden werden (s. Afghanistan/Taliban/Osama bin Laden).

Arabischer Frühling. Die Arabellion 2011 hat mit Ausnahme von Tunesien in keinem arabischen Land zu nachhaltigen Veränderungen im Sinne von Rechtstaatlichkeit geführt. Im Gegenteil versinken Regionen wie Libyen, Syrien, Jemen, Afghanistan und der Irak in Zustände wie sie im Dreizigjährigen Krieg in Europa kaum besser waren. Eine entscheidende Ursache sieht Lüders darin, dass die Gesellschaften weder in Ihrer Strukturentwicklung (noch in ihren Wertevorstellungen, Anmerkung) reif für zeitgemäße Staatlichkeit sind. Wichtigstes, weil stabilisierendes Merkmal sei das Fehlen ausgeprägter Mittelschichten. So hätte Mubarak nach drei Jahrzehnten in Ägypten gestürzt, die folgende Sisi-Militärregierung nicht aber verhindert werden können. Entsprechend bewirkten zwischenzeitlich die freien Wahlen, die aus westlicher Sicht mit der Moslembrüderschaft ohnehin den „falschen“ Wahlsieger hervorbrachten, einen katastrophalen Systemrückschritt. Ebenso hätte die Liquidierung von Gaddafi und Saddam Hussein Libyen und den Irak in ein brutalisiertes Chaos gestürzt, welches als Kollateralschaden nach Syrien ausstrahlend noch den IS hervorgebracht hätte. Gleichzeitig formuliert Lüders, dass der Ölreichtum Libyens ausreichen würde, allen 6 Millionen Einwohner einen Schweizer Lebensstandard zu ermöglichen. Eigennutz, mittelalterliche Denkstrukturen und Wertekanons inklusive der Blutrache sowie parasitäre Klientelwirtschaft großer und kleinster Machthaber vor Ort verhindern jedoch jeden sozialen Ausgleich. Die Folge ist, dass Libyen unregierbar geworden ist.

Die Gründe, warum allein Tunesien einen wenn auch labilen Wandel zum Besseren schaffte, sieht Lüders in verschiedenen Teilaspekten. Dazu zählen eine gut verwurzelte Zivilgesellschaft, eine relativ breite Mittelschicht, geringere soziale Gegensätze, eine starke Gewerkschaftsbewegung, eine untergeordnete Armee (anders als in Ägypten) und inzwischen eine 2014 ratifizierte Verfassung mit Trennung von Staat und Kirche, Glaubensfreiheit, Gleichstellung von Frauen und der Verurteilung von „takfir“ und eben kein Platz für eine Scharia-Rechtsprechung.

  1. Der Islamische Staat IS ist personell aus irakischen Milizen hervorgegangen, folgt sunnitischen Grundgedanken und steht damit den schiitischen Machtzentren im ehemaligen Irak und Syrien (und Iran) konträr entgegen. Die kompromisslose Radikalisierung greift religiöse Urformen des Islam (Wahabismus) auf und integriert sie in eine Staatsidee in Form des Kalifats. Damit gibt sie vielen Arabern eine konstruktivere Identifikationsfläche als z.B. Al-Qaida mit dem perspektivarmen 9/11 Terror. Nicht überraschend stehen Al-Qaida und IS in Konkurrenz zueinander. Ebenso Saudi-Arabien und IS, die beide um das ideologische Führungsprimat ringen: die Geister, die der Wahabismus rief, könnten ihren Lehrmeister vom Thron stürzen. Das Erfolgsrezept des IS ist u.a. seine in der Bevölkerung gefürchtete Gewalttätigkeit, die z.B. konsequente Exekution von andersgläubigen Kurden und Schiiten praktiziert. Gleichzeitig stabilisiert der IS seine staatlichen Strukturen, organisiert offensichtlich professionell das kommunale Leben und schafft für sich-unterordnende Mitglieder ein geregeltes Alltagsleben. Im Herbst 2015 hat der IS bereits 6 Millionen Einwohner und die Hälfte Syriens und große Teile des Irak unter seiner Kontrolle.

Kurden. Die Kurden sind wie die Palästinenser ein Volk ohne Staat, da es sich nach dem ersten Weltkrieg durch die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und England auf die vier Staaten Türkei, Syrien, Irak und Iran aufgeteilt sah. Kurden stellen keine homogene Population dar, sondern vereinen zwei einflussreiche Strömungen: eine feudalstaatlich und eine sozialrevolutionäre, zu der die PKK zählt, welche mit Religion und traditionellen Stammesstrukturen gebrochen hat. Die Kurden im Nordirak haben vom Staatszerfall des Irak profitiert und stehen kurz vor der Unabhängigkeit. Die Region ist mit ihrem Ölreichtum wirtschaftlich eine Boomregion. Die Türkei nutzt verhalten die irakischen Kurden gegen den IS, reglementiert jedoch die Kurden in der Türkei aufs Schärfste. Deutschland definiert die kurdischen Streitkräfte des Nordirak (Peschmerga) als „gut“ und unterstützt deren Kampf gegen den IS mit Waffen. Gleichzeitig stuft Deutschland die PKK, die hier die meisten Frontkämpfer gegen den IS stellt, als Terrororganisation ein.

Israel. Palästinenser. Palästinenser sind auf die beiden nicht-zusammenhängenden Territorien Westjordanland und Gazastreifen aufgeteilt, deren verfeindete Automoniebehörden Fatah (West Bank) und Hamas (Gaza) sunnitisch ausgerichtet sind. Der Gazastreifen mit 1,8 Millionen Einwohnern wird laut Vereinten Nationen 2020 nicht mehr bewohnbar sein, aus Mangel an fehlenden Ressourcen u.a. bedingt durch anhaltende, israelische Kriegsschäden. Im Laufe der Staatsgründung vertrieben die Juden 800.000 Araber aus ihrem neuen Staatsgebiet. Gegenwärtig wird das Westjordanland von Israel sukzessive durch eine aggressive Okkupationspolitik und Ansiedlung jüdischer Bürger zerstückelt. Die israelische Annexion von Ländereien des durch die UN garantierten unabhängigen Westjordanland bleibt ungesühnt. Das gleiche gilt für die israelische Zerstörung von Einrichtungen im Gazastreifen, die von der EU finanzierte Hilfsprojekte darstellen. Ein Beispiel ist der Flughafen in Gaza. Statt Israel zur Verantwortung zu ziehen, reagiert die EU mit erneuten Hilfsfinanzierungen. Militärisch und wirtschaftlich wird Israel am stärksten von den USA unterstützt. Gleichzeitig arbeitet Deutschland sich seit 70 Jahren mit Sonderprogrammen an seiner historischen Schuld ab, indem für das jüdische Israel z.B. Kriegsgroßgeräte wie Korvetten und acht U-Boote mit zwei Milliarden Euro durch deutsche Steuergelder subventioniert werden. Moralisch sieht Lüders den Westen und vor allem Deutschland in einer schizophrenen Situation. Kriegstechnisch organisierte Massenmorde durch Israel an Palästinensern werden als Selbstverteidigung definiert, Intifada Morde der Palästinenser an Juden als Terror. So gibt es auch keine offizielle, deutsche Kritik an der amtierenden Israelischen Justizministerin Shaked zu Tötungsaufrufen bzgl. palästinensischer Mütter, die sonst noch mehr Märtyrerschlangen gebären würden. Ebenso bleiben die Ethnokratiebestrebungen Israels unkommentiert. 2014 hatte Israel in einem Gesetz Israel zum Nationalstaat des jüdischen Volkes erklärt und Arabisch als zweite Amtssprache abgeschafft. Da die Bevölkerungsentwicklung in absehbarer Zeit die nicht-jüdischen Araber zur Mehrheit machen wird, soll das neue Gesetz ihre Entrechtung und eine gesetzlich verankerte Ethnokratie analog der südafrikanischen Apartheid ermöglichen, schreibt Lüders.

Perspektiven. Was sind die Perspektiven? Lüders vermutet, dass – im Gegensatz zu säkulären Industrienationen – im arabischen Raum nur jene Protestbewegungen eine Chance haben, die islamisch verwurzelt sind. Der herrschende Bezugsrahmen aller Bevölkerungsgruppen in den verschiedenen Ländern sei zu tief im islamischen Glauben verankert. Im Grunde legt Lüders dar, dass die arabischen Nationen nicht reif seien für die Freiheitsbegriffe (Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung…) wie der Westen sie praktiziert. Dazu bräuchte es eine robuste Verankerung dieser Prinzipien im Kopf jedes Einzelnen einer Gesellschaft. Dass dieser millionenfache Lehr – und Lernprozess auch in Europa unglaublich schwer und mühsam war, über Jahrhunderte ging und Millionen von Toten forderte, ist wahr aber natürlich nicht tröstlich. Der arabische Raum ist so gesehen noch in einer blutgetränkten frühen Lernphase, dessen Ende nicht absehbar ist. Das Ergebnis für den Westen ist eine neue Unübersichtlichkeit. Vielerorts entstehende Machtzentren unterschiedlicher Größenordnungen tragen zu einer schwer kalkulierbaren Multipolarität bei.

Die Kritik von Lüders an den Industrienationen, allen voran an den USA, fällt auf Grund ihrer Mitverantwortung harsch aus und reicht von wirtschaftlicher Selbstbereicherung, über humanitär begründeten Imperialismus, politische Ignoranz bis zu militärischem Machtstreben. Auch wenn der Autor sich offensichtlich in Bewertungswidersprüche verstrickt (z.B. Tyrannen liquidieren versus mit ihnen kooperieren), sind die Darstellungen kenntnisreich, erhellend und lesenswert. Lüders aktionspolitisches Fazit ist: bescheidener agieren, teilen und soziales Gefälle mindern, potentiell friedenstiftende Angebote machen, gelegentlich bei überschaubaren (?) Konflikten militärisch eingreifen und dennoch den humanistischen Wertekanon nicht aufgeben.

Was der Autor nicht sagt: Für die deutsche Außenpolitik könnte empfohlen werden, sich weder passiv (Waffenlieferungen…) noch aktiv an militärischen Konflikten zu beteiligen, sondern Nationen und Völkern ihre Wege und Irrwege zuzugestehen, wenn sie denn von den anderswo gelebten Alternativen nicht zu überzeugen sind. Für den heimischen Zuschauer bedeutet dies natürlich, dass er auch viel mehr als bisher damit zurechtkommen muss, dass der Mensch massenhaft und vielerorts unglaublich brutal verhält. Ein Faktum, dass auch im historischen Europa ganz natürlich schien, dank unserer ethischen Entwicklung jedoch mancherorts in Vergessenheit geraten ist.

Note: 3+ (ur)<<

Alles ist jetzt – Julia Wolf

K640_alles_ist_jetztFrankfurter Verlagsanstalt 2015 |  159 Seiten.

 >> Wenn alles jetzt ist, ist es besonders intensiv und gänzlich auf einen Punkt bezogen. Oder eben nicht und stattdessen ohne Bezug zum Zuvor und dem Danach. Oder aber beides. Wenn es intensiv ist und jeden aufeinanderfolgenden Punkt verdichtet, könnte eine durchgehende Reichhaltigkeit von Leben folgen. Julia Wolf skizziert in Ihrem Debütroman das Gegenteil. Alles ist jetzt ist die unruhige Leere, in der die Bezüge zu Vergangenheit und Zukunft sich verflüchtigen. Die Folge ist eine amputierte Gegenwart, ein ausgemergeltes Moment-Bewusstsein, mit dem sich ihre Protagonistin Ingrid durch Überlebenstage quält. Je länger dieser Zustand anhält, desto kürzer erscheint die Abfolge, desto mehr versickert schon gewesene Zeit. Die Inversion des Geschehens. Wie ein in sich kollabierendes Schwarzes Loch.

Ingrid ist das kleine, verhuschte Wesen, das unter dem Tisch einschläft und vom Bruder Gordan ins Bett getragen wird. Ingrid ist die unnahbare Schülerin. Ingrid ist die Tochter sie vernachlässigender Eltern. Ingrid ist die 15-Jährige, für die der Begriff Sperma einen feuchten Sinn ergibt. Ingrid ist leer. Ingrid ist die unglücklich Verliebte. Ingrid ist die ins Bodenlose stürzende Heimkehrerin. Ingrid ist ohne jeden Plan. Ingrid wird aufgenommen von der fremden Jenny, die Liebe mit ihr teilt. Ingrid ist die Kellnerin in einer Live-Sex Bar. Ingrids Reserven reichen nur um momenteweise bei Bewusstsein zu sein. Ingrid fällt schlafend vom Sitz. Die unter Drogen vergewaltigte Ingrid wird vermarktet. Ingrid kokst. Irgendwie kommt Ingrid nach New York und hält unter der Freiheitsstatue einen Schirm in die Höhe. Oder ist das nur ein unerfüllter Wunsch? Und ist auch das egal?

Die Familie lebte in bürgerlichen Verhältnissen. Das Haus war größer als andere, das Schwimmbad blieb ein Betonsarkophag. Der Ehemann verließ vorzeitig die Familie. Die Ehefrau schwankte und stürzte zwischen Männern, Hochprozentigem und Selbstaufgabe. Einmal stürzte sie direkt in das kleine Gesicht von Ingrid. Ingrid hasste sie. Die Mutter starb früh und ganz für sich. Der Vater war verzweifelt, weil auch der spielende Wal in Florida seine kleine Ingrid völlig unberührt ließ. Ein blasses Jahresendritual mit gelben Nelken und einem Euroschein war der bleibende Rest der Vater-Tochter Beziehung. Bruder und Schwester waren einander warm und wärmten sich auch als Erwachsene noch unter einer Fernsehdecke. Doch der Bruder zerrann wie Mutter und Schwester im Rauschzustand. Gelegentlich bescherte ihm die durchkicherte Traumwelt eine zu Hackfleisch zertrümmerte Fresse. Das waren Verrechnungseinheiten unter Dealern.

