Frankfurter Verlagsanstalt 2015 | 159 Seiten.
>> Wenn alles jetzt ist, ist es besonders intensiv und gänzlich auf einen Punkt bezogen. Oder eben nicht und stattdessen ohne Bezug zum Zuvor und dem Danach. Oder aber beides. Wenn es intensiv ist und jeden aufeinanderfolgenden Punkt verdichtet, könnte eine durchgehende Reichhaltigkeit von Leben folgen. Julia Wolf skizziert in Ihrem Debütroman das Gegenteil. Alles ist jetzt ist die unruhige Leere, in der die Bezüge zu Vergangenheit und Zukunft sich verflüchtigen. Die Folge ist eine amputierte Gegenwart, ein ausgemergeltes Moment-Bewusstsein, mit dem sich ihre Protagonistin Ingrid durch Überlebenstage quält. Je länger dieser Zustand anhält, desto kürzer erscheint die Abfolge, desto mehr versickert schon gewesene Zeit. Die Inversion des Geschehens. Wie ein in sich kollabierendes Schwarzes Loch.
Ingrid ist das kleine, verhuschte Wesen, das unter dem Tisch einschläft und vom Bruder Gordan ins Bett getragen wird. Ingrid ist die unnahbare Schülerin. Ingrid ist die Tochter sie vernachlässigender Eltern. Ingrid ist die 15-Jährige, für die der Begriff Sperma einen feuchten Sinn ergibt. Ingrid ist leer. Ingrid ist die unglücklich Verliebte. Ingrid ist die ins Bodenlose stürzende Heimkehrerin. Ingrid ist ohne jeden Plan. Ingrid wird aufgenommen von der fremden Jenny, die Liebe mit ihr teilt. Ingrid ist die Kellnerin in einer Live-Sex Bar. Ingrids Reserven reichen nur um momenteweise bei Bewusstsein zu sein. Ingrid fällt schlafend vom Sitz. Die unter Drogen vergewaltigte Ingrid wird vermarktet. Ingrid kokst. Irgendwie kommt Ingrid nach New York und hält unter der Freiheitsstatue einen Schirm in die Höhe. Oder ist das nur ein unerfüllter Wunsch? Und ist auch das egal?
Die Familie lebte in bürgerlichen Verhältnissen. Das Haus war größer als andere, das Schwimmbad blieb ein Betonsarkophag. Der Ehemann verließ vorzeitig die Familie. Die Ehefrau schwankte und stürzte zwischen Männern, Hochprozentigem und Selbstaufgabe. Einmal stürzte sie direkt in das kleine Gesicht von Ingrid. Ingrid hasste sie. Die Mutter starb früh und ganz für sich. Der Vater war verzweifelt, weil auch der spielende Wal in Florida seine kleine Ingrid völlig unberührt ließ. Ein blasses Jahresendritual mit gelben Nelken und einem Euroschein war der bleibende Rest der Vater-Tochter Beziehung. Bruder und Schwester waren einander warm und wärmten sich auch als Erwachsene noch unter einer Fernsehdecke. Doch der Bruder zerrann wie Mutter und Schwester im Rauschzustand. Gelegentlich bescherte ihm die durchkicherte Traumwelt eine zu Hackfleisch zertrümmerte Fresse. Das waren Verrechnungseinheiten unter Dealern.
Den Leser schmerzt die zerrinnende Farblosigkeit vor Augen zu haben. Der Geruch von Katzenkot vor dem Kühlschrank, diese Welt von Erbrochenem, von betäubter Gewalt, eindringende Geschlechtsorgane von vorne, von hinten, schon vergessen, alles ausmachend und völlig bedeutungslos. „Kathi steckt sich den Fuß in die Möse, und zwar den linken. Was das soll? Nichts. Sie macht es, weil sie es kann… Den Männern tropft das Grölen vom Kinn.“ Die Autorin schafft mit ihrer parataktischen Inszenierung und Formgebung das Schwarze Loch zu füllen. Das ist nicht appetitlich aber gekonnt. Vielleicht formiert sich mit Julia Wolf ein neues Gravitationsfeld im literarischen All.
