Im Westen nichts Neues – Erich Maria Remarque

K640_Im WestenKiepenheuer&Witsch 1959,  360 Seiten.   

>> Der 1. Weltkrieg- die Urkatastrophe des europäischen Kontinents – ist 100 Jahre her. Aber Remarques ungeheuer eindringlicher Bericht über eine Generation, die durch diesen Krieg zerstört wurde, ist zeitlos. Paul Bäumer ist 18 Jahre alt, als er wie viele seiner Klassenkameraden von der Schulbank direkt an die Westfront geschickt wird, verführt und gedrängt von patriotischen Lehrern, die selbst nicht daran denken, in den Krieg zu ziehen. Paul schildert den Alltag des Tötens und Überlebens in den Schützengräbern, in den Kasernen und Lazaretten mit der Sach- und Beiläufigkeit eines Jungen, der innerhalb weniger Monate erwachsen wird und der schnell erkennt, wie die Phrasen der Autoritäten und Stammtischpatrioten an der Realität des Sterbens im Trommelfeuer zerschellen und dass sie dort auf fürchterliche Weise auf sich alleine gestellt sind. Beim Kampf Mann gegen Mann sind sie Tötungsmaschinen, die  erst nach der Schlacht im getöteten Gegner den Kameraden, den Menschen sehen. All dies ist so überzeugend berichtet, dass es einem kalt über den Rücken läuft. „ Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute, wir sind roh und traurig und oberflächlich, – ich glaube, wir sind verloren“ . Dieses Werk ist zu Recht der Anti-Kriegsroman schlechthin! Pflichtlektüre. Note: 1(ün)<<