Den Leser schmerzt die zerrinnende Farblosigkeit vor Augen zu haben. Der Geruch von Katzenkot vor dem Kühlschrank, diese Welt von Erbrochenem, von betäubter Gewalt, eindringende Geschlechtsorgane von vorne, von hinten, schon vergessen, alles ausmachend und völlig bedeutungslos. „Kathi steckt sich den Fuß in die Möse, und zwar den linken. Was das soll? Nichts. Sie macht es, weil sie es kann… Den Männern tropft das Grölen vom Kinn.“ Die Autorin schafft mit ihrer parataktischen Inszenierung und Formgebung das Schwarze Loch zu füllen. Das ist nicht appetitlich aber gekonnt. Vielleicht formiert sich mit Julia Wolf ein neues Gravitationsfeld im literarischen All.
Note: 2– (ur) <<

>> Ingrid holt Luft, reckt den Kopf, sie richtet sich auf. Legt wie die mintfarbene Frau die linke Hand vor die Brust, streckt die rechte samt Regenschirm in die Höhe. Das Mädchen steht lange, fast zu lange. Mit der Letzten dann doch zurück in die Schluchten. Die Mintfarbene verschwimmt, der Regenschirm vergessen an der Reling. Ein gelbes Auto verschluckt Ingrid. Ingrid überlegt. Sie fingert in der Handtasche. Bürste, Stadtplan, Brillenetui, Tampons, Lippenstift. Sie spürt die abgegriffene Geldbörse, liegengeblieben auf dem Tresen, zwei Kinderbilder eine Kreditkarte einer australischen Bank, ein Paar Dollarscheine. Graziella meint, wart einige Tage, vermutlich kommt der aber nicht wieder. Er kommt auch nicht wieder . Jetzt gehört Ingrid die Geldbörse, noch gefüllt, aber wie lange würden die Nullen reichen? Jeder Schein auch ein Stück Abgrund, Olgas Plastik- fingernägel in Ingrids Nacken. Die Tage ja Wochen dieses Zimmer ohne Fenster. Ja, das Mädchen ist genügsam. Der Umschlag im Rahmen hat sie hierher geführt. Jetzt sitzt sie im Taxi. Kein Sommer zu dritt. Ein Sommer allein in dieser Stadt. Gemeinsam – hat Jenny gehofft. Keine Limetten, keine riesige rosa Schleife, kein hereinplatzender Gorhan. Das Hotel, das sie kennt, gibt den Blick frei auf den Hudson. Eng umschlungen, die Zunge ein nichtendendes Spiel ungestört. Jenny hätte Ingrid ganz für sich. Ingrid weiß nichts von Jenny. Auch kein Jenny Mobile. Im Posteingang nur die Nachbarin. Gabi ist tot. Für einen winzigen Moment kreuzt Ingrids Blick das fahrende Augenpaar im Innenspiegel. Nein, das konnte nicht sein. Ihr Körper verspannt sich, sie spürt einen Stich, sie ist hier. Wissen kann das niemand. Das Augenpaar wird Gesicht. Nein, keine Hackfresse. Er liegt ja nicht bäuchlings, kein Blut. Nur Schnitte über den Augenbrauen. Reste von verklebtem Pflaster. Er hätte nachgeben sollen, es wäre eigentlich ein Leichtes gewesen, der Verlust überschaubar, hört Ingrid. Das Messer ist schneller als das Wechselgeld. Ob er auch die helfende Hand eines Schwesterchens hat? Sie werden Gordon zusammengeflickt haben. Da gibts ja nichts zu verwechseln. Es ist ja nicht der Zeh. Schon Wochen und kein Gedanke ans Brüderchen und dann ein verstörender Innenspiegel. Da ist er wieder, da sind sie wieder die abgelegten Bilder. Draußen vorbei am Park. Ein Jogger hauteng und verkabelt. Was sieht der? Kein kunstseidenes Mädchen, eine flüchtige Silhouette hinter einem geschlossenen Wagenfenster. Wer dahinter lebt, davon weiß er nichts. Wozu auch. Sie wird an der übernächsten Kreuzung aussteigen, warum gerade da, weiß sie nicht. Sie hat kein Ziel und gerade das tut jetzt gut. Die Stadt atmet aus Schächten. Ingrids T-shirt klebt an den Brüsten. An den Abgängen zur Subway entgegen- gestreckte Becher geldgierig. Sie wird wie immer bei Dehlis an der Ecke vorbeischauen, heute ein koscheres Sandwitch mit Salat aufs Fließband stellen, ein Budweiser aus der Kühltheke holen. Hier hat sie sich an dry beer gewöhnt, Kinderkrams würde Gorhan höhnen, dann kannst du ja auch gleich Brausepulver in die Tütchen packen. Ingrid an einem Stehtisch mit Blick nach draußen. An der Decke ein übermächtiger Propeller surrt frische Luft, trotzdem Schweißtropfen. Das Taschentuch trocknet. Beim Entfalten flattert auf den Boden ein Streifen Papier. Das Fährticket nach Long Island. Die Mintfarbene darauf zusammengeschnurrt auf Briefmarkenformat, hochgereckt oder abgewinkelt nicht zu erkennen, nur noch eine leichte Ahnung, aber doch ein Hauch Hoffnung, dass Ingrid auch dann noch jetzt ist, wenn das Zurück irgendwann unausweichlich ist.
Note: 2 (ai) <<

>> Vier erfahrene Leser werden sich nach der Lektüre nicht über die Zeitstruktur des Romans einig, auch das zweimalige Lesen bringt keine Klarheit. Nun kann man zu Recht bei einem Titel wie „Alles ist jetzt“ einwenden, gerade die Aufhebung der Zeit sei wesentlich für die Absicht der Autorin bei diesem durchgängig im Präsens geschriebenen Erstling. Trotzdem bleibt die Mühe beim Lesen, beim Sortieren des Vorher und Nachher im Leben von Ingrid, dem „Mädchen“. Der Vater hat die anfangs gutsituierte Familie früh verlassen, die Mutter ist alkoholkrank, der Bruder ein Luftikus und kleiner Dealer. Das ist kein wirklich origineller Plot. Dass die seltsam sprachlose, introvertierte Ingrid am Ende schließlich in einer Live-Sex-Bar in Frankfurt arbeitet und in einer lesbischen Beziehung lebt, auch nicht. Eine Stärke des Buches liegt eher im experimentellen Umgang mit Sprache. Es gibt sehr gelungene Szenen, wie die, als der bildungsbeflissene Buchhändler Gerald, eine neuer Freund der Mutter, ein Auge auf die Tochter wirft und Ingrid ihn und die Situation um die anfangs noch Schnittchen servierende, später in den Suff abstürzende Mutter, kühl analysiert. Dass Ingrid ihre Mutter hasst, nachvollziehbar. Auch die erloschene Beziehung zum Vater, gut erzählt. Weniger gelungen dagegen die Milieustudie in der Bar, mit klischeehaft besetztem Personal und einer bizarren, finalen Vergewaltigungsszene auf offener Bühne. Dass diese Erniedrigung Ingrids nun der Beginn ihrer Befreiung sein soll, überzeugt ebenso wenig, wie der Schluss in New York, wo das Bild mit der Freiheitsstatue und Ingrid reichlich danebengeht. Note: 3+ (ün) <<

 

>>Lektüre. Anstrengend. So schreibt die junge Autorin nicht durchgängig, aber relativ oft. Manchmal könnte man meinen, ein Kind beobachte die Welt durch das Display einer Kamera: Baum. Laternenpfahl. Parataxe. Dokumentarisch. Sparsame Verwendung von Verben und Konjunktionen. Sollen dadurch die problematischen Seelenzustände der Protagonisten/innen ihre formale Korrespondenz finden ? Oder liegt es daran, dass Julia Wolf bislang vor allem Hörspiele geschrieben hat? Tatsächlich kommen die Sätze laut vorgelesen besser rüber. Oder ist es schlichte manieristische, geschmäcklerische Sprachzerhackung? Beim nouveau roman abgeschaut? Berufenere mögen es entscheiden.Ingrid, 18 geworden, hatte immer Pech mit ihren Eltern. Mehr als Pech. Mutter trinkt, Vater haut ab, Bruder kifft („Tüte“). Und eine Schwäche für Blondinen („Tussis“), die angeblich immer ihre Handtaschen schwenken. Muss ich mal drauf achten. Sohn schlägt Vater. Mittelschichtverwahrlosung.

Beziehung mit Jungarzt. Ausgenutzt. Abtreibung. Tankstellenjob. 438 Mark gespart. Flucht in die Stadt. Barkeeperin Nachtclub. Von hinten für viel Geld penetriert. Es schneit. Mutter stirbt. Selbstreflexion Fehlanzeige. Lethargie, Phlegma. Apathie.

Ort der Handlung: oft gekachelte Räume, weil viel gekotzt wird. Sogar Nelken. Ins Waschbecken. Fünfmal „Arsch“ und „Scheiß“ auf einer Seite (Seite 31), eine Verdichtung sozusagen. Ganz im Ernst, ich wünsche Ingrid von Herzen alles Gute, einen Platz in einer soliden Selbsthilfegruppe oder einen guten Psychologen. Der Vater hätte viel gut zu machen. Aber das wäre ein neues Buch.

Die Autorin antwortet auf neugierige Leserfragen ausführlich. Das findet man eher selten und das macht sie sympathisch.

——– Weitergeleitete Nachricht ——–

Betreff: Ihre Email
Datum:

Thu, 10 Sep 2015 08:36:43 +0200

Von: juliawolf@posteo.de
An: mili.steinacher@gmx.de

Lieber Herr Steinacher –

haben Sie vielen Dank für Ihre Email, die mir meine Agentur weitergeleitet hat. Ich freue mich, dass Sie mein Buch mit Ihrem Quartett gelesen haben und dass es Sie beeindruckt hat! Zu Ihren Fragen: Die Freiheit, um die es da geht am Ende des Buches, nach der Vergewaltigung, besteht in einer Art Tabula Rasa. Auf ihrer emotionalen Talfahrt ist Ingrid ganz unten angelangt und in diesem Zustand liegt eben auch etwas befreiendes – sie kann, erst einmal, alles hinter sich lassen. Außerdem ist es ja Olga, die zu Ingrid sagt, jetzt sei sie frei – und aus Olgas Sicht hat Ingrid das getan, was sie von ihr gefordert haben, jetzt kann sie gehen und ist deswegen frei. Dieser Freiheitsbegriff ist natürlich ein höchst ambibvalenter. Das zeigt sich ja auch am Ende, wenn Ingrid vor der Freiheitstatue steht – das ist eine starke Geste, die sie da vollzieht, aber eben nur eine Geste. Was wird danach kommen?
Wie alt Ingrid ist, kommt ein wenig darauf an, in welchem Jahr man die Jetztzeit anlegt und wie lange die Berlin Episode zurückliegt, Ingrid also schon mit Jenny zusammen ist und im Klub arbeitet… Meiner Zeitrechnung nach spielt die Jetztzeit um den Dreh 2005 und Ingrid ist Mitte Zwanzig.

Herzliche Grüße

Julia Wolf

 

Unsere Lesegruppe entwickelt ein Faible für borderlinige Charaktere. Nach „Hart auf Hart“ (T. C. Boyle) das zweite Buch in Folge über Menschen, die es sehr sehr schwer haben. Opfer der Familienstruktur, der Gesellschaft. In Deutschland oder USA.

Ich danke meinen lieben Lesefreunden, dass wir als nächstes Buch „Wer den Wind sät. Was die westliche Politik im Orient anrichtet“ (Michael Lüders) lesen werden.
Note: 3+(ax)

 

 

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Hart auf hart – T.C. Boyle

K1024_hart_auf_hartHanser 2015 | 396 Seiten.

 >> „Die amerikanische Seele ist in ihrem Wesen nach hart, einzelgängerisch, stoisch und ein Mörder. Sie ist noch nicht geschmolzen.“

Dieses Statement von D.H. Lawrence stellt T.C. Boyle seinem Roman voran. Und um diese dunkle Seite der amerikanischen Seele geht es in diesem Buch. Sie wird verkörpert durch Adam, einem durchgedrehten 20-jährigen Jungen, der sich Colter nennt, nach dem historischen John Colter, einem Waldläufer und Trapper , der Teil des amerikanischen Gründungsmythos geworden ist. Ebenso wie dieser zieht sich Adam aus der Zivilisation in die kalifornischen Wälder zurück, dem Ort absoluter Freiheit, wo er Schlafmohn anbaut und mehrere Lager unterhält. In seiner Paranoia sieht er überall Schmutz, Unrat, und „Feinde“, die je nach Situation Mexikaner, Chinesen, Aliens, oder Bullen sind. Adam trifft auf die wesentlich ältere Sara, die ihn als Anhalter mitnimmt. Sara findet Gefallen an dem durchtrainierten, virilen Adam, denn auch sie hat ein rechts-fundamentalistisches, von Verschwörungstheorien durchsetztes Weltbild , in dem staatlicher kontrollierte Rundfunk „ linke Kommunistenscheiße“ verbreitet und die Regierung sie durch Vorschriften wie Anschnallpflicht oder Tollwutimpfung für Hunde in ihren uramerikanischen Freiheitsrechten beschneidet und unterdrückt. Allerdings ist sie längst nicht so radikal wie Adam, der das Thema nicht mehr verbalisiert wie Sara, sondern ausgerechnet mit seinem chinesischen (!) Sturmgewehr und in Tarnkleidung wortkarg in die Wälder zieht. Als sich in einer Aktion „ Unser Wald gehört uns“ Bürger gegen eine vermeintliche Überfremdung durch Mexikaner zur Wehr setzen, kommt auch Adams Vater Sten ins Spiel. Diesen Sten hat Boyle in einem großartigen, 60- seitigen ersten Teil schon eingeführt. Er schildert eine Episode auf einer Kreuzfahrt nach Costa Rica, bei dem Sten, seine Frau Carolee mit einer Gruppe weiterer Touristen bei einem Landausflug von zwei bewaffneten Banditen überfallen werden. Dem Vietnam-Veteranen Sten gelingt es reflexartig einen der Angreifer zu überwältigen, der dabei aber im Würgegriff von Sten ums Leben kommt, als die unmittelbare Gefahr längst vorbei ist. Offensichtlich läuft in diesem Augenblick bei ihm ein Programm ab, das er bei den Marines gelernt hat, bei dem es nicht um Selbstverteidigung geht, sondern ums Töten. „Einmal Marine, immer Marine“. Sten wird dann nochmals schuldig, als er in der polizeilichen Vernehmung dann bewusst einen Unschuldigen ans Messer liefert.
Bei seinem Sohn Adam, der immer mehr mit dem Waldläufer Colter zu verschmelzen scheint, dreht sich das „Rädchen“ im Kopf immer stärker. Das Verhältnis zu seinem dominanten Vater ist gestört. („Er hörte den Ton, er erkannte ihn, diesen Ton der ihn zurechtstutzte und ihn kleiner machte, bis er nur noch ein Junge, ein Kind, ein Kleinkind war…“)

Die Geschichte eskaliert, als Adam schließlich kaltblütig Carey Bachmann, einen Freund seines Vaters erschießt. Der hatte sich Adams Revier im Wald genähert, um dort wegen der Mexikaner nach dem Rechten zu sehen. Adam sieht in ihm schlicht „einen Feind“.
Dieser kaltblütige Mord wird von den Bewohner des nahen Dorfes und auch von Adams Vater Sten wie selbstverständlich den Mexikanern zugeschrieben.

Hart auf Hart ist ein fesselndes, raffinert gestricktes und sprachlich überzeugendes Werk eines Meisters. Note: 1– (ün) <<

 

>> „The harder they come“ lautet der Titel der amerikanischen Originalausgabe von „Hart auf hart“. Und „The harder they ‚ll fall“ geht es weiter im klassischen Lied von Jimmy Cliff. Alle fallen sie hart und auch mehr oder weniger tief. Vielleicht sollten wir hier, wenn überhaupt, nach einer möglichen Botschaft des Buches suchen und weniger in der sogenannten amerikanischen Seele. Am härtesten fällt Adam, der schizophren gewordene Protagonist des Romans, der sich in die Person des historischen Trappers Colter ( 1774-1813 ) hinein fantasiert hat. Er fühlt sich von Aliens und nicht nur von denen verfolgt. Nach mehreren Morden und einer hysterischen Treibjagd wird er unspektakulär von zwei Scharfschützen der Polizei erschossen. Seine ältere Freundin Sara, Hufschmiedin (resolute Anhängerin von Verschwörungstheorien und deformierten anarchistischen Ideen, Wutbürgerin zwischen Tea-Party und Pegida) kann ihn nicht retten. Ebenso wenig wie Adams sichtlich überforderten Eltern. Richtig sympathisch ist mir nur Saras kleiner Rasta-Hund. Tom Coraghessan Boyle ist ein guter Erzähler, der es versteht, Spannung aufzubauen und gleichzeitig Lesererwartungen auch mal ins Leere läufen lässt. Beispielsweise bei Adams Tod. Boyle hätte es eigentlich nicht nötig, das Vierbuchstabenwort überzustrapazieren. Bei der Beschreibung weiblicher sekundärer Geschlechtsmerkmale bleibt sein Vokabular eher schlicht und repetitiv, wenn man einmal von seiner Umdeutung des Wortes „Biber“ zum Körperteil absieht (kann hier nicht genauer erläutert werden, Rückfragen mit Altersangabe beim Rezensenten möglich). Naturbeschreibungen gelingen Boyle ungleich besser.