Note: 2– (ur) <<
>> Ingrid holt Luft, reckt den Kopf, sie richtet sich auf. Legt wie die mintfarbene Frau die linke Hand vor die Brust, streckt die rechte samt Regenschirm in die Höhe. Das Mädchen steht lange, fast zu lange. Mit der Letzten dann doch zurück in die Schluchten. Die Mintfarbene verschwimmt, der Regenschirm vergessen an der Reling. Ein gelbes Auto verschluckt Ingrid. Ingrid überlegt. Sie fingert in der Handtasche. Bürste, Stadtplan, Brillenetui, Tampons, Lippenstift. Sie spürt die abgegriffene Geldbörse, liegengeblieben auf dem Tresen, zwei Kinderbilder eine Kreditkarte einer australischen Bank, ein Paar Dollarscheine. Graziella meint, wart einige Tage, vermutlich kommt der aber nicht wieder. Er kommt auch nicht wieder . Jetzt gehört Ingrid die Geldbörse, noch gefüllt, aber wie lange würden die Nullen reichen? Jeder Schein auch ein Stück Abgrund, Olgas Plastik- fingernägel in Ingrids Nacken. Die Tage ja Wochen dieses Zimmer ohne Fenster. Ja, das Mädchen ist genügsam. Der Umschlag im Rahmen hat sie hierher geführt. Jetzt sitzt sie im Taxi. Kein Sommer zu dritt. Ein Sommer allein in dieser Stadt. Gemeinsam – hat Jenny gehofft. Keine Limetten, keine riesige rosa Schleife, kein hereinplatzender Gorhan. Das Hotel, das sie kennt, gibt den Blick frei auf den Hudson. Eng umschlungen, die Zunge ein nichtendendes Spiel ungestört. Jenny hätte Ingrid ganz für sich. Ingrid weiß nichts von Jenny. Auch kein Jenny Mobile. Im Posteingang nur die Nachbarin. Gabi ist tot. Für einen winzigen Moment kreuzt Ingrids Blick das fahrende Augenpaar im Innenspiegel. Nein, das konnte nicht sein. Ihr Körper verspannt sich, sie spürt einen Stich, sie ist hier. Wissen kann das niemand. Das Augenpaar wird Gesicht. Nein, keine Hackfresse. Er liegt ja nicht bäuchlings, kein Blut. Nur Schnitte über den Augenbrauen. Reste von verklebtem Pflaster. Er hätte nachgeben sollen, es wäre eigentlich ein Leichtes gewesen, der Verlust überschaubar, hört Ingrid. Das Messer ist schneller als das Wechselgeld. Ob er auch die helfende Hand eines Schwesterchens hat? Sie werden Gordon zusammengeflickt haben. Da gibts ja nichts zu verwechseln. Es ist ja nicht der Zeh. Schon Wochen und kein Gedanke ans Brüderchen und dann ein verstörender Innenspiegel. Da ist er wieder, da sind sie wieder die abgelegten Bilder. Draußen vorbei am Park. Ein Jogger hauteng und verkabelt. Was sieht der? Kein kunstseidenes Mädchen, eine flüchtige Silhouette hinter einem geschlossenen Wagenfenster. Wer dahinter lebt, davon weiß er nichts. Wozu auch. Sie wird an der übernächsten Kreuzung aussteigen, warum gerade da, weiß sie nicht. Sie hat kein Ziel und gerade das tut jetzt gut. Die Stadt atmet aus Schächten. Ingrids T-shirt klebt an den Brüsten. An den Abgängen zur Subway entgegen- gestreckte Becher geldgierig. Sie wird wie immer bei Dehlis an der Ecke vorbeischauen, heute ein koscheres Sandwitch mit Salat aufs Fließband stellen, ein Budweiser aus der Kühltheke holen. Hier hat sie sich an dry beer gewöhnt, Kinderkrams würde Gorhan höhnen, dann kannst du ja auch gleich Brausepulver in die Tütchen packen. Ingrid an einem Stehtisch mit Blick nach draußen. An der Decke ein übermächtiger Propeller surrt frische Luft, trotzdem Schweißtropfen. Das Taschentuch trocknet. Beim Entfalten flattert auf den Boden ein Streifen Papier. Das Fährticket nach Long Island. Die Mintfarbene darauf zusammengeschnurrt auf Briefmarkenformat, hochgereckt oder abgewinkelt nicht zu erkennen, nur noch eine leichte Ahnung, aber doch ein Hauch Hoffnung, dass Ingrid auch dann noch jetzt ist, wenn das Zurück irgendwann unausweichlich ist.
