Festland – Markus Werner

K640_festlandResidenz Verlag, 1996 – 142 Seiten.

>>Auf dem Festland folgen die Abschiede aufeinander, die auch Wendepunkte sind: Abschied der halb-liebenden Eltern voneinander, Abschied der in sich stürzenden Mutter vom Leben, erzwungener Abschied des Vaters von der unehelichen Tochter, Abschied der erwachsenden Tochter vom reduzierten Biotonus des Lebensabschnittsgefährten, vorüber-gehender Abschied des Vaters von seiner Berufsordnung. Spät erfasst und aufgeschrieben von der linguistisch forschenden Tochter Julia, die durch die feinsinnigen Erinnerungen des Vaters die verordnete Sprachlosigkeit der Verwandtschaft überwindet. Eine Sprachlosigkeit, die erst Worte findet, als der Vater das gefügte Festland verlässt und sich auf das offene Meer der Mitteilung wagt.
Der 50-jährige Vater fiel nur durch rechtschaffende Unauffälligkeit auf: integer, sanft und keimarm, von der ihn ausgrenzenden Verwandtschaft als viertelesgebildete Tränensackexistenz gemieden. Jahre später verabschiedet sich der Mann unerwartet von seiner Firma und verkriecht sich wochenlang in seinen Morgenmantel. In dem Maße, wie er die Orientierung im Normalleben einbüßt, findet er zu sich. Er ist aufgezehrt durch den inneren und äußeren Verlust seiner verstorbenen Lena, damals von betörender Schönheit und wolkenloser Stimme. Geliebt hatte sie ihn kaum und kurz. Das dabei gezeugte Kind durfte er nur selten sehen, bis er es aus den Augen verlor. Will er weiter in sein Leben schauen, braucht er den Anblick seiner Tochter. Zögernd folgt Julia der Bitte des Vaters, der sich ihr überraschend als warmherzig poetischer Mensch offenbart. Weil von Julias Mutter verachtet, war er ihr völlig fremd geblieben.
Während der täglichen Begegnungen baut sich eine zunehmende Nähe zwischen Vater und Tochter auf, in der Julia erfährt, dass sie die Folge eines geplatzten Kondoms im Unterholz ist, ihre Mutter in den Kältetod ging, und sie von den Standes bewussten Großeltern aufgezogen wurde.
Wie zwei Meteoriten tauchen Vater und Tochter auf. Gegenseitig angezogen umkreisen sie einander und werden vermutlich zu Wendepunkten für einander, um schließlich wieder in der Tiefe des Äthers zu verschwinden. Abrupt endet die Begegnung: der Vater entzieht sich Julia und kehrt in den farblosen Alltag zurück, während Julia sich in dem meditativen oberitalienischen Orta niederlässt, wo der Vater 15 Jahre Ruhe und Besinnung fand. Entsprechend offen bleibt, ob die Himmelskörper in Bahnen gelenkt wurden, die sich wieder kreuzen werden.
Aufgebaut ist der Roman aus gegeneinander verschobenen Versatzstücken auf zwei von Julia beschriebenen Bühnen: einmal ihre Reflexion und innere Findung in Orta nach dem Rückzug des Vaters, zum anderen die Begegnungen und Gespräche in der väterlichen Wohnung, die weitgehend in Erinnerungen des Vaters gekleidet sind. Ähnlich wie im später erschienenen Roman „Am Hang“ (2004) richtet Werner das Augenmerk in „Festland“ auf die Hinterhöfe der Gefühle, in denen der verzehrte Hall von Liebe und Leere sich überlagern, und benutzt dazu reflektierende Mono- und Dialoge weniger Protagonisten. Zu Recht wurde Markus Werners kurze literarische Inszenierung als stilistisch bravourös bewertet. Note: 2 (ur)<<

Der Campus – Dietrich Schwanitz

Eichborn Verlag 1995 | 382 Seiten.