Insgesamt ein vielschichtiges Buch, das nicht langweilt, mir aber auch nicht geholfen hat, Amerika besser zu verstehen. Note: 2/3 (ax)<<

<< Dass T.C. Boyle glänzend und spannend zu erzählen vermag, dass er Handlungsstränge virtuos zu verschränken vermag, ergibt noch keinen guten Roman. Die einleitende großartige Costa Rica Episode – ein Tagesausflug amerikanischer Kreuzfahrturlauber findet ihren dramatischen Höhepunkt in einem Überfall, dem Sten Stensen – ein Vietnamveteran und Exschuldirektor – mit der Tötung eines der Banditen eine tragische Wendung gibt. „Bei dem, was Sten als Neunzehnjähriger, als Rekrut, als Greenhorn, gelernt hatte, war es nicht um Selbstverteidigung gegangen, sondern ums Töten, und wer konnte sowas je vergessen“. Damit gibt der Erzähler gleich zu Beginn ein Leitmotiv vor, das der „amerikanischen Seele“ (siehe D.H. Lawrence) angeblich innewohnt: Gewalt. Was Sten Stensens weitere Charakterisierung betrifft, so vermag allenfalls die ebenso großartig erzählte Verfolgungsjagd der vier Mexikaner Amerikatypisches zu zeigen. Die treibende Kraft ist hier allerdings der Bürgerwehrler Carey Bachmann, der jedoch mit fortschreitender Verfolgung kleinlaut wird, während Sten, den sich zuspitzenden Show-down mit der rassistischen Feststellung beendet: „Das hier ist Amerika, du Scheißkerl. Die Vereinigten Staaten von Amerika. Verstanden?“. Der polierte Griff des Revolvers bleibt –zum Glück für den Roman –unberührt. Mit der Einführung der zentralen Adam-Figur beginnt die Reise in die Abgründe eines Psychopathen. Ein wirres Gemisch von falsch verstandener Heldenverehrung (Adam versteht sich als Nachfahre des legendären Trappers Colter), diffusem Weltbild (Alienphobie, Chinesenhass – auf die sollte man Atombomben werfen) und Pseudorevoluzzertum („Scheiß auf die illegitime Regierung“, Polizisten, CIA, FBI „Hosenscheißer und Arschlöcher“) zeichnet ein Bild des verlorenen Sohns von Sten Stensen, das für den Leser schwer zu ertragen ist. Was sich hier an antizivilisatorischer Egomanie und Brutalität entlädt, macht fassungslos und verlangt nach Erklärungsansätzen, die ausbleiben – sieht man von dauerhaftem Drogen“genuß“ und dem eher banalen Hinweis auf mangelnde Vaterpräsenz und Adams Videospielfaszination als Kind einmal ab. Die selbst gewählte Einsamkeit des mordenden Waldläufers und vermeintlichen Colter-Doubles erfährt vordergründig Pfiff durch die Verknüpfung mit der Sara-Figur. Ähnlich konfus, aber gewaltfrei, reklamiert hier eine selbstständige Hufschmiedin ein Freiheitspostulat und eine Bürgersouveränität gegen die Repräsentanten des Staates. Ob „Bullenkontrollen“, „Hundeimpfbestimmungen“ oder eine Nummer größer dumpfe rechtsradikale Verschwörungstheorien „diese ganze schleimige Heil-Hitler-Polizeistaat-Scheiße“ – ein chaotischer Anarchismus verbindet Sara und Adam. Verbindungen ganz anderer Art, die der Leser schon bei der ersten Begegnung zwischen Adam und Sara erwartet, weiß T.C.Boyle publikumswirksam zu erfüllen. Sexuelle Entbehrung einer 40 Jährigen trifft auf hochpotenten 25-jährigen Naturburschen (selbst beim „Giardien“ hatte der „einen Ständer“), das verspricht so manches. Meist noch vorher ein Omelett für den ausgehungerten Waldrückkehrer, zuweilen auch zunächst Abmarsch zum Duschen, aber dann „harter Schwanz“, „große Titten“ und „vögeln“ oder etwas softpornmetaphorischer der „Money shot“ in den „Biber“. Der Reiz des Animalischen bleibt schal. Der Schlussteil des Romans, einige Leichen pflastern bereits Adams Weg, wird zum „Krieg“ des Einzelnen mit seiner „Ein-Mann-Armee“ in der Wildnis gegen den geballten Polizeiapparat mit all seiner Technik. Die Findigkeit und Wendigkeit des Waldläufers gegen die dumpfbackene Strategie der „Bullen“, da scheint es klar zu sein, dass Adams Norinco immer das letzte Wort haben musste. Dass sich Adam gegen Ende gar als Robin-Hood Figur und Waldschützer im Kampf gegen „gesetzlosen“ Plantagenanbau irgendeines Drogenkartells, das nur dem schnöden Mammon verfallen war(„Diese Leute waren schlimmer als die Blackfeet“), geriert, ist wenig überzeugend (Adams illegaler Mohnanbau dient nicht nur dem Eigenkonsum). Als dann sogar -gerichtet an Bullen und andere Aliens- noch eine wirre Anklage der Naturverwüstung durch Gifte und Pestizide, Dosenverpackung und Vermüllung der „Todeszone“ folgt, ist die Adam-Figur gänzlich ihrer Glaubwürdigkeit beraubt , jene Figur, die beim letzten Abschied von Sara „den Rucksack schulterte, „in dem jetzt Cracker waren, ein Laib Brot, Thunfisch-   konserven, Dosen mit Campell’s Hühnersuppe mit Fleischstückchen und eine Flasche Rotwein…“ Ohne Vorbereitung, eiskalt endet Adams Schicksal, von Scharfschützen mit zwölf Schüssen erlegt, so eiskalt, wie er selbst mit seiner Norinco in der Wildnis für eine brutale Ordnung gesorgt hatte. Nein, dieses Ende verträgt keine Nachfragen, keine Frage nach Schuld wie es das zufällige Gespräch zwischen Sten und Sarah ermöglicht hätte und so bleibt beim Leser die Ratlosigkeit über die Adam-Figur und dem Erzähler nur noch der Ausweg in die seltsam abgehobenen Sphären der Ballistik eines Golfballs – etwas zu durchsichtig gepaart mit dem Motiv der Gewalt („schlug mit aller Wucht zu“, „Schlägerkopf“, „der Ball wurde getroffen, gut und voll getroffen“).
Note: 2– (ai)<<

 

>>Entlang der geographischen Topographie Lateinamerikas und Kaliforniens zeichnet T.C .Boyle an dreizehn Orten die Topographie verschiedener Gewaltformen. Vater Sten erwürgt in Notwehr einen Jugendlichen. Sein Sohn Adam erschießt in seelischer Entartung zwei Nachbarn. Die ihn verfolgende Staatsgewalt erlegt durch Scharfschützen den Sohn. Dazwischen eingeflochten ist die bizarre Beziehung zwischen Adam (25) und der deutlich älteren Sara (40), die auf ihre eigene Art Furchen in das literarische Gelände des Romans gräbt. Wechselweise beobachten wir zudem in literarischer Halbhöhenlage Vater Sten und Mutter Carolee. Ob die Gewalten ein Spiegelbild der amerikanischen Wirklichkeit sind, darf vermutet werden. Ob es überzeugende Kausalitäten zwischen den Gewaltereignissen gibt, ist zweifelhaft.

Das Schlaglicht des Romans liegt auf der pathologischen Persönlichkeit von Adam, der als Einzelgänger isoliert und mit zunehmender Entfremdung die Gesellschaft verachtet. Schon als Jugendlicher fiel er mit planloser Gewalttätigkeit auf, versank im Drogendickicht und vermengt bis in die Gegenwart des Romans beide Neigungen zu schizoider, gemeingefährlicher Unberechenbarkeit. Wirklichkeit und halluzinative Verfremdung werden für ihn ununterscheidbar, beständig befeuert durch exzessiven Alkohol- und Rauschmittelkonsum. In naiver Imitation des historisch-legendären Pelztierjägers John Colter zieht er ruhelos durch die Wälder Kaliforniens, richtet illegale Notlager ein, rodet Waldabschnitte um Hanf- und Mohnplantagen anzulegen und versorgt sich durch Einbrüche.

 Teile der Persönlichkeitsstruktur von Adam finden in gewisser Weise ihr Spiegelbild in Sara, die mit ihm einen renitenten Grundcharakter teilt. Die alleinstehende Sara integriert sich durch festen Wohnsitz und freiberufliche Arbeit als Hufschmied zwar vordergründig in die amerikanische Gesellschaft, doch steht sie in lautem Widerstand zum gängigen Wertesystem. Mit abstrusen Argumentationsketten geißelt sie das polit-ökonomische System, das mit Bundesleistungen den souveränen Bürger zum Sklaven der Großkonzerne unter Hilfestellung der politischen Machtelite degradiere. Entsprechend verweigert sie sich den Anordnungen von Polizeistreifen, weil sie keinen Vertrag mit ihnen habe und sich in ihrem unantastbaren Privateigentum fortbewege, wenn sie in ihrem nicht-angemeldeten PKW unterwegs sei. Sich wiederholende Konflikte sind vorprogrammiert.

             Dazwischen erscheint Sten als pensionierter Schulleiter, langhaariger Alt-Achtundsechziger, verständnisvoller, mitunter hilfloser Vater von Adam und als Kriegsveteran. Im Vietnam Krieg stand er im Dienste beherzter Marines, denen man als erstes und für immer einen Tod-bringenden Würgegriff beibrachte. Genau diesen wendet Sten intuitiv an als seine Reisegruppe bei einer Landvisite im Laufe einer Kreuzfahrt von Jugendlichen mit Waffen überfallen wird. Seine nackten Hände bringen den Tod eines Jugendlichen und die Befreiung der paralysierten Reisetruppe. Furcht, Stolz und Leere vermischen sich mit der Lautlosigkeit des lateinamerikanischen Urwaldes. Die amerikanische Presse feiert den aufrichtigen Helden, der er eigentlich nicht sein möchte. Später, als sich um seinen Heimatort Mendocino ein Leichengürtel spannt und mexikanische Immigranten als Mörder verdächtigt werden, erhofft man deshalb von ihm Führung aus der Not. Doch dann werden alle gewahr, dass sein Sohn der Täter ist.

Bei der Frage nach den Ursachen für die mörderische Entartung des Sohnes lässt die Familiengeschichte keinen überzeugenden Schluss zu – zu ausgewogen zeichnet TC Boyle ihre Historie, zu ausgeglichen die Gegenwart, in der dem Sohn lange Zeit ein abgelegenes Haus der Großmutter überlassen wird. Erst als der Sohn eine absurd anmutende, vollständig geschlossene Mauer um dieses Haus errichtet, entschließen sich die Eltern zum Verkauf des Hauses. Man spricht durchaus kritisch mit ihm, doch man verstößt ihn nicht. Nichts möchte man aus dieser angespannten, familiären Normalität für die Unmensch-Werdung eines Mörders heranziehen. Dass die amerikanische Gesellschaft prägend sein könnte, drängt sich auf, wird im Roman jedoch nicht vertieft. Am Ende bleibt die Interpretation, dass es sich um ein individuelles Problem eines endogen verformten Charakters handelt.

            Der Romanablauf ist schnell erfasst. Die erotisch ausgehungerte Sara gabelt den heruntergekommenen Adam beim Trampen auf. Sie animiert ihn, ihren von der Polizei festgesetzten Hund zu befreien, verführt ihn daheim um dann in seinem Waldhaus vor der Polizei unterzutauchen. Die Anziehungskraft auf sie ist so groß, dass selbst das völlig unverbindliche, unberechenbare Kommen und Verschwinden von Adam ihre Zuneigung nicht schmälern kann. Für Adam überzeugend wirkt der gemeinsame Outlaw Status, den sie letztlich mit einem Zuckerangriff auf den Tank eines Polizeiautos festigt. Als Adam auf seiner versteckten Plantage erkannt wird, beginnt er das Morden. Ausdauernd narrt er die Polizei, die ihn über einen Monat mit Hundestaffeln, Hubschraubern und bewaffneten Einheiten zunächst vergeblich jagt. Erst als er ausgehungert wiederholt Sara aufsucht, wird er unspektakulär von Scharfschützen niedergestreckt. Dazwischen vibriert die zur Hysterie gesteigerte Angst der Bevölkerung und die Verzweiflung des Vaters, der mit einem Zug durch endlose Wälder fahrend hilflos seinen Sohn ausruft.

  • Das Format: gut lesbar, anregend unterhaltsam, begrenzte stilistische Höhepunkte.
  • Die LesArt: starker Eingang in der Urwaldszene, teils Plot-Längen, verpasster Bezug der Gewaltformen Sohn-Vater-Staat zueinander, mäßiger Abgang.
  • Der Tenor: ein mittelprächtiger TCBoyle.

 Note: 2– (ur)<<

Consolidated CETA Text

The text of the CETA agreement is made public here exclusively for information purposes. The text presented in this document is the text at the end of the negotiations conducted by the European Commission. It will be subject to legal revision in order to verify the internal consistency and to ensure that the formulations of the negotiating results are legally sound. It will thereafter be transmitted to the Council of the European Union and to the European Parliament for ratification. The text presented in this document is not binding under international law and will only become so after the completion of the ratification process….

 

>>The text, which is made public here is an horrible document including the negotiations between the European Commission and the government of Canada. What they call a “free trade agreement” is in truth a license for economic monopolies. Each text page is nearly incomprehensible. The first reviewer of the LQ was falling to sleep after “The Preamble” on page 6, the second while reading “Section 3: Non Discriminatory Treatment Article X.6: National Treatment” on page 156, the third falled down his head on page 161, and the fourth got the shits beginning to read the annex up page 521: “Canada tariff offer Canada’s Negative List Tariff Schedule Tariff Item Description Base Rate StagingCategory Note 01051122: Broilers for domestic production: Over access commitment 238% but not less than 30.8¢ each”. Mark: 6 (ai,ax,ün,ur)<<

 

Die andere Gesellschaft – Heinz Buschkowsky

K640_Die_andere_GesellschaftUllstein 2014 | 302 Seiten.

>> Heinz Buschkowsky wird gerne in talkshows eingeladen, wenn es um Integration/Migration geht. Das hat mindestens zwei Gründe. Erstens ist er als langjähriger Bezirksbürgermeister von Neukölln qua Amt ausgewiesener Fachmann und zweitens ist er unterhaltsam und ein Meister des Anekdotischen. Das merkt man auch seinem Buch an, das sich streckenweise liest wie der live Mitschrieb einer talkshow oder eines Interviews. Sätze wie „Einen hab ich noch…“ „Eine klare Ansage machen “, „einen auf dicke Hose machen“ oder „Blödsinn verzapfen“ wirken in einem Sachbuch gedruckt merkwürdig. Seine Vorliebe für Redensarten („ Vogel friß oder stirb“) führt zudem zu einer gewissen Geschwätzigkeit, die für mein Gefühl für die Seriosität des Gesagten eher abträglich ist.