>>  Der Ich-Erzähler Paul Bäumer ist kein Widerstandskämpfer. Bäumer ist der Abiturient, der am Leben hängt, aber wie Millionen andere in den Westen gerät. Dieser Westen ist die Welt in ihrer schamlosesten Nacktheit. Es ist die unmoralistische Daseinsforms. Es ist das Morden als Lebensinhalt. Es ist der erste Weltkrieg an der Westfront. Dennoch ist nichts Neues an diesem Westen. Ein Westen, der in allen Himmelsrichtungen liegt, die der Mensch mit seiner Gewaltnatur zermalmt wie eine zeitlose Naturgewalt.
Chronologisch skizziert Remarque zunehmend vernichtende Episoden einer Gruppe junger Männer: vier Schüler einer Abiturklasse, vom Klassenlehrer Kantorek zum Vaterlandskrieg gezerrt, und vier bodenständige Burschen aus Handwerker- und Bauernfamilien. Schon bei der Grundausbildung erleben sie die Werteverschiebung, die einen geputzten Knopf schwerer wiegen lässt als Moralvorstellungen deutscher Gelehrter. Das Ich soll gebrochen werden. Die bedingungslose Anpassung wird durch Schrubben der Korporalschaftsstube mit einer Zahnbürste oder durch das vom Feldwebel organisierte Anpissen von Bettnässern erzwungen. Bis sie die Front erreichen, ist ihr innerer Widerstand in abgestumpfter Gleichgültigkeit zerronnen, gepaart mit mitleidloser Härte – zwei Grundvoraussetzungen um im folgenden, seelischen Inferno der blutgetränkten Front zu überdauern. Halt bietet nur die in äußerster Not gereifte Kameradschaft. Gemeinsam ist ihnen beim Anblick des ersten Toten die grausame Erkenntnis, dass der Aufruf zur Verteidigung deutschen Kulturguts die eigene Todesangst nicht aufwiegen kann. Auch sie sind Patrioten, keine Deserteure. Aber sie hängen am Leben und erleben mit sich selbst, dass dies mehr wiegt als abstrakte Ideale. Nur am Anfang gibt es noch den fassungslosen Abschied des neunzehnjährigen Franz, der schon nicht mehr nach seiner Mutter ruft, sondern ganz allein bleibt mit seinem kleinen, angeschossenen Leben, das ihn gleich verlassen wird, während Bäumer bei ihm sitzt.
Schon bald greifen die Schutzmechanismen, und andersartige Lichtflecken werden zu Haltepunkten im großen Dunkel: die begehrenswerten Kampfstiefel des sterbenden Freundes, die doppelten Essensrationen der auf die Hälfte zusammengeschossenen Kompanie, das legendäre Dosenfleisch in den vernichteten französischen Unterständen. Die Scham verflüchtigt sich. Das gemeinsame, stundenlange Verdauen auf dem Scheißhausplatz wird zur kollektiven Entspannung. Der Krieg, den auch sie gestalten, ist von grausamer Mannigfaltigkeit. Die massenhaft eingesetzten Pferde sind genauso Ziel und Fleisch, das von den Explosionen zerrissen wird. Unerträglich das zermürbende Brüllen der Tiere, die über die aus ihrem Leib hängenden Gedärme stolpern. Die Zuflucht vor einem Gasangriff treibt die Soldaten auf einen der unzähligen Friedhöfe. Dem folgenden Granatangriff entkommen sie nur, weil die Geschosse sich in den frischen Leichnamen der gefallenen Kameraden verfangen. Frisch gebackene Rekruten erliegen dem Grabenkoller, stürmen ins Freie und sind schon Sekunden später von Minen zerrissen, so dass sich der Brei aus Fleisch und Uniformfetzen mit dem Löffel von der Wand kratzen lässt. Mit ihren durchlöcherten Seelen werden die Überlebenden gefühllose Tote, die den heranstürmenden Franzosen mit dem Spaten die Gesichter spalten, vorbei an Gegnern, deren Oberkörper im Drahtverhau hängen, während die Unterkörper weggeschossen wurden. Oder umgekehrt der Kopf schon abgetrennt wurde und der Leib, aus dem das Blut hervorschießt, noch ein paar Schritte auf sie zu macht. Ein blinder Lebenskampf speist ihren Wahnsinn. Rache macht sie zu Tieren.
Und daheim in der gefechtslosen Zone? Die Männerwelt fordert gesteigerten Kampfgeist, der Vater giert nach Frontgeschichten, der Fabrikdirektor will die französischen Kohlegebiete und von Bäumer und seinen Kumpanen mehr Engagement, um dem Franzmann endlich den Arsch zu versohlen. Die Mütter weinen um ihre schon verlorenen Söhne und erkranken tödlich in Furcht, weitere verlieren zu müssen.
Das Grauen wird nur ertragen, wenn man es innerlich aussperrt. Gefühle, die für den Frieden geradezu dekorativ sind, zermürben den Überlebenswillen. Aber Bäumer ist sich sicher, dass der mentale Tod spätestens dann kommt, wenn das Töten ein Ende hat und die verdrängten Bilder in der Ruhe des Friedens in die Seele kriecht. Da der Heimaturlaub zur zermürbenden Besinnung verleitet, wird er für ihn zum Trauma. Selbst die wundervoll erotische Begegnung mit französischen Mädels vertieft die Zweifel, warum man einander morden muss, wenn man sich noch nicht einmal kennt. Den Höhepunkt dieses Fluchs erlebt Bäumer in einem Sprengkrater, als er eigenhändig einen Franzosen ermordet und dessen langsam voranschreitendes Dahinsiechen miterleben muss ohne im pausenlosen Geschützfeuer flüchten zu können. Sein Schwur, sich mit dessen Familie zu versöhnen, währt nur bis zur Rückkehr zur rettenden Truppe. Dann hat der Tötungsreflex ihn wieder fest im Griff. Am Ende wird Bäumer selbst Opfer – an einem ruhigen Tag, dessen Kriegsbedeutung lapidar mit der Bemerkung: „Im Westen nicht Neues“ protokolliert wird.
Es ist vor allem ein Buch des Verlustes des Menschlichen. „Wir waren achtzehn Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu lieben; wir mussten darauf schießen. Die erste Granate, die einschlug, traf unser Herz. Wir sind abgeschlossen vom Tätigen, vom Streben, vom Fortschritt. Wir glauben nicht mehr daran; wir glauben an den Krieg.“ (S. 93)
Bemerkenswerterweise wird die politische Willkür nur sehr vereinzelt gestreift wie auf Seite 198: „Ein Befehl hat diese stillen Gestalten zu unseren Feinden gemacht; ein Befehl könnte sie in unsere Freunde verwandeln. An irgendeinem Tisch wird ein Schriftstück von einigen Leuten unterzeichnet, die keiner von uns kennt, und jahrelang ist unser höchstes Ziel das, worauf sonst die Verachtung der Welt und ihre höchste Strafe ruht.“ Der weitgehende Verzicht auf historische Details erlaubt die uneingeschränkte Übertragbarkeit des Prinzipiellen auf andere Kriege. Remarque fokussiert stattdessen auf das Individuum und seine bestialische Verwahrlosung im Kontext systematischer Gewalt. Er beschreibt den Verfall und seine geradezu mechanische Schuldwerdung. Durch die Ich-Erzählung wird zudem nicht nur der Eindruck von Authentizität erzeugt, sondern auch die ethische Glaubwürdigkeit gesteigert.
Es ist ein Buch von unbeschreiblicher emotionaler Ernsthaftigkeit, ein Buch, welches die Kunst vollbringt, die Grausamkeit zu konkretisieren und doch eine feinfühlige Poesie zu wahren. Die Sprachgebung hinterlässt dabei eine tiefe antimilitaristische Wirkung, ohne dabei moralisch zu werden, ohne politische Kausalitäten zu bemühen und ohne dabei humanistische oder spirituelle Forderungen zu stellen. Ein unglaubliches Werk, das wichtiger nicht sein kann. Note: 1 (ur)<<