>>Dynamisch erfolgreicher Hamburger Universitätsprofessor (Hanno Hartmann, Kultursoziologe), von Kollegen geachtet und beneidet, gerät in sexuelle Abhängigkeit zu einer extrovertierten Studentin, von der er sich zu befreien sucht. Sein Verhältnis wird ansatzweise publik, worauf sich eine Vielzahl von Individuen, Organen und Institutionen auf den Fall stürzen und diesen im jeweiligen Eigeninteresse zelebrieren, gilt es doch Karrieren zu festigen, Machtgelüste und erotische Anliegen auszuleben, Eifersucht zu verrechnen oder Gelder zu akquirieren.

Ein komplexes Geflecht von Abhängigkeiten und ungeahnten Einflussmöglichkeiten im Universitäts- und im Politikbereich offenbart sich. Der Universitätspräsident will wiedergewählt werden und braucht die Frauenbeauftragte, die sich mit einem ganz großen Coup ein Denkmal setzen will, wobei ein Gremienkrieg geführt werden muss, der überlagert wird von den Animositäten der unteren akademischen Mittelschicht, die bisher weder durch Fleiß noch durch Wissenschaft überzeugen konnte. Als ein übermotivierter Nachwuchsjournalist seine Profilierungschance wittert, nimmt das Intrigengebräu richtig Würze auf, so dass schließlich sogar der Hamburger Senat eine willkommene Plattform wittert, auf der die postmoderne Sexismusdebatte mit Blick auf wiederkehrende Wahlen gewinnbringend geführt werden kann. Dass schon früh die Studentin widerruft, macht keinen Unterschied. Durch ihre Einweisung in die Psychiatrie kann der Widerruf vertuscht werden, so dass alle Teilnehmer zuverlässig auf ihre Kosten kommen.

H.Hs Gattin: vom Typus exaltierter Landadel und HHs familieninternes Minenfeld. Seine Tochter ist die Einzige, die etwas Integeres vermuten lässt. Sie bleibt HHs Stütze. H.H. dagegen mit erkennbaren Eitelkeiten, aber eben auch virtuoser Kompetenz. Doch das verhindert nicht, dass H.H. im Wissenschaftsapparat über 380 Seiten spannend seiner Opferung entgegengeführt und mit dem Vorwurf der Vergewaltigung unberechtigt suspendiert wird. Nach dem Publikwerden seiner Unschuld verzichtet er jedoch auf eine Rehabilitation, weil er von der systeminhärenten Schuld der Protagonisten überzeugt bleibt und selbst nicht erneut Teil der Niederträchtigkeit werden will.

Geschrieben ist der Roman in hochamüsanten Einzelanekdoten, die von fulminanter Sprachakrobatik und bissigem Witz geprägt sind. An manchen Stellen jedoch rutscht das Slapstickhafte in die Plattheit von HB-Werbespots ab.

Lesenswert für Akademiker Insider.  Note: 2  (ur) <<

Der Sandmann- E.T.A. Hoffmann

Insel Taschenbuch 1986 (1817)– 84 Seiten

>>            In der Farbgebung der schwarzen Romantik thematisiert der Autor den progressiven Verfall eines Protagonisten. Eingekerkert in das selbst errichtete Gefängnis des Ichs, wider aller Befreiungsbemühungen des mitfühlenden Umfeldes zerstört der Gefangene Beziehungen der Liebe, verirrt sich in vernichtenden Wahnvorstellungen und findet erst durch den gewaltsamen Tod Ruhe durch Auslöschung. Es sind Bilderszenen von verstörender Intensität. Es sind Filmläufe von seelischen Abgründen unverstandener oder vager Genese. F. Kafka und S. Freud folgen dem Vermächtnis von E.T.A Hoffmann. Der Leser ist ergriffen und verängstigt. Steckt in jedem von uns diese Wucht der Selbstzerstörung?

            Für die Erzählung bedient sich Hoffmann einer ungewöhnlichen Konstruktion aus drei Elementen. Es ist ein heute nicht mehr überzeugender literarischer Aufbau: In Briefen an die geliebte Clara und deren Bruder lässt der Autor den Protagonisten Nathanael ein frühkindliches Trauma berichten. Dann schaltet sich der auktoriale Erzähler ein, um die weise Braut Clara vorzustellen und Nathanaels Verwirrungen pathologisch einzuordnen. Sie legt ihrer Studentenliebe Nathanael dar, dass sein wiederbelebtes Trauma nicht auf Wirklichkeit baue. Somit bräuchte er keine Furcht zu haben. Nathanael lässt die Bewertung nicht gelten und manövriert sich statt dessen nur tiefer in die Strudel des Ertrinkens. In einem dritten Abschnitt wechselt der Autor auf die klassische Erzählebene, um in einer finalen Episode die zerstörerische Verblendung in absurder Ausprägung zu beschreiben.