Trotzdem ist es ein wichtiges Buch. Buschkowsky spricht unbequeme Wahrheiten über misslingende Integration, über Multi-Kulti-Illusionen, über Sprechverbote der „political corectness“, über die schnell geschwungene Rassismuskeule und über die unheilvolle Rolle diverser Islam-Prediger aus. Er plädiert mit Verve und guten Argumenten gegen ethnische Rabatte in der Beurteilung von Straftaten und gegen jegliche Art von Kulturrelativismus. Was er über den Einfluss arabischer Großclans auf die Berliner Justiz und generell über den wachsende Zahl orthodoxer Muslime berichtet, ist schockierend. Den zentralen Lösungsansatz sieht Buschowsky im Bildungsbereich – wenig überraschend. Er erwähnt den Erfolg der Rütli-Schule nach einem vorangegangenen völligen Kollaps und dem anschließenden radikalen Umbau. Wie der inhaltlich aussah, hätte man natürlich gerne gewusst und genau dies wird nicht ausgeführt. Eine ärgerliche Schwäche des Buches. Auch irrt Buschkowsky, wenn er mehrmals meint: „Lehrer sind hilflos, weil sie in Deutschland keinen Erziehungsauftrag haben“ (S.99 und wiederholt auf S.131). Hier hätte er selbst mal in §2 (1) des Schulgesetzes seines Bundeslandes schauen können: „ Jeder junge Mensch hat ein Recht auf zukunftsfähige schulische Bildung und Erziehung ungeachtet seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Herkunft, einer Behinderung, seiner religiösen oder politischen Anschauungen, seiner sexuellen Identität und der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Stellung seiner Erziehungsberechtigten.
Ein weiterer Widerspruch ist mir unangenehm aufgestoßen. Buschkowsky beklagt, dass häufig die Schule oder ihre Lehrer für das Versagen der Kinder verantwortlich gemacht werden. Er selbst haut aber genau in die gleiche Kerbe, wenn er auf S. 173 populistisch fragt: „Was haben eigentlich die vielen Staatsbediensteten in Kindergarten und Schule gemacht, oder besser gesagt versäumt, dass es zu dieser Fehlsteuerung der Sozialisation gekommen ist?“

Trotz gewisser inhaltlicher und auch stilistischer Mängel bleibt „Die andere Gesellschaft“ aber ein wichtiger Beitrag zu einer notwendigen, ehrlicheren Debatte über Islam und Migration ohne Denkverbote. Note: 2/3 (ün) <<

>> Buschkowskys in jahrzehntelanger Erfahrung als Bezirksbürgermeister in Neukölln und in Gesprächen mit Imamen und Islamkennern gewonnene Erkenntnis ist ernüchternd: Der Islam und die freiheitlich demokratische Grundordnung sind in wesentlichen Punkten inkompatibel. Religiös dominerte Sichtweisen und bedingungslose Bekenntnisse bestimmten den Alltag und schafften zunehmend rechtsfreie Räume. Der Ehrenkodex tradierter archaischer Familienstrukturen und die Scharia stellten vielfach das Gewaltmonopol des Staates in Frage . Abgrenzung statt Integrationsbereitschaft sei die Folge, die Bildung von Parallelgesellschaften unvermeidlich, die Islamisierung des öffentlichen Raumes in sozialen Brennpunkten nicht nur Berlins gegenwärtig. Beispiele gelungener Integration, denen ein modernes säkulares Islamverständnis zugrunde liege, seien nicht repräsentativ. Schonungslose Kritik übt Buschkowsky am „Mainstream-Multikulturalismus“, der das Konfliktpotential dieser „anderen Gesellschaft“ für die demokratische Mehrheitsgesellschaft negiere (Zwangsheirat, Imamehe, Selbstjustiz, Machoverhalten, Ungleichheit der Geschlechter, Kopftuch, Bildungsferne u.Straffälligkeit jugendlicher Muslime). Statt eines selbstbewussten „Hier ist Deutschland“ (vgl. „Hier ist Österreich“) gebe es einen Hang zum Kulturrelativismus, ja sogar ein verständnisvolles Entgegenkommen bis zur Selbstaufgabe eigener Werte und Überzeugungen. Im Bereich der Rechtsprechung führe dies etwa zu „kulturellen Rabatten“, wenn etwa ein Totschlag während des Ramadam aufgrund einer Unterzuckerung des Täters zu Strafmilderung führe. Um dem Vorwurf, islamophob zu sein, zu umgehen, stelle sich vielfach eine Spirale des Schweigens, die „Rassismuskeule“ errichte Sprech- und Denkverbote. Das „PC-Schönsprech“ des „linken Bildungsbürgertums“ etwa täusche über mangelnde Sozialisation, fehlende Schulreife und ungenügende Sprachkenntnisse hinweg. An einer Fülle von Beispielen aus dem Bereich familiärer Erziehung, Kindergarten und Schule belegt Buschkowsky die Existenz einer anderen Gesellschaft im Namen des orthodoxen Islam, vor deren Probleme die politisch Verantwortlichen die Augen verschließen. Mag sich bei einem Migrationsanteil von 42% wie in Neukölln die Frage nach der Integrationsfähigkeit vor allem muslimischer Kultur im Augenblick dringender stellen als im Großteil der Republik (20% Migrationshintergrund), so verweist die demographische Entwicklung (Rückgang der Bevölkerung in den nächsten 80 Jahren auf 46 Mio, davon 26 Mio mit Migrationshintergrund) auf umgehenden Handlungsbedarf. So überzeugend Buschkowskys Bestandsaufnahme ist, so enttäuschend sind fehlende Lösungsansätze, die sich auf 35jähriger kommunalpolitischer Tätigkeit ergeben müssten – es sei denn Buschkowsky resigniere. Wie etwa, um zwei konkrete Beispiele auszuführen, wurde aus der Rütli-Problemschule ein Vorzeigemodell, wie aus dem von der Schließung bedrohten Albert-Schweizer- ein Modellprojekt für Berlins Ganztagesgymnasien? Welche Pfade führen von Bildungsferne zu Bildungsnähe, von archaischen Strukturen in die Moderne, von religiösem Dogmatismus zum Respekt vor der Würde des Einzelnen. Ist noch zu hoffen oder schon Hopfen und Malz verloren? Note: 3+ (ai) <<

 

>>Hier schreibt ein „Bio-Deutscher“. Diese Wortschöpfung liebt der frühere Bürgermeister von Neukölln; er verwendet sie ausdauernd und mit Hingabe, wodurch sie allerdings nicht klarer wird. Buschkowsky war seit 2001 Bezirksbürgermeister in Berlin-Neukölln, ein Bezirk in dem Menschen aus 160 Nationen leben. Seine grüne Kollegin Monika Herrmann (Kreuzberg) ist seit eineinhalb Jahren im Amt und schon fast zerbröselt vom Realitätsschock, den das Bürgermeisteramt mit sich brachte (Spiegel vom 14. März 2015). Trotz vieler Anfeindungen war Buschkowsky ein Bürgermeister, der Spuren hinterlassen hat. Buschkowsky beschreibt (manchmal etwas zu langatmig) zahlreiche mit der Migration zusammenhängende Probleme, die wohlmeinende Multikulturalisten gern großzügig übersehen. Vielleicht weil sie befürchten, sich in schlechte Gesellschaft zu begeben oder mit Islamphobie und anderen ansteckenden Krankheiten in Verbindung gebracht zu werden. Schwer zu sagen. Jugendkriminalität, Intensivtäter, Integrationsfähigkeit von Muslimen im Vergleich mit Asiaten, Russen usw., Schulprobleme, Arbeitslosigkeit, islamische Paralleljustiz und die Ohnmacht der deutschen Justiz gegenüber arabischen Clans werden angesprochen. Der Ausweg: mehr Bildung. Das wird aber nicht weiter präzisiert.
Oft gelten unterschiedliche Maßstäbe. Zwei Beispiele: ein deutscher Vater, der nicht möchte, dass seine Tochter einen Muslim heiratet, gerät unter Rassismusverdacht. Im umgekehrten Fall wahrt ein muslimischer Vater seine religiöse und kulturelle Identität. In Deutschland fallen Kopftücher unter das Toleranzgebot. In einigen islamischen Staaten besteht Kopftuchzwang auch für nichtmuslimische Frauen. Ähnliches gilt für den Bau von religiösen Einrichtungen in muslimischen Ländern.
Buschkowsky Schreibstil ist zupackend, oft auch erfrischend und meist an der Umgangssprache orientiert. Ein Beispiel: “Das Gros junger Männer, die hier geboren und aufgewachsen sind, kriegt rein gar nichts gebacken. Alles außer Motorraserei, Wettbüro und Sportstudio Fehlanzeige“ (Seite 273). Immer wieder spricht er die Leser/innen direkt an:“Für den Fall, dass Sie der Ausgang interessiert, will ich mit der Nachricht dienen….“(Seite 278). Leider kommt dabei die Analyse etwas zu kurz. Joachim Wagner zeigt in „Richter ohne Gesetz“ dass dies auch bei dieser Thematik möglich ist. Klar strukturiert wird in diesem Buch gezeigt, wie sich von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt in muslimisch geprägten Einwanderervierteln eine islamische Paralleljustiz etabliert hat.
Auch ein Personen-und Sachregister wäre nützlich. Auf die von Prof. Hans-Werner Sinn angestoßene Diskussion über die Kosten der Migration („Migration ist ein Verlustgeschäft“, FAZ vom 29.12.2014) geht der Autor nicht ein.

Für den Schluß möchte ich zwei Sätze des Autors „klauen“:
„Zugegeben, diese Ausführungen waren nicht sehr sachlich und simplifiziert. Ich hoffe, sie haben Sie trotzdem unterhalten“ (S.208). Note: 2/3 (ax) <<

>> Als langjähriger Bezirksbürgermeister von Neukölln widmet sich der Autor der Frage gesellschaftlicher Gegenwelten. Die Attribute „Bezirksbürgermeister“, „Berlin Neukölln“ und „Migranten“ klingen überschaubar, doch handelt es sich um eine Metropolregion mit über 300.000 Einwohnern, die 130.000 Menschen mit Migrationshintergrund einschließen. Nach Einschätzung von Buschkowsky biete dieses multikulturelle Agglomerat Chancen im Hinblick auf die demographische Sackgasse der deutschen Bevölkerung, nähre aber auch zersetzende Gegenentwicklungen, die der Autor in einem eingegrenzten religiös-kulturellen Umfeld ausmacht. Aufbauend auf seine Erfahrungen identifiziert er als zentrales Problemfeld muslimische Bevölkerungsgruppen, die – anders als z.B. polnische oder vietnamesische Einwanderer – den Wertekanon der bundesdeutschen Gesellschaft nicht bereit seien zu akzeptieren. Für islamische Migranten, vor allem fundamentalistischer Couleur, würden nur Koran und Scharia eine verbindliche Werteordnung darstellen. Diese Werteordnung stehe teilweise im Widerspruch zur demokratischen Grundordnung. Eckpfeiler der demokratischen Grundordnung wären das Selbstbestimmungsrecht des Menschen – auch von Frauen; Gewaltenteilung und Gewaltmonopol des Staates ohne Recht auf Selbstjustiz und Säkularisierung mit klarer Trennung von Staat und Religion. Die Ablehnung durch islamische Volksgruppen führe zu einer asymmetrischen Gesellschaft, in der die Legitimation der konsensfähigen Mehrheit von einer wachsenden, destruktiver werdenden Minderheit in Frage gestellt werde.

Buschkowsky hält den Islam als Religion nur im Kreis orthodoxer Fanatiker für konfliktträchtig. Bei der Mehrheit der Muslime vermutet er, dass nicht die Religion sondern die daraus abgeleitete Weltanschauung das zentrale Problem darstelle. Entscheidende Elemente dieser Gegenordnung seien mentale und reale Gewaltbereitschaft, die Verweigerung individueller Selbstbestimmung und patriarchalische Hierarchiekonzepte, in der die Frau prinzipiell untergeordnet sei. Diese Unterordnung leite sich von dem muslimischen Verständnis ab, dass sich jedes Mitglied dem Familienclan zu unterwerfen hätte. Tendenziell finde dabei eine unserem demokratischen Gesellschaftsverständnis fremde Einengung statt. Während den männlichen Teilnehmern noch begrenzte Freiheiten zugestanden würden, würde den weiblichen kaum individueller Entwicklungsraum gelassen. Verbunden mit einem geschlechtsspezifischen Machtverständnis würden folgenschwer z.B. auch kleine Brüder ihre großen Schwestern kontrollieren und sanktionieren und Eltern ihre Töchter zwangsverheiraten. Laut Buschkowsky setze sich das Primat orthodoxer Machtausübung von der familiären bis zur gesellschaftlichen Ebene fort und führe dort zu der inakzeptablen Situation, dass die deutsche Gerichtsbarkeit durch muslimische Friedensrichter ersetzt würde, welche in selbsternannten Schiedsverfahren Urteile sprechen würden.

Ein weiteres Problemfeld erscheint Buschkowsky die sogenannte Kulturrelativierung. Die Kulturrelativierung würde die deutsche Kultur unter jene der zugewanderten Bürger stellen. Kritik an der Heirat eines protestantischen „Biodeutschen“ mit einer Muslima wäre Rassismus. Die Pflicht eines Muslem ausschließlich eine Muslima zu heiraten, wäre dagegen ethnische Kulturpflege. Hier wendet sich die Kritik des Autors vor allem gegen die eigene deutsche Klientel, die in einer polarisierenden Selbstzensur den eigenen Kulturkreis aushöhle. Einen weiteren Missstand meint Buschkowsky in der Vollkasko-Mentalität vieler Migranten zu erkennen, die zu wenig Eigenverantwortung übernähmen. Stattdessen würden sie fordernd die Hände aufhalten und das soziale Netz in Deutschland mit Spott überziehen. Der soziale Ausgleich würde vor allem von arbeitsfernen und -unwilligen Menschen mit Migrationshintergrund gefordert und damit ein einseitiges Nehmen ohne Geben provoziert.

Buschkowsky führt diese Nicht-Übereinstimmung mit den deutschen Wertesystemen vor allem auf die in den Familien vermittelte Gegenwelt zurück. Entsprechend erwartet er eine Verbesserung, wenn für Kinder ab dem 13. Lebensmonat der verpflichtende Besuch von Kindertagesstätten und Ganztagsschulen vorgeschrieben wäre. Nur so könne der schädigende Einfluss der Familien zurückgedrängt werden. Die Folge wäre, dass bereits den Kindern eine gesellschaftskonforme Wertewelt geboten und gelehrt werde. Gleichzeitig würden die kleinen Kinder sehr früh in einen deutschen Sprachzusammenhang gestellt und nachhaltiger die deutsche Sprache verinnerlichen. Eine positive Folge wäre auch, dass ihre späteren Berufschancen stiegen. Sprachkompetenz stuft der Autor als oberstes Gebot ein, da ein Großteil der Mitbürger mit Migrationshintergrund gravierende Sprachdefizite hätte. Dieses Ziel könnte jedoch nur erreicht werden, wenn involvierte Berufsgruppen eine bessere Ausbildung und Bezahlung erhalten würden. Entsprechend brauche es also auch auf staatlicher Seite Korrekturen, die dem Gedanken folgen: für eine bessere Integration mehr geben, um von den Mitgliedern der Gesellschaft für das Gemeinwohl mehr fordern zu können.