Note: 2 (ai) <<
>> Vier erfahrene Leser werden sich nach der Lektüre nicht über die Zeitstruktur des Romans einig, auch das zweimalige Lesen bringt keine Klarheit. Nun kann man zu Recht bei einem Titel wie „Alles ist jetzt“ einwenden, gerade die Aufhebung der Zeit sei wesentlich für die Absicht der Autorin bei diesem durchgängig im Präsens geschriebenen Erstling. Trotzdem bleibt die Mühe beim Lesen, beim Sortieren des Vorher und Nachher im Leben von Ingrid, dem „Mädchen“. Der Vater hat die anfangs gutsituierte Familie früh verlassen, die Mutter ist alkoholkrank, der Bruder ein Luftikus und kleiner Dealer. Das ist kein wirklich origineller Plot. Dass die seltsam sprachlose, introvertierte Ingrid am Ende schließlich in einer Live-Sex-Bar in Frankfurt arbeitet und in einer lesbischen Beziehung lebt, auch nicht. Eine Stärke des Buches liegt eher im experimentellen Umgang mit Sprache. Es gibt sehr gelungene Szenen, wie die, als der bildungsbeflissene Buchhändler Gerald, eine neuer Freund der Mutter, ein Auge auf die Tochter wirft und Ingrid ihn und die Situation um die anfangs noch Schnittchen servierende, später in den Suff abstürzende Mutter, kühl analysiert. Dass Ingrid ihre Mutter hasst, nachvollziehbar. Auch die erloschene Beziehung zum Vater, gut erzählt. Weniger gelungen dagegen die Milieustudie in der Bar, mit klischeehaft besetztem Personal und einer bizarren, finalen Vergewaltigungsszene auf offener Bühne. Dass diese Erniedrigung Ingrids nun der Beginn ihrer Befreiung sein soll, überzeugt ebenso wenig, wie der Schluss in New York, wo das Bild mit der Freiheitsstatue und Ingrid reichlich danebengeht. Note: 3+ (ün) <<
>>Lektüre. Anstrengend. So schreibt die junge Autorin nicht durchgängig, aber relativ oft. Manchmal könnte man meinen, ein Kind beobachte die Welt durch das Display einer Kamera: Baum. Laternenpfahl. Parataxe. Dokumentarisch. Sparsame Verwendung von Verben und Konjunktionen. Sollen dadurch die problematischen Seelenzustände der Protagonisten/innen ihre formale Korrespondenz finden ? Oder liegt es daran, dass Julia Wolf bislang vor allem Hörspiele geschrieben hat? Tatsächlich kommen die Sätze laut vorgelesen besser rüber. Oder ist es schlichte manieristische, geschmäcklerische Sprachzerhackung? Beim nouveau roman abgeschaut? Berufenere mögen es entscheiden.Ingrid, 18 geworden, hatte immer Pech mit ihren Eltern. Mehr als Pech. Mutter trinkt, Vater haut ab, Bruder kifft („Tüte“). Und eine Schwäche für Blondinen („Tussis“), die angeblich immer ihre Handtaschen schwenken. Muss ich mal drauf achten. Sohn schlägt Vater. Mittelschichtverwahrlosung.
Beziehung mit Jungarzt. Ausgenutzt. Abtreibung. Tankstellenjob. 438 Mark gespart. Flucht in die Stadt. Barkeeperin Nachtclub. Von hinten für viel Geld penetriert. Es schneit. Mutter stirbt. Selbstreflexion Fehlanzeige. Lethargie, Phlegma. Apathie.
Ort der Handlung: oft gekachelte Räume, weil viel gekotzt wird. Sogar Nelken. Ins Waschbecken. Fünfmal „Arsch“ und „Scheiß“ auf einer Seite (Seite 31), eine Verdichtung sozusagen. Ganz im Ernst, ich wünsche Ingrid von Herzen alles Gute, einen Platz in einer soliden Selbsthilfegruppe oder einen guten Psychologen. Der Vater hätte viel gut zu machen. Aber das wäre ein neues Buch.
Die Autorin antwortet auf neugierige Leserfragen ausführlich. Das findet man eher selten und das macht sie sympathisch.
——– Weitergeleitete Nachricht ——–
Betreff: | Ihre Email |
Datum: |
Thu, 10 Sep 2015 08:36:43 +0200 |
Von: | juliawolf@posteo.de |
An: | mili.steinacher@gmx.de |
Lieber Herr Steinacher –
haben Sie vielen Dank für Ihre Email, die mir meine Agentur weitergeleitet hat. Ich freue mich, dass Sie mein Buch mit Ihrem Quartett gelesen haben und dass es Sie beeindruckt hat! Zu Ihren Fragen: Die Freiheit, um die es da geht am Ende des Buches, nach der Vergewaltigung, besteht in einer Art Tabula Rasa. Auf ihrer emotionalen Talfahrt ist Ingrid ganz unten angelangt und in diesem Zustand liegt eben auch etwas befreiendes – sie kann, erst einmal, alles hinter sich lassen. Außerdem ist es ja Olga, die zu Ingrid sagt, jetzt sei sie frei – und aus Olgas Sicht hat Ingrid das getan, was sie von ihr gefordert haben, jetzt kann sie gehen und ist deswegen frei. Dieser Freiheitsbegriff ist natürlich ein höchst ambibvalenter. Das zeigt sich ja auch am Ende, wenn Ingrid vor der Freiheitstatue steht – das ist eine starke Geste, die sie da vollzieht, aber eben nur eine Geste. Was wird danach kommen?
Wie alt Ingrid ist, kommt ein wenig darauf an, in welchem Jahr man die Jetztzeit anlegt und wie lange die Berlin Episode zurückliegt, Ingrid also schon mit Jenny zusammen ist und im Klub arbeitet… Meiner Zeitrechnung nach spielt die Jetztzeit um den Dreh 2005 und Ingrid ist Mitte Zwanzig.
Herzliche Grüße
Julia Wolf
Unsere Lesegruppe entwickelt ein Faible für borderlinige Charaktere. Nach „Hart auf Hart“ (T. C. Boyle) das zweite Buch in Folge über Menschen, die es sehr sehr schwer haben. Opfer der Familienstruktur, der Gesellschaft. In Deutschland oder USA.
Ich danke meinen lieben Lesefreunden, dass wir als nächstes Buch „Wer den Wind sät. Was die westliche Politik im Orient anrichtet“ (Michael Lüders) lesen werden.
Note: 3+(ax)
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