Insgesamt wirkt das Werk Die andere Gesellschaft wie eine Kollektion von Redebeiträgen, die für die Buchzusammenstellung mehr inhaltliche Abstimmung vertragen hätten. Der im teils saloppen Plauderstil vorgetragene Tenor ist ausgesprochen kritisch. Dennoch ist unübersehbar, dass Buschkowsky die Entwicklung einer integrierten Gesellschaft ein ernstes Anliegen ist. Note: 2/3 (ur) <<

Der Hals der Giraffe – Judith Schalansky

K640_Hals der GiraffeSuhrkamp 2012,   222 Seiten.   

>> Mit der Biologielehrerin Inge Lohmark schafft die Autorin eine Figur, die nicht zum Sympathieträger taugt. Bewundernswert allein ihr  Wissensspektrum über Botanik, Genetik, Evolution und  Erdgeschichte– Frau Schalansky chapeau! Dass diese Fähigkeiten bei Inge Lohmark in ein sozialdarwinistischen Weltbild münden, dem jede Empathie gegenüber Schülern und Mitmenschen abgeht, ist nicht zwingend. Mehr als 30 Jahre Schuldienst hinterlassen ein provokatives Fazit: “Schüler waren Blutsauger, die einem die Lebensenergie raubten“(9) „Schüler waren natürliche Feinde“(202) und Lohmarks pädagogisches Credo lautet folgerichtig „hart sein, konsequent sein, unberechenbar bleiben“. Mag wie beim  Sitzplan der Klasse 9 mit seiner süffisanten Charakteristik noch ein gewisses Schmunzeln beabsichtigt sein, so verstummt das Lachen, wenn Lohmark ihr survival of  the fitest proklamiert: „Es lohnte sich einfach nicht die Schwachen mitzuschleifen. Sie waren nur Ballast, der das Fortkommen der anderen behinderte. Geborene Wiederholungstäter. Parasiten am gesunden Klassenkörper“. Es ist nur ein schmaler Grat zur Euthanasie, wenn von Außenseitern wie dem Nachbarn Hans –„die arme Sau“ die Rede ist. „Ohne Funktion am Leben bleiben. Nutzloses Dasein. Auf Kosten anderer. Das gab es auch nur bei den Menschen“(79). Desolate Beziehungen wohin man schaut. Ob die eigene Ehe mit Wolfgang, ob das Verhältnis zur Tochter Claudia, ob Inge Lohmarks Elternbeziehung, ob die Beziehung von Nebenfiguren wie Astrid und Joachim („wenn einer krepierte, würde der andere draufgehen“) oder ganz beiläufige Begegnungen mit einer gewissen Marie Schlichter („Das Gehirn war eine Fallfrucht“) – überall Zeichen des Verfalls. Auch in größerem Maßstab: Das Charles Darwin Gymnasium steht vor der Abwicklung, vier Jahre Restlaufzeit, die ganze pommersche Region nach der Wende in Auflösung begriffen, Entvölkerung, Verkümmerung der Infrastruktur  – statt sozialistischen Helden der Arbeit Wolfgang als Held der Regionalzeitung in Sachen Straußenzucht. Nur ein einziges Mal fällt Inge Lohmark aus ihrer misanthropen Rolle, bricht sich Verdrängtes Bahn, schwächelt die distanzierte Pädagogin. Die leider nur sehr kurz angedeutete Erika-Episode – es bleibt bei erträumter weiblicher Pädophilie- zeigt menschliche Brüche in der Figur Inge Lohmarks. Der stärkste Teil des von Schalansky sicherlich mit provokativem Untertitel versehenen „Bildungsromans“ sind  Beobachtungen zum schulischen Alltag, die die Autorin als Insiderin ausweisen . Das Ensemble des Lehrpersonals, vom Westimport Kattner mit seinem Mittwochsappell über den ewig gestrigen Thiele, die großartige kuschelpädagogische Schwanneke als Lohmarks Gegenbild bis hin zur Nebenfigur des Hausmeisters Kalkowski, trefflich und zuweilen witzig skizziert. Auch bei der Charakterisierung  bestimmter Schülertypen  und ihrem Verhalten im (z.B. bei Lohmarks  unangekündigter Leistungskontrolle) und außerhalb des Unterrichts (Bus) gelingen Schalansky  überzeugende Nahaufnahmen. Bleibt abschließend zu fragen, ob der Roman nicht mehr Heiterkeit als Bitternis verdient hätte. Note: 3+ (ai)<<

>> Ich bin froh, dass die Lehrerin meiner Töchter nicht Inge Lohmark hieß. Warum hat niemand verhindert, dass sie Lehrerin wurde? Eine Frau ohne einen Funken Empathie. Mit der ihr eigenen Intelligenz und ihrem analytischem Vermögen hätte sie in einem Forschungslabor sicherlich Großes geleistet. Aber  am Arbeitsplatz Schule, wo es nur so von jungen Menschen aus Fleisch und Blut wimmelt? Eine Fehlbesetzung. Sicher, es mag die von ihr beschriebenen Schülertypen geben. Den Schüler, der den Tag im passiven Widerstand verbringt. Oder auch den Typ „Vampir“. Mit diesem Schülerbild und einem falsch verstandenen Darwinismus (eher Lohmarkismus) rechtfertigt sie ihr Verhalten den ihr Anbefohlenen gegenüber. Aber es gibt doch auch viele völlig andere Schulbesucher. Zum Glück, und mit einigen hält man  deswegen auch Kontakt noch lange nach Ende der Schulzeit. Man könnte kritisch anmerken, dass sich nichts bis wenig entwickelt im Laufe des Romans. Aber was sollte sich unter den gegebenen Voraussetzungen auch entwickeln? Stellenweise finden sich seitenlange biologische Exkurse, die für Laien nicht immer leicht verständlich sind. Aber man lernt dabei auch manch Neues: „Männer sind Nichtfrauen“ (S.128). Über den neuen Lehrplan, der Homosexualität als Variante des Sexualverhaltens präsentiert, ist die Biologielehrerin nicht begeistert. Da die Inhaltsangabe bei Wikipedia gelungen ist, kann ich mich kürzer fassen als gewohnt und dafür Bildmaterial hinzufügen.
Insgesamt ein gutes Buch, weil es der Autorin gelungen ist, eine Persönlichkeit zu zeichnen, die nach außen stark und unbesiegbar wirkt, innerlich aber bereits ge-oder zerbrochen ist. Besonders deutlich wird dies an der Beziehung zur Tochter und auch zum Partner. Eine einzige Schülerin (Erika)  vermag in ihr Gefühle der Zuneigung zu wecken („Selbst mit offenem Mund war sie schön“).  Aber die Angst ist größer als das Sehnen. Dabei ist das Herz der Giraffe wichtiger als der Hals. Note: 1/2 (ax)<<

>>Inge Lohmark ist Biologie-Lehrerin vom alten Schlag an einem in Abwicklung befindlichen Charles-Darwin-Gymnasium im vorpommerschen Hinterland. Fachlich äußerst kompetent,  aber in ihrer Einstellung zum Beruf ebenfalls stark vom  Darwinismus geprägt. Kurze Leine, mitleidlos mit Schwachen und Versagern. Nein, eigentlich keine Sympathieträgerin. Ihr Blick auf Schüler, Kollegen, Eltern („Waren die Kinder schlimm, waren die Eltern noch schlimmer“) analytisch, kalt, präzise, keinesfalls politisch korrekt. Aber gerade diese im Wesentlichen als innerer Monolog vorgetragenen Einschätzungen zeichnen auf sehr gelungene und auch witzige Weise das Bild einer klugen, aber an den Verhältnissen und an ihren eigenen Ansprüchen gescheiterten Person in einem von Zerfall gezeichneten Osten.  Im Leistungsdenken des realen Sozialismus aufgewachsen, kommt sie mit den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht mehr zurecht. Auch in ihrem Verhältnis mit der eigenen Tochter ist sie gescheitert. Judith Schalansky zeichnet ein sprachlich gelungenes und intelligentes  Psychogramm. Leider etwas zu viel an Vererbungslehre. Note: 2– (un)<<

 >>Im verwaisten Flachland Mecklenburg-Vorpommerns werden die Schulen eingeebnet, Lehrerkollegien in gymnasiale Reservate zwangsumgesiedelt und Pädagogen zur bedrohten Spezies. Unter ihnen auch die lupenrein biologistisch veranlagte Lehrerin Inge Lohmark als Fossil einer ausgestorbenen Weltanschauung. Zutiefst verinnerlichte Prinzipien eines Charles Darwin hat Inge Lohmark über 30 Jahre zum Glaubensbekenntnis verdichtet, welches wenig Raum für pädagogische Ideale lässt. Die Schule ist für sie ein Gehege, in dem Schüler kaum mehr als überanstrengte Landwirbeltiere im Wachstum sind – eine Gattung, auf die die Erdanziehung dreifach zu wirken scheint und unsägliche Müdigkeit verursacht. Pubertät entpuppt sich als eine qualvolle Metamorphose, die nur selten Schmetterlinge hervorbringt, wohl aber Parasiten am Lehrkörper. Aus den leeren Hinterköpfen der Schüler strömt Inge Lohmark ein schwitzender Freiheitsdrang entgegen. Dieser Drang ist nicht nur unappetitlich, sondern soll ihr die anhaltende Angst vermitteln, ihre Aufsichtspflicht zu verletzen. Doch Inge Lohmark ist berüchtigt für ihr markantes Profil: haarscharfer Schnitt, klare Kante, verbuchte Verletzungsgefahr gerade für Schüler als Unterste im schulischen Wirkgefüge. In der Natur gilt das Prinzip des Stärkeren. Nur die nachweislich Belastbaren und genetisch Qualifizierten verdienen  Aufmerksamkeit.

Das Wunderbare der Naturgesetze ist für Inge Lohmark die unbegrenzte Gültigkeit in Raum und Zeit, in der DDR wie in der BRD, im Kapitalismus wie im Sozialismus. Doch das will und wollte niemand hören – weder die inklusionsverliebten Sozialpädagogen der Jetztzeit noch die marxistisch-leninistischen Parteigenossen, für die es nur den biologischen Phänotyp gab, weil das Individuum ein Produkt der Gesellschaft zu sein hatte und nur das. Inge Lohmark eckt an – damals wie heute. Damals als die den Genotyp-predigende Klassenfeindin, heute als sozial inkompetente, frontalunterrichtende Darwinistin. Da scheint es ihr nur logisch, dass die überall lauernden Pilze die urgeschichtliche Vorherrschaft irgendwann wieder erlangen und auch Mecklenburg-Vorpommern in blühende Landschaften verwandeln werden. Die wiederholte Kritik an ihr von Aufsichtsbehörde und Schulleiter verhallt im Rauschen ihrer Überzeugung. Warum wollen die nicht begreifen, dass sich gegenseitig quälende Schüler lediglich Naturgesetzen folgen. Bedauerlicherweise gilt selbst bei Elternabenden die inverse Erbregel: Sind die Kinder schlimm, sind die Erziehungsberechtigten noch schlimmer. Dennoch gibt es Momente mentaler Instabilität, die Inge Lohmark schon mal zu dem biologischen Unsinn verleiten, dass der Hals der Giraffe deshalb so lang geworden sei, weil die Tiere sich engagiert nach hoch hängenden Früchten gestreckt hätten. Die Schüler sollten sich ein Beispiel nehmen.
Inge Lohmark ist gefangen in ihrem kompromisslosen Strukturalismus, der weder Empathie noch pädagogische Intuition kennt. Besonders schockierend wirkt die Szene, in der ihre von den Mitschülern gemobbte Tochter zusammenbricht und sich verzweifelt auf dem Klassenzimmerboden windet, ohne dass Inge Lohmark zu irgendeiner Anteilnahme fähig wäre. Alligatoren kennen auch keine Brutpflege. Nicht überraschend lässt ihre erwachsene, später in die USA ausgewanderte Tochter die Mutter nicht mehr an ihrem Leben teilhaben. Auch Inge Lohmarks Verhältnis zu ihrem Mann ist kaum intimer als die Beziehung eines Nadelgehölzes zur Petersilie. Fortan geht der Gatte in der Zucht von Straußenvögeln auf, die ihm deutlich mehr Beachtung schenken.  Gelegentlich aber wird Inge Lohmark von Gefühlsphantasien belästigt. So wirken die blassen Pädophiliegedanken an eine junge Schülerin fast schon wie Lebenszeichen einer Verschollenen, bleiben jedoch platonisch.
Der Roman verzichtet weitgehend auf Handlungsstränge und Entwicklungen. Stattdessen beschränkt er sich auf ein einzelnes Psychogramm, eingebettet in die vielschichtige Gedankenwelt darwinistischer Naturbetrachtungen. Das Persönlichkeitsbild, das Judith Schalansky von Inge Lohmark zeichnet, ist gänzlich überzeugend. In einem rasant gepulsten Rhythmus taucht die Autorin dabei in biologische Tiefen ein: Evolutions- und Entwicklungsbiologie, Zoologie und Botanik, Systematik und Systembiologie, Zell- und Molekularbiologie – ihr Kenntnisschatz scheint unerschöpflich. Dieser Roman, der sich jedoch auf ein einziges Psychogramm beschränkt, entlässt den Leser zu früh, vor allem, wenn der Klappentext Inhalte verspricht, die der Plot nicht einlöst. Anders als die Zusammenfassung vorgibt, gerät Inge Lohmarks Weltbild nicht durch einen pädophilen Morgennebel ins Wanken und endet schon gar nicht im Glaubensverlust an den Übervater Charles Darwin. In der Hinsicht sind die literarischen Formationen leider deutlich schlichter geschichtet. Und so reduziert wie das darwinistische Daseinsverständnis endet der Bildungsroman mit den Worten, dass Frau Lohmark am Zaun steht. Was will uns das sagen? Manche Literatur- und Naturgesetze entziehen sich bis zuletzt der Entschlüsselung. Note: 2/3 (ur)<<

Im Westen nichts Neues – Erich Maria Remarque

K640_Im WestenKiepenheuer&Witsch 1959,  360 Seiten.   

>> Der 1. Weltkrieg- die Urkatastrophe des europäischen Kontinents – ist 100 Jahre her. Aber Remarques ungeheuer eindringlicher Bericht über eine Generation, die durch diesen Krieg zerstört wurde, ist zeitlos. Paul Bäumer ist 18 Jahre alt, als er wie viele seiner Klassenkameraden von der Schulbank direkt an die Westfront geschickt wird, verführt und gedrängt von patriotischen Lehrern, die selbst nicht daran denken, in den Krieg zu ziehen. Paul schildert den Alltag des Tötens und Überlebens in den Schützengräbern, in den Kasernen und Lazaretten mit der Sach- und Beiläufigkeit eines Jungen, der innerhalb weniger Monate erwachsen wird und der schnell erkennt, wie die Phrasen der Autoritäten und Stammtischpatrioten an der Realität des Sterbens im Trommelfeuer zerschellen und dass sie dort auf fürchterliche Weise auf sich alleine gestellt sind. Beim Kampf Mann gegen Mann sind sie Tötungsmaschinen, die  erst nach der Schlacht im getöteten Gegner den Kameraden, den Menschen sehen. All dies ist so überzeugend berichtet, dass es einem kalt über den Rücken läuft. „ Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute, wir sind roh und traurig und oberflächlich, – ich glaube, wir sind verloren“ . Dieses Werk ist zu Recht der Anti-Kriegsroman schlechthin! Pflichtlektüre. Note: 1(ün)<<

>>  Der Ich-Erzähler Paul Bäumer ist kein Widerstandskämpfer. Bäumer ist der Abiturient, der am Leben hängt, aber wie Millionen andere in den Westen gerät. Dieser Westen ist die Welt in ihrer schamlosesten Nacktheit. Es ist die unmoralistische Daseinsforms. Es ist das Morden als Lebensinhalt. Es ist der erste Weltkrieg an der Westfront. Dennoch ist nichts Neues an diesem Westen. Ein Westen, der in allen Himmelsrichtungen liegt, die der Mensch mit seiner Gewaltnatur zermalmt wie eine zeitlose Naturgewalt.
Chronologisch skizziert Remarque zunehmend vernichtende Episoden einer Gruppe junger Männer: vier Schüler einer Abiturklasse, vom Klassenlehrer Kantorek zum Vaterlandskrieg gezerrt, und vier bodenständige Burschen aus Handwerker- und Bauernfamilien. Schon bei der Grundausbildung erleben sie die Werteverschiebung, die einen geputzten Knopf schwerer wiegen lässt als Moralvorstellungen deutscher Gelehrter. Das Ich soll gebrochen werden. Die bedingungslose Anpassung wird durch Schrubben der Korporalschaftsstube mit einer Zahnbürste oder durch das vom Feldwebel organisierte Anpissen von Bettnässern erzwungen. Bis sie die Front erreichen, ist ihr innerer Widerstand in abgestumpfter Gleichgültigkeit zerronnen, gepaart mit mitleidloser Härte – zwei Grundvoraussetzungen um im folgenden, seelischen Inferno der blutgetränkten Front zu überdauern. Halt bietet nur die in äußerster Not gereifte Kameradschaft. Gemeinsam ist ihnen beim Anblick des ersten Toten die grausame Erkenntnis, dass der Aufruf zur Verteidigung deutschen Kulturguts die eigene Todesangst nicht aufwiegen kann. Auch sie sind Patrioten, keine Deserteure. Aber sie hängen am Leben und erleben mit sich selbst, dass dies mehr wiegt als abstrakte Ideale. Nur am Anfang gibt es noch den fassungslosen Abschied des neunzehnjährigen Franz, der schon nicht mehr nach seiner Mutter ruft, sondern ganz allein bleibt mit seinem kleinen, angeschossenen Leben, das ihn gleich verlassen wird, während Bäumer bei ihm sitzt.
Schon bald greifen die Schutzmechanismen, und andersartige Lichtflecken werden zu Haltepunkten im großen Dunkel: die begehrenswerten Kampfstiefel des sterbenden Freundes, die doppelten Essensrationen der auf die Hälfte zusammengeschossenen Kompanie, das legendäre Dosenfleisch in den vernichteten französischen Unterständen. Die Scham verflüchtigt sich. Das gemeinsame, stundenlange Verdauen auf dem Scheißhausplatz wird zur kollektiven Entspannung. Der Krieg, den auch sie gestalten, ist von grausamer Mannigfaltigkeit. Die massenhaft eingesetzten Pferde sind genauso Ziel und Fleisch, das von den Explosionen zerrissen wird. Unerträglich das zermürbende Brüllen der Tiere, die über die aus ihrem Leib hängenden Gedärme stolpern. Die Zuflucht vor einem Gasangriff treibt die Soldaten auf einen der unzähligen Friedhöfe. Dem folgenden Granatangriff entkommen sie nur, weil die Geschosse sich in den frischen Leichnamen der gefallenen Kameraden verfangen. Frisch gebackene Rekruten erliegen dem Grabenkoller, stürmen ins Freie und sind schon Sekunden später von Minen zerrissen, so dass sich der Brei aus Fleisch und Uniformfetzen mit dem Löffel von der Wand kratzen lässt. Mit ihren durchlöcherten Seelen werden die Überlebenden gefühllose Tote, die den heranstürmenden Franzosen mit dem Spaten die Gesichter spalten, vorbei an Gegnern, deren Oberkörper im Drahtverhau hängen, während die Unterkörper weggeschossen wurden. Oder umgekehrt der Kopf schon abgetrennt wurde und der Leib, aus dem das Blut hervorschießt, noch ein paar Schritte auf sie zu macht. Ein blinder Lebenskampf speist ihren Wahnsinn. Rache macht sie zu Tieren.
Und daheim in der gefechtslosen Zone? Die Männerwelt fordert gesteigerten Kampfgeist, der Vater giert nach Frontgeschichten, der Fabrikdirektor will die französischen Kohlegebiete und von Bäumer und seinen Kumpanen mehr Engagement, um dem Franzmann endlich den Arsch zu versohlen. Die Mütter weinen um ihre schon verlorenen Söhne und erkranken tödlich in Furcht, weitere verlieren zu müssen.
Das Grauen wird nur ertragen, wenn man es innerlich aussperrt. Gefühle, die für den Frieden geradezu dekorativ sind, zermürben den Überlebenswillen. Aber Bäumer ist sich sicher, dass der mentale Tod spätestens dann kommt, wenn das Töten ein Ende hat und die verdrängten Bilder in der Ruhe des Friedens in die Seele kriecht. Da der Heimaturlaub zur zermürbenden Besinnung verleitet, wird er für ihn zum Trauma. Selbst die wundervoll erotische Begegnung mit französischen Mädels vertieft die Zweifel, warum man einander morden muss, wenn man sich noch nicht einmal kennt. Den Höhepunkt dieses Fluchs erlebt Bäumer in einem Sprengkrater, als er eigenhändig einen Franzosen ermordet und dessen langsam voranschreitendes Dahinsiechen miterleben muss ohne im pausenlosen Geschützfeuer flüchten zu können. Sein Schwur, sich mit dessen Familie zu versöhnen, währt nur bis zur Rückkehr zur rettenden Truppe. Dann hat der Tötungsreflex ihn wieder fest im Griff. Am Ende wird Bäumer selbst Opfer – an einem ruhigen Tag, dessen Kriegsbedeutung lapidar mit der Bemerkung: „Im Westen nicht Neues“ protokolliert wird.
Es ist vor allem ein Buch des Verlustes des Menschlichen. „Wir waren achtzehn Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu lieben; wir mussten darauf schießen. Die erste Granate, die einschlug, traf unser Herz. Wir sind abgeschlossen vom Tätigen, vom Streben, vom Fortschritt. Wir glauben nicht mehr daran; wir glauben an den Krieg.“ (S. 93)
Bemerkenswerterweise wird die politische Willkür nur sehr vereinzelt gestreift wie auf Seite 198: „Ein Befehl hat diese stillen Gestalten zu unseren Feinden gemacht; ein Befehl könnte sie in unsere Freunde verwandeln. An irgendeinem Tisch wird ein Schriftstück von einigen Leuten unterzeichnet, die keiner von uns kennt, und jahrelang ist unser höchstes Ziel das, worauf sonst die Verachtung der Welt und ihre höchste Strafe ruht.“ Der weitgehende Verzicht auf historische Details erlaubt die uneingeschränkte Übertragbarkeit des Prinzipiellen auf andere Kriege. Remarque fokussiert stattdessen auf das Individuum und seine bestialische Verwahrlosung im Kontext systematischer Gewalt. Er beschreibt den Verfall und seine geradezu mechanische Schuldwerdung. Durch die Ich-Erzählung wird zudem nicht nur der Eindruck von Authentizität erzeugt, sondern auch die ethische Glaubwürdigkeit gesteigert.
Es ist ein Buch von unbeschreiblicher emotionaler Ernsthaftigkeit, ein Buch, welches die Kunst vollbringt, die Grausamkeit zu konkretisieren und doch eine feinfühlige Poesie zu wahren. Die Sprachgebung hinterlässt dabei eine tiefe antimilitaristische Wirkung, ohne dabei moralisch zu werden, ohne politische Kausalitäten zu bemühen und ohne dabei humanistische oder spirituelle Forderungen zu stellen. Ein unglaubliches Werk, das wichtiger nicht sein kann. Note: 1 (ur)<<

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst- Shani Boianjiu

K640_Das VolkKiepenheuer&Witsch 2013,  332 Seiten.

>> Kürzlich wurde in einem Streiflicht der Süddeutschen Zeitung die Buchreihe “Bücher, bei denen man über die ersten 30 Seiten schwer hinauskommt“ propagiert. Ich wollte diesen Roman  vorschlagen, aber wahrscheinlich eignet er sich noch besser für eine Reihe, bei der es um die letzten 30 Seiten geht.
Eine Jugend in Israel. Nach der Lektüre ist man geneigt, sich um diese Jugend zu sorgen. Ich habe beim Israelkenner Henry M. Broder angefragt, ob der Roman übertreibt. Bislang keine Antwort. Yael, Avishag und Lea gehen zusammen zur Schule in einem Dorf an der Grenze zum Libanon. Sie langweilen sich, flüchten sich in imaginäre Welten, Probleme der späten Pubertät, eine Adoleszenz, die normal scheint, im Gegensatz zum Ort und zur Zeit. Der zweijährige Pflichtwehrdienst schließt sich unmittelbar an. Lea an einem Checkpoint, Avisihag in einer Kampfeinheit an der ägyptischen Grenze und Yael als Ausbilderin. Ein Militärdienst mit viel Monotonie, aber auch mit Schikanen und Brutalität. Nach der Rückkehr ins Zivilleben zeigen sich die Folgen. Depressionen, große Anpassungsschwierigkeiten und wenig Perspektiven. Die Sprache ist meist sehr derb, dem Milieu angepasst. Der Originaltitel: „The people of Forever are not afraid“ wurde mit „Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst“ übersetzt. Das wirkt leicht ironisch, oder?  Der spanische Titel lautet übersetzt: „Leute wie wir haben keine Angst“.  Der französische Titel ziemlich frei: „Wir tun so, als wären wir jemand anders“. Der Roman ist kein Lesevergnügen, aber die junge Autorin (geboren 1987) kennt die Welt, über die sie schreibt. Sie war zwei Jahre lang  Waffenausbilderin in der israelischen Armee. Ihren ersten Roman könnte man als ein Antikriegsbuch der etwas anderen Art einstufen. Was wohl ihre Offiziere zu diesem Buch sagen? Note: 3 (ax)<<

>>„… stand vor Avis Auto ein mit bunten Aufklebern übersäter Transporter. Auf einem der Aufkleber stand: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst. Unsere einzige wahre Stütze ist unser Vater im Himmel“. So wahllos die Aufkleber das Lieferwagenheck übersäten, so inhaltsleer das Motto. Den inszenierten Israelis dieses Romans waren Volk und Ewigkeit so bedeutungsvoll wie der Klebstoff auf der Rückseite der Etiketten. Ihr Problem war der fehlende Zusammenhang – „war die Zukunft der Vergangenheit, die sie nicht hatten.“ Warum war am Anfang ihrer Jugend traurige Leere und warum entleerte die Gegenwart auch die Zukunft? In der Mitte war nur der innere und äußere Kriegszustand, der alle Abiturientinnen, also auch sie, in Gewaltfluten ertränkte.
Die drei Klassenkameradinnen Yael, Avishag und Lea quälten sich im israelisch-libanesischen Grenzland durch die Ödnis ihrer letzten Schultage. Selbst am Handymast war kein Empfang. Kein Elternteil wollte wenigstens für eine Nacht die triste Wohnung für eine Spontanparty räumen. Alleinerziehende Mütter zerbrachen an Familiendramen. Der Bruder vollstreckte sein Lebensende nach vollbrachtem Wehrdienst und im Unterricht sorgten lediglich Kriegsanekdoten für Unterhaltung wie die der arabischen Panzerfaustkinder, die sich in ihrem kindlichen Unwissen mit den für sie viel zu großen Waffen zuhauf selbst verbrannten.
Es war der Vorkrieg, der den Seelenunfrieden nährte. Wie alle Mädchen, so wurden auch sie zum Militärdienst zwangsverpflichtet. Avishag fühlte sich immer ungehört und fand erst in der Übungsgaskammer die Freiheit zu reden – wegen der ätzenden Atmosphäre konnte sie hier niemand aufhalten. Sie wurde schwanger. Sie tötete durch Abtreibung. Und während sie das tat, verfolgte sie auf dem Bildschirm zur Überwachung des Grenzgebietes die kleinen Pixel, die ein sudanesisches Mädchen zeigten, wie es sich im Stacheldraht verfing. Auch dieses Mädchen hatte in der Familie getötet. Die eigenen Eltern, um genügend Geld für den Schleußer zusammenzutragen. Alle Formen von Gewalt, auf allen Seiten. Gewalt war so erbarmungslos fantasievoll.
Yael wurde Schießausbilderin mit profundem Detailwissen über Drehmomente und Durchschlagskräfte aller Munitionstypen. Dank ihres geduldigen Einfühlungsvermögens lernte auch der unbegabteste Rekrut Boris das Zielen, das ihm um ein Haar ermöglicht hätte, die kleinen Palästinenserbuben abzuschießen, die mit abenteuerlichem Mut nicht nur Patronenhülsen einsammelten, sondern auch die Sicherheitszäune stahlen. Der Granatwerfer ALGL, mit dem kürzlich hocheffizient eine Schule samt 73 Insassen zum Einsturz gebracht worden war, hinterließ den größten Eindruck. Im Wechsel mit selbst infundierten unterkühlten Blutkonserven waren für die Soldatinnen diese Spielnachmittage die unterhaltsamsten auf dem Stützpunkt.
Lea kontrollierte am Checkpoint täglich hunderte Palästinenser, die als Tagelöhner beim israelischen Siedlungsbau unentbehrlich waren. Es kam wie es kommen musste. Der alte Araber Fadi verzweifelte an den Demütigungen der Kontrollen, opferte sein Brot und dann das Leben eines Grenzsoldaten. Fadi überlebte seine Tat, aber Lea quälte ihn später fast zu Tode.
Dem Vorkrieg folgte der Krieg. Es war vor allem der innere Krieg, der die Seelen pulverisierte. Die Mädchen vagabundierten zwischen Monotonie, Grausamkeiten und instrumentalisierter Sexualität, in der die Rollenverteilung zwischen Täterinnen und Opfer völlig verschwammen. Avishag provozierte durch einen Nacktauftritt zunächst die ägyptischen Grenzsoldaten auf der feindlichen Seite, dann die Admiralität und letztlich die Justiz, die mit Inhaftierung und schließlich Entlassung aus der Armee konterten. Es folgten Monate in tiefster Depression in der Gewissheit, nie wieder zu genesen. Auch Yael wurde die sadistischen Engramme nicht mehr los. Im Wehrdienst war es die Genugtuung bei Scheinhinrichtungen willkürlich aufgegriffener Araber. Danach war es die Brandopferinszenierung des alten Nachbarn, dem die Mädels in absurder Weise den Mord an einem Olivenbaum unterstellten.
Dem Krieg folgte der Nachkrieg. Jahre waren vergangen. Die Frauen trafen sich zu einem Klassentreffen auf dem fast aufgelösten Stützpunkt. Als sie ein beleidigendes Wortgefecht mit jungen Soldaten provozierten, folgten über Tage anhaltende Massenvergewaltigungen. Am Ende töteten sie die Peiniger  – oder auch nicht. Das Buch lässt uns im Unklaren. Boianjiu verwischt in diesem destruktiven Universum die Entwicklungen wie auch die Grenzen zwischen den TäterINNEn, die zu einer geschlechtsegalen Gewissenlosigkeit verkommen.
Ein bemerkenswertes Erstlingswerk einer blutjungen Autorin. Wenn auch nur erzählt im Rahmen von Persönlichkeiten schwingt dennoch eine politische Dimension mit: ein kontaminiertes Gesellschaftssystem, ein die Jugend zermürbendes Israel, ein gewaltverseuchter Naher Osten. Im indirekten Sinne mag man auch Elemente einer Anti-Kriegsliteratur erkennen. Wenn Krieg in die Köpfe gelangt, kommt auch Krieg heraus.
Und dennoch – trotz aller Bedrückung und verschwommener Bezüge, wohnt zahlreichen Passagen eine Leichtigkeit inne, die sich sowohl aus der Prosa wie auch aus den Plots speist: ein Vater versucht mit dem symbolischen Versenken seines Autos ein therapeutisches Schlüsselerlebnis für die seelische Genesung seiner Tochter auszulösen. Oder die Groteske, in der eine 3-Mann-Demonstration um eine gewalttätige Niederschlagung bat, um es wenigsten auf Seite 5 der Lokalzeitung zu schaffen, die kooperationsbereite Grenzwächterin dafür jedoch erst Vorschriften und mit den Dreien die Choreographie einstudieren musste. Leider verabschiedet sich das Werk mit Längen und einem verwaisten Schluss. Note: 2– (ur) <<

>> Das Buch war für mich eine Enttäuschung. Die Erwartungen waren groß: Israel, eine gewaltige geopolitische Konfliktregion, Militärdienst, 3 junge Frauen. Was hätte man nicht alles erzählen können! Dass Militärdienst langweilig sein kann und Krieg verroht- auch in Israel- ist keine überraschende Erkenntnis. Dass dies auch für Frauen zutrifft, schon eher. Zu den 3 Protagonisten in Boianjius Roman entwickelte sich bei mir überhaupt nie so etwas wie Nähe. „Der Leser wird ausgesperrt“, habe ich in einer der wenigen kritischen Rezensionen gelesen. Genau so habe ich es empfunden. Das Schicksal der jungen Frauen lässt einen seltsam kalt. Der in mancher Rezension diesem Werk zugeschrieben Humor – nicht auszumachen. Dafür lange Passagen, die bemüht und angestrengt rätselhaft gehalten werden und die, wenn überhaupt, erst viel später dürftig aufgelöst werden. Note: 4 (ün) <<

Der Steppenwolf- Hermann Hesse

K640_steppenwolfS. Fischer Berlin1927,  289 Seiten. (Erstausgabe)

>> Der Steppenwolf thematisiert die versuchte Metamorphose eines vergeistigt Einsamen zu einer natürlichen bipolaren Persönlichkeit, die Wolf und Mensch, Eros und Geist, frei denkenden Künstler und angepassten Bürger als untrennbare Teile in sich trägt und anerkennt. Von mehreren Lebenstiefen in die menschenleere Steppe blutleerer Entfremdung verschlagen, vagabundiert der Steppenwolf alias Harry Haller jahrelang von Fremde zu Fremde bis er in den Bannkreis eines Dreigestirns zwielichtig anmutender Gestalten gerät, die ihn Träume, Trieb und Tabubrüche lehren. Am Ende ist er kein anderer, aber einer, der den Horizont der Steppe erblickt: „Einmal würde ich das Figurenspiel besser spielen. Einmal würde ich das Lachen lernen.“ Ein Entwicklungsroman mit Elementen des psychoanalytischen C.G. Jung, indischer Religiosität, transzendierender Rauschmittel und zwischen deutschen Kulturgütern und Weltkriegseuphorie.
Hesse strukturiert den Roman unglücklich in einer mehrteiligen Form, in dem er Harry Haller dreimal und damit redundant inszeniert, ohne dass die drei Strukturkomponenten einander überzeugend ergänzen, sei es komplementär oder antagonistisch. Im „Vorwort des Herausgebers“ führt der Neffe von Hallers Vermieterin den Steppenwolf ein. Der spurlos verschwundene Harry Haller habe ihm Aufzeichnungen hinterlassen, aus denen er zitiert und sie kommentiert. Der Neffe beschreibt Grundzüge seines Wesens und betont das Prinzipielle eines Harry Hallers, dessen Seelenkrankheit die gesellschaftliche Neurose einer ganzen Generation sei. Im zweiten Abschnitt folgen „Harry Hallers Aufzeichnungen“, die sich als selbstkritisches Tagebuch bis zum Ende des Buches erstrecken und neben der unmittelbaren Detailbeschreibung eines 10-Monate umfassenden Zeitraums auch übergeordnete Reflexionen von Harry Haller beinhalten. Im dritten Abschnitt, dem „Traktat vom Steppenwolf“, der als in sich geschlossene Abhandlung in den zweiten eingebunden ist, wird ein „Harry“ von einem unbekannten Verfasser charakterisiert. Harry Haller erhält das Traktat, das grundlegende Aspekte des Vorwortes wiederholt und andere von „Harry Hallers Aufzeichnungen“ vorwegnimmt, von einem Straßenverkäufer. Für den folgenden Wandlungsprozess Hallers, der hier mit seinem eigenen Psychogramm konfrontiert wird, mag es Grundlage des folgenden Erkenntnisabenteuers sein. Für den Leser ist eine wenig erhellende Doppelung. Hesse lässt hier die Möglichkeit ungenutzt, verschiedene Facetten des Harry Haller aus unterschiedlichen Blickrichtungen herausarbeiten.
Harry Haller ist akademisch durchdrungen, vielleicht Journalist, auf Grund öffentlicher Beiträge gegen die überschäumende Kriegsbegeisterung zum intellektuellen Verräter gestempelt, als Bildungsbürger mit großen deutschen und musischen Idealen wie Goethe und Mozart tief verbunden, enttäuscht von der Angepasstheit des verachteten Normalbürgers, und von den eigenen Überzeugungen in eine weit reichende Isolation getrieben. Harry Haller ist zum gesellschaftlichen Nomaden geworden, dessen mentale Nicht-Sesshaftigkeit ihn zu dem Entschluss führt, noch zwei Jahre bis zu seinem 50. Lebensjahr die Qualen zu ertragen, und dann gegebenenfalls mit einem Freitod die Erlösung zu suchen. Die Vorstellung lässt ihn nach Berufs-, Familien- und Heimatverlust ruhiger werden.
In dieser Grundstimmung gerät er bei einem Gaststättenbesuch in den Bann einer jungen Frau. Sie wird sich später als Hermine vorstellen. Beide verbindet von Anbeginn eine Seelenverwandtschaft, die ihr erlaubt, Hallers Krisenzustand augenblicklich zu erfassen mit der Folge, dass Harry ihr entgegen seinem Naturell bedingungslos folgen wird. Er wird mit ihr verachtete Jazzmusik genießen, wird von ihr tanzen lernen, wird sich von ihr die schöne Freundin Maria ins Bett legen lassen, wird die wilde Anonymität eines Maskenballs genießen und wird seine Vermieterin durch nächtlichen Damenbesuch überraschen. Hermine wird ihn lehren, das Leben zu genießen, Normen zu durchbrechen, ja – nicht nur den Wolf in sich zuzulassen, sondern diesen mit dem Vernunftmensch in einen Rhythmus zu bringen. Er folgt Hermine, obwohl sie beängstigend klar absolute Gefolgschaft fordert und voraussagt, dass er sie am Ende töten wird. Dieser von ihr geforderte Tod ist die symbolische Tötung des alten, des versteinerten Harry Hallers. Eine Seelenüberwindung, die unabdingbar scheint für die Läuterung, für die Geburt des neuen Harry Haller, der Wolf und Mensch in sich in Gleichklang zu bringen bereit ist. Die Mediatoren dieses beginnenden Läuterungsprozesses sind neben der weisen Dirne Hermine ihre wunderschöne Freundin Maria und der von beiden Frauen geliebte Jazzmusiker Pablo. Während Hermine die wissende Seherin des Trios darstellt, ist Maria unmittelbare Erotik in ihrer reinsten Form. Pablo verkörpert den Zauberer, der zunächst mit Musik, später mit bewusstseinserweiternden Drogen Erlebniswelten jenseits der Ratio für Harry Haller eröffnen wird. Harry Haller wird in bizarre Welten gespült. Bereitwillig lässt er sich von den Strömungen erfassen, ist überrascht von ihren stimulierenden Strudeln und badet in lebensbejahenden Aromen.
Höhepunkt ist der Besuch eines magischen Theaters, in das ihn Pablo unter dem Einfluss eines Drogenelixiers führt. Tausend Türen führen ihn in verdrängte und geleugnete Verschläge seiner Seele. Gewaltorgien werden begeistert ausgelebt. Eitelkeiten selbstverständlich zelebriert, Liebesfantasien nachgeholt und schließlich der vorhergesagte Mord an Hermine vollzogen, während sie gerade mit Pablo verkehrt. Benommen verlässt Harry Haller das Traumkabinett. Die in einem Gericht vorkündete Höchststrafe für den Mord scheint ein Teil des Schlüssels für verschlossene Türen seines Selbst zu sein: man verordnet ein unbegrenztes Leben mit Humor. Haller scheint auf dem rechten Weg – auch sein geschätzter Mozart spricht ihm in dieser Welt des Unbewussten Mut zu – dennoch ist noch eine unbekannte Wegstrecke unbewältigt.
Vermutlich ist es vor allem das Anliegen der Sinnsuche und die unvollendete Selbstfindung, die den Roman Steppenwolf in Zeiten gesellschaftlicher Zweifel nach den Welt- und dem Vietnamkriegen wieder eine hohe Aufmerksamkeit bescherte. Literarisch durchaus mit Feinheiten angereichert, überzeugt die Konstruktion jedoch nicht vollständig. Note: 3 (ur)<<

>> Das Vorwort des Herausgebers nimmt eine Botschaft der nachfolgenden Aufzeichnungen Harry Hallers vorweg: Nicht die „pathologischen Phantasien eines einzelnen, eines armen Gemütskranken“ offenbart uns Hesses „Steppenwolf“, nein, dies ist „ein Dokument der Zeit, denn Hallers Seelenkrankheit ist….die Neurose jener Generation, welcher Haller angehört, und von welcher keineswegs nur die schwachen und minderwertigen Individuen befallen scheinen, sondern gerade die starken, geistigen, begabtesten.“ Sieht man von der mehr als irritierenden Kategorisierung der Individuen durch den Neffen der Vermieterin einmal ab, so spiegelt sich in der Figur des Steppenwolf in der Tat die Krise einer Gesellschaft, die nach der Katastrophe des 1. Weltkriegs von Harry Haller als „sinnlos gewordenes Menschenleben“ erfahren wird. Untergang des Abendlands (unglaublich visionär Hesses Gespür für die Katastrophe der Jahre nach 1933), „bankrotte Ideale“, Verhöhnung der Bürgerlichkeit, Fluch über „diese fette gedeihliche Zucht des Mittelmäßigen, Normalen, Durchschnittlichen“, eine zuweilen radikale Zivilisations- und Konsumkritik (Luxusstädte, Massenvergnügungen, Negermusik, Lust ein Warenhaus kaputt zu schlagen) – die gebrochene Künstlerexistenz Harry Haller und in ihr Hermann Hesse zieht sich in die Einsamkeit zurück. Zwei Schicksalsschläge Hesses, der Verlust seines Vermögens und der Zusammenbruch seines Familienlebens durch seine geisteskrank  gewordene Frau markieren den autobiographischen Hintergrund. Doch der Abschied von der Welt (Selbstmordpläne des 48jährigen Haller), der Rückzug in die kleine Mansarde, umgeben von dem, „, was wir `Kultur‘, was wir Geist, was wir Seele, was wir heilig nannten“, diese Scheinheimat des „einstigen Europas“, der „echten Musik“ (Bach, Mozart), der echten Dichtung (Goethe), erfährt eine Wendung mit der Lektüre des „Traktats vom Steppenwolf“. Diese „Studie von unbekannter Hand“ hält Harry Haller den Spiegel vors Gesicht, hebt den vordergründigen Dualismus von Mensch und Tier, Geist und Trieb, Heiligem und Wüstling auf und verweist auf die Vielfalt von Persönlichkeitsstrukturen. Das Traktat eröffnet Haller die „Befreiung seiner verwahrlosten Seele“ und verheißt ihm „tausend magische Möglichkeiten“ der Erkenntnis: „Ein Nichts genügt, und der Blitz schlägt ein“ (239). Mit dem Blitzeinschlag ins Magische Theater verlassen wir im Wesentlichen die Mansarde und die dumpfe Betäubung im „Stahlhelm“. Neben den Kopf tritt der Bauch. Hermine, Pablo, Maria sind die Verheißungen der Gegenwelt und mit ihnen oder durch sie erfüllt sich für Harry Haller zunächst auf realer Ebene und später – wie Faust verjüngt – durch einen großartigen orgiastischen Ritt in die Welt des Unterbewussten (Türen und Inschriften eröffnen das „Jagdabenteuer“ ins Nebeneinander von Eros und Destruktion) das, was ihm bisher verborgen, und daher unerfüllt blieb. Hallers Erinnerungen an die ersten Beziehungen zu Frauen, seine Enttäuschungen, seine Wunschträume, die Erfahrungen neuer Formen des Spiels mit Maria, das wolllüstige Nacherleben des Entgangenen hinter dem Türchen „Alle Mädchen sind dein“, – ja, Männerphantasien und von Hesse glänzend beschrieben.
Dass sich das Magische Theater zunehmend in ein von mephistophelischer Hand gesteuertes Figurentheater auflöst, Harry und Gustav Episode, Hermine Hermann Verschmelzung, Harrys Hinrichtung, Pablo und Mozartidentität (komödiantische Züge), eröffnet der Psychoanalyse sicherlich ein weites Feld. Ich jedenfalls konnte am Schluss nicht lachen, zumal unklar bleibt, was Harry Haller umnebelt vom „süßen schweren Rauch“ wirklich begriffen hatte: „Oh, ich begriff alles“. Note: 2 (ai)<<

 >>  Der Meister H.H. himself stellt  im Maria-Kapitel des „Steppenwolf“  die Frage, die man sich zwangsläufig stellen muss, wenn man dieses Buch  40 Jahre nach der ersten eigenen Rezeption im zarten Alter von 25 Jahren heute  wieder liest:  “Hatten wir Kenner und Kritiker nicht alle als Jünglinge Kunstwerke und Künstler glühend geliebt, die uns heute zweifelhaft und fatal erschienen?“  Eine Lese- Versuchsanordnung mit dreifacher Fragestellung: Kommt die Erinnerung an das eigene Lebensgefühl der 70-er Jahre wieder, lassen sich die enormen Wellen, die das Buch damals in Europa und besonders in den USA auslösten heute noch nachempfinden und was hat der Steppenwolf mir heute noch zu sagen?
Der formale Aufbau besticht meiner Meinung nach auch heute noch: Da ist das  30 Seiten umfassende „Vorwort des Herausgebers“, in dem der Neffe von Harry Hallers Vermieterin seine Sicht auf diesen eigenartigen Außenseiter schildert. Dann Harry Hallers eigene Aufzeichnungen- untertitelt mit „Nur für Verrückte“. Darin eingebettet dann das in einem Jahrmarktheft gefundene und von „unbekannter Hand“ geschriebene „Tractat vom Steppenwolf“, das einen Mann namens Harry, genannt der Steppenwolf beschreibt. Annäherung also von drei Seiten, das ist spannend.
Die enthusiastische Wiederentdeckung in den 70 er Jahren, als ein nicht unbeträchtlicher Teil der politisierten Jugend sich auf dem Weg nach innen machte und die Hippiebewegung aufkam, lässt sich auch heute nach gut nachempfinden. Der Steppenwolf,  der im „Zeichen des Wassermanns stand“ („age of aquarius“), verabscheut zwar die bürgerliche Welt und führt ein  ganz und gar unkonventionelles Leben, es bleibt aber auch eine gewisse Sehnsucht nach der Ordnung seiner Kindheit in genau dieser Welt. Er fühlt sich aus aller Geborgenheit und Unschuld heraus gefallen und leidet an der Streberei, der Eitelkeit, der Oberflächlichkeit und an dem eingebildeten, seichten Getue  seiner Umgebung. Seine Abneigung schlägt in richtiggehenden Hass um, wenn er die satte Zufriedenheit  geißelt, die sich auch bei ihm manchmal einstellt und er dann den Wunsch nach wilden, echten Gefühlen und Schmerz verspürt und eine Lust bemerkt, irgendetwas kaputtzuschlagen, etwa ein Warenhaus oder eine Kathedrale. Ob Andreas Baader den „Steppenwolf“ gelesen hat? Oder Rio Reiser? („Macht kaputt, was Euch kaputt macht“)  Auch seine Warnung, nicht das „Denken“ als alleinige Voraussetzung für die Entwicklung des Menschen anzusehen, passt gut in eine Zeit, in der die Ratio zugunsten von Emotion und Spiritualität in den Hintergrund trat und sich hunderttausende einem fernöstlichen Bhagwan oder anderen  Gurus  zuwandten  und in der Individualität auf dem Weg zur Erleuchtung ein Hemmnis darstellte.
Die Bipolarität Mensch-Tier, Geist- Trieb, Ich und nichtsublimierte, reine Natur, stellt zwar eine  grobe Vereinfachung dar, hilft aber bei einer ersten Analyse. Dazwischen schwankt “ angstvoll bebend sein Leben“. Seine Vision vom „wahren Menschen“ , der Weg zu den „Unsterblichen“  könnte von  Nietzsches „Übermensch“ beeinflusst sein, in der Adaption der 70 er Jahre mag darin mancher der Weg zur „Erleuchtung“ gesehen haben. Visionär und gleichzeitig auch zeitlos (Erscheinungsjahr 1927) die Passagen über Kriegsvorbereitungen und Kriegstreiber. Ebenso sieht er mit der aufkommenden Verbreitung von Radioapparaten auch die Gefahren der Zerstreuungs- und  Unterhaltungsindustrie auf die Gesellschaft zukommen. Fulminant übersteigert wird dieser Kulturpessimismus dann später in der im Drogenrausch erlebten, Gewaltorgie gegen  Autos und ihre Fahrer, die schon etwas von den Amokläufen des 21.Jahrhunderts erahnen lässt.
Im verruchten Schwarzen Adler trifft HH dann Hermine. Nicht zufällig das weibliche Pendant zu Hermann, HHs „Jugendfreund“ . In Nebel der Drogen verschwimmen  dann  auch folgerichtig die Grenzen zwischen den Geschlechtern und Hermine und Hermann sind eins. Hermine wird für den Steppenwolf zum Meister, zum Führer in seine Innenwelt, so wie es später in den 60- er Jahren der Meister  „Don Juan“ für Carlos Castaneda  oder die Zen-Meister für Heilsuchende wurden. Sie führt ihm auch Maria zu, durch die HH einen ganz neuen Kosmos kennen lernt:  Begierde, raffinierte Liebesspiele, bedingungslose Hingabe, Ausschalten des Intellekts, Anerkennung geheimer Triebe, freie Liebe. Maria hat zwar keine Bildung, sie erreicht aber seine Seele.
Hermine wiederum ist eine intellektuelle Führerin:  Sie verortet ihr Schicksal und das des Steppenwolf in ihrer Zeit: Für sie beide sei die heutige Zeit nicht gemacht, sie hätten eine Dimension zu viel für die Welt.
Ein weiterer Führer ist Pablo, der ebenfalls ein Geliebter Marias ist und der Hermine mit Drogen versorgt. Auch HH lässt sich mit Pablo auf das Rauchen von Substanzen ein, die ihnen den Eintritt in eine eigene Welt ohne Zeit, das “magische Theater“ verschaffen, in der sie ihre Persönlichkeit hinter sich lassen können, sich selbst nicht mehr ernst nehmen müssen.  In diesem magischen Theater gibt es unzählige Zimmer mit originellen Aufschriften, wie „Alle Mädchen sind dein!“  oder „Auf zum fröhlichen Jagen!“, in dem die schon beschriebene Hatz auf Automobile abläuft.
Die Reise durch die Zimmer des magischen Theaters  gleicht einer Reise in die tiefsten Schichten der Psyche und stellt für mich ein Highlight des Romans dar, nach dessen Lektüre sich  auch heute noch gut nachvollziehen lässt, dass er zum Kultbuch einer ganzen Generation und zum Wegweiser für weitere Kultbücher werden konnte.
Note: 2+ (ün)<<

>> Sie lesen hier einen meiner Buchkommentare, die, wie ein Mitquartettler unlängst im Tessin völlig zu recht meinte, auf dem Weg zwischen Ahornweg 6 und Ahornweg 12 entstehen. Voll erwischt.
Also: keine leichte Kost, dieser Steppenwolf. Die Warnung des Autors: „Eintritt nicht für jedermann“ macht schon Sinn. Nicht erst auf der letzten Seite spüre ich, dass es der Autor des Romans ungleich schwerer mit dem  Leben und sich selbst hatte als etwa ich, obwohl er es, wie man so zu sagen pflegt, in vielerlei Hinsicht deutlich „weiter“ brachte. Darf man einen, der die Wonnen der besinnungslosen Hingabe in einem Alter entdeckt, in dem andere schon fast wieder ihren Frieden mit den Trieben schließen, einen Spätzünder nennen? Oder ist das zu respektlos gegenüber einem Nobelpreisträger, der ganz gewiss viel Gutes getan hat in seinem langen Leben, das er eigentlich mit 50 beenden wollte, sich aber zum Glück eines Besseren besann. Auf eine Inhaltsangabe kann ich getrost verzichten. Da gibt es schon viele, viele und sehr gute.  Die Sekundärliteratur ist immens.
Aber auch mit selbiger habe ich keinen rechten Zugang gefunden. Vielleicht weil es „Nur für Verrückte“ geschrieben ist? Oder weil ich inzwischen vielleicht schon zu alt bin für dieses Buch ? Petra Kipphoff hat das Buch zweimal gelesen. Zuerst als Jugendliche und dann viel später nochmals. Da kann sie ihre erste, aufgewühlte Reaktion überhaupt nicht mehr verstehen (ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher). Abgesehen vom Kapitel „Hochjagd auf Automobile“, das in seiner visionären Kraft furchterregend wirkt. Diese Szenen beunruhigen. Die Rocknachtigall Lindenberg hingegen hat einen ganz persönlichen Zugang zum Autor gefunden „Danke Hermann, für Deine Inspiration!“ ruft Udo in die Calwer Sommernacht (Südwestpresse, 21.Juli 2014). „Bei meinem ersten Besuch in seiner Geburtsstadt Calw lag Magie in der Luft…“ schreibt Lindenberg auf der Homepage seiner Stiftung (www.udo-lindenberg-stiftung.de), auf der sich manch Interessantes zu Hesse findet. Fahren wir doch mal zusammen nach Calw…
Das letzte Wort soll aber nicht sein Fan, sondern der Autor selbst haben:

„… Steppenwolf trabe und trabe,
Die Welt liegt voller Schnee,
Vom Birkenbaum flügelt der Rabe,
Aber nirgends ein Hase, nirgends ein Reh!“
(…).
Nirgends.

Note: 3/4 (ax)<<

Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters – Tilmann Rammstedt

K800_bankberaterDumont 2012 , 156 Seiten.

>> Bruce Willis,  Los Ängeles – Cool Street 66 -12 of abril 2014

Dear Mister Tilman Rammstedt:
sorry that I answer you so late finally and ultimatly.

First I cannot read and speak german.
And second yours emails were too much, too often and sometimes too long. I don’t like emails and I  don’t like to play in your book as a bank-adviser. And what for a bankadviser. Every day he says another common place. The german language seems to be a sea of common places. No, no, my  films are enough for me. Shit happens, also in literature, but not with me. Yes, I always hoped that the best will come as you write, but in your book it doesn’t come. Only the good come but not the best. I think there is too much glasspearlsplay, reflection about roman theory and writing („nouveau roman“?). With the poor dog I have much empaty.
In the page 118 you write „ Bring we it after us“, oh yes, thats what I think too this morning. Surely, the book is singular and perhaps you are a pioneer.

I wish you the best and say you bybye
Bruce Willis

Note: 2/3 (ax)<<

 

>>Von Denis Scheck empfohlen,  war die Erwartung groß. Und tatsächlich entwickelt Rammstedt einen in der Form wohl einmaligen E-Mail Roman, in dem er eine abenteuerliche Geschichte , wie er sie seinem „ehemaligen Bankberater“ gerne angedichtet hätte, komplett in E-Mails an Bruce Willis entwickelt, die natürlich sämtlich unbeantwortet bleiben. Bruce Willis soll in seinem Roman, der ins Stocken geraten ist, die „ Rolle“ des Bankberaters übernehmen. In einer Unzahl von E-Mails berichtet Rammstedt Bruce Willis, was der Roman mit ihm und seiner Rolle vorhat und, besonders raffiniert, auch was er alles nicht macht, weil der seine Rolle nicht richtig annehmen will. So spielt Rammstedt mit den verschiedensten Ebenen der Fiktion und der Fiktion in der Fiktion. Das ist kunstvoll und witzig gemacht. Richtig großes Kino ist die Fluchtgeschichte mit dem toten Hund.
Allerdings kommt die Geschichte nur sehr langsam in Fahrt und die alternierend zu den E-Mails eingeflochtenen Miniaturen über den schrägen bis weltentrückten Bankberater geraten nach meinem Geschmack rasch zu eindimensional und durchschaubar, zeigen keinerlei Entwicklung und enttäuschen deshalb zunehmend. Note: 2 (ün)<<

>> Wer hätte mit literarischer Innovation gerechnet in einer inflationären Zeit, in der alle schriftstellerischen Patente schon angemeldet schienen. Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters ist die Neuerfindung des Briefromans, der seine Innovationshöhe einem intelligenten Flechtwerk verschiedener Komponenten verdankt. Fiktion und Wirklichkeit, Buchverlauf und realer Alltag, Autor und Kunstfiguren, Vorwärtserzählung und negierende Rückwärtsstränge fließen ineinander. Überraschungs-momente sind garantiert.
Grundmotiv des Romans ist der schriftstellerische Zweikampf: Autor ringt mit seiner unvollendeten Geschichte, die nicht reifen will. Rammstedt setzt sich selbst ins Bild, zitiert seinen Verleger, wiederholt den Druck, ein gutes Ende finden zu müssen. Die vermeintliche Hauptfigur ist sein entrückter Bankberater, der ehemalig bleibt, weil er die Geschichte nicht voranbringt. Stilistisch beschränkt Rammstedt den herrlich bizarren Bankberater auf anekdotische Zellkastennotizen und nutzt diese Lücke, einen Ersatzmann aufzurufen, der zum imaginären Hauptdarsteller avanciert: den Schauspieler Bruce Willis. In einem bis zum Buchende sich hinziehenden Emailmonolog drängt Rammstedt Willis zum Mitwirken in der hängengebliebenen Buchgeschichte. Obwohl die Emails durchweg unbeantwortet bleiben, entwickeln sie eine dialogähnliche Vitalität und werden selbst zum Handlungsgerüst. Der Bankberater habe zunächst erfolgreich durch einen Überfall auf die eigene Bank aus seiner verengten Büro- und Lebenswelt ausbrechen können, sei dann aber mitten in der Schalterhalle stecken geblieben. Die Situation überfordere ihn, so dass es für die anstehende Fluchtszene den Actiondarsteller Willis brauche. Was folgt sind 75 Emails unterbrochen von ebenso vielen Notizen zum Wesen des Bankberaters. Rammstedt inszeniert ein fliegendes Wechselspiel, in dem er selbst sowohl als realer Autor wie auch als Romanfigur auftritt. Die angebliche Teilnahmslosigkeit von Willis lasse Rammstedt keine andere Wahl, als selbst den zähen Geschichtsverlauf voranzutreiben. Rammstedt flüchtet mit dem angeschossenen Willis via gestohlenem Fahrrad ins Unterholz, wird von einer Polizeistaffel aufgespürt, verbeißt sich aus Verzweiflung in einen Polizeihund bis das arme Tier im Kugelhagel niedergestreckt wird. Die beiden Männer retten sich in den öffentlichen Nahverkehr. Dass der tote Hund aus Mitgefühl stets mitgeschleppt wird, verleiht den Szenen das für Rammstedt typische Groteske. Da der Autor jedoch mit dem Geschichtsverlauf unzufrieden ist, wird der Banküberfall rückwirkend neu gestaltet: keine Flucht sondern sofortige Verhaftung des Bankberaters. An dieser Stelle erhöht Rammstedt den Grad der Verschachtelung, indem er den alten und neuen Erzählstrang miteinander verbindet – obwohl der erstere eigentlich gestrichen wurde. Dies erlaubt erzähltechnisch beiden Gestalten auf einer Verkehrsinsel beginnend den Bankberater mit nackten Händen aus dem Gefängnis frei zu graben. Für das Finale bedient sich der Autor eines weiteren Kunstgriffs, indem er diesen Abschnitt als Vorwurf, was alles nicht geschehen sei, durchweg negierend formuliert. Das Überraschende dieser surrealistisch anmutenden Szene ist, dass die Aussagen wie Tatsachen wirken, obwohl und gerade weil sie durchgehend verneint werden. Die Konstruktion ist schlicht, die erzählerische Wirkung dennoch verblüffend.
In der Schlussepisode führt Rammstedt die Fiktion wieder an die Realität heran. Die Romanfigur Willis sieht er nach Kalifornien in das Eigenheim zurückkehren, in dem der reale Bruce Willis in seiner Küche just einen Kaffee aufgießt. Der wahre Willis ist so passgenau in seine Wirklichkeit eingefügt, dass nicht der kleinste Zwischenraum für den fiktiven Willis bleibt. Für den letzteren führt der Weg ins Gegenstandslose – seine Spur verliert sich an einer Straßengabelung.
Ist dies die Metapher für das Scheitern des Romanversuchs? Die Konstruktion hat die Verfolgung überstanden; allerdings hat der Plot Schaden genommen. Mühsam quält sich die immer wiederholte Aufforderung an Willis, den Roman proaktiv zu gestalten durch viel zu viele Emails. Ermüdend bleibt die monotone Darstellung der Autorennot, so dass trotz raffinierter Architektur das Werk nur bedingt lesenswert ist. Dennoch wird das Patent erteilt und bleibt offen für interessierte Lizenznehmer mit Blick auf Briefromane im dann vermutlich gehaltvolleren Format 2.2.bankberater_plot_diagramm Note: 2/3 (ur)<<

 

>> Auf Seite 153 angekommen, meinte mein ehemaliger Bankberater unvermittelt, es sei nun Zeit die Seiten zu wechseln. Er habe lange genug als Lieferant von Pointen hergehalten. Ich legte den Stift beiseite und sah zu wie sich der freie Wille auf seine Abenteuer begab. Kein Schwanz wedelte hinter dem Schalter, nicht einmal der von Hund und Katze. (844 S. des Romans fehlen) Note: 2/3  (ai) <<