In den Briefen erinnert Nathanael an wiederholte Besuche eines ängstigenden Bekannten seines Vaters. Grässlich anzuschauen, Kinder zu Tode erschreckend, mit dem Vater nächtens alchemistische Versuche durchführend. Die Kinder wurden ins Bett geschickt mit dem Hinweis, es sei der Sandmann. Würden die Kinder zu diesem Zeitpunkt noch nicht schlafen, würde er Sand in die Augen streuen bis diese blutig aus dem Schädel springen. Bei einer dieser Sitzungen kommt der Vater durch eine Explosion zu Tode. Der Sandmann, den Nathanael als den Glasbläser Coppelius erkennt, soll die Rache des Jungen erfahren. Vor allem auch, weil der Sandmann stärker denn je in den Träumen des erwachsenen Nathanaels wütet. Die Schwester rät in einem Antwortschreiben zum Erwachen, zum Gewahrwerden, dass die empfundene Bedrohung ausschließlich eingebildeten Ängsten entspringt. Doch Nathanael bleibt geradezu obsessiv gefangen im Kokon seiner Albträume. Er will seinen Coppelius.

Im abschließenden Erzählabschnitt entdeckt Nathanael zufällig im Nachbarhaus eine betörend schöne Frau, die allerdings durch mechanisch wirkende Bewegungen auffällt. Er verliebt sich unsterblich in sie und verliert dabei seine Bindung zu Clara. Auf einem Ballabend tanzt er sogar mit der Fremden und erklärt der Wortkargen seine grenzenlose Liebe. Unter dem Gelächter der Umstehenden erst wird ihm gewahr, dass er in seiner Verblendung einem Betrug aufgesessen ist, denn die Dame Olimpia ist eine hochentwickelte Puppe des Erfinders Professor Spalanzani. Ein prompter Nervenzusammenbruch führt zur Einlieferung ins Tollhaus.

Mit Verlassen der Anstalt findet Nathanael zurück zur geliebten Clara. Doch schon wenig später folgt auf einem Ausflugsturm der tragische Rückschlag. Ein grauer Busch, in Erinnerung an die graue Erscheinung des Sandmann, scheint auf Nathanael zuzuschweben. Im Wahn droht er zunächst die Geliebte vom Turm zu stoßen, bis er selbst in den Tod springt.

Eine zentrale Bedeutung im Text kommt dem Auge zu: das Auge als Pforte in das Hirn, Sitz von Bewusstsein und Ängsten. Das Auge kann schon durch Sand dauerhaft geschädigt werden. Derjenige, der Sand streut, nimmt nicht nur das Augenlicht, sondern die Seele. Nicht mehr sehen können, heißt am Leben nicht mehr teilzuhaben. Allein die Furcht vor diesem Verlust, mag bereits in den Wahnsinn treiben. Das Auge kann auch getäuscht werden. Allein schon durch den beobachteten Ausschnitt des Daseins. Nathanael schaut vernichtend verengt auf seine Angstvision, genauso wie er sich täuschen lässt beim Blick durch das ihm geschenkte Fernglass, mit dem er Olimpia heimlich beobachtet. Der vermeintlich genauere Blick ins Detail raubt den lebenserhaltenden Überblick.

Auch wenn das Format nicht überzeugt, auch wenn die Episode nicht gelungen wirkt, wohnt dem Werk eine Sogwirkung inne, die Ängste schürt. Eine zeitlose dunkle Faszination wohnt dem Werk inne.  Note: 4 (ur)<<

Brandung – Martin Walser

Suhrkamp Verlag 1985 – 319 Seiten

            „Brandung“ ist der sich fortsetzende Zyklus des Alterns, der sich reihende Niedergang der Figur Helmut Halm, dem schon im Roman „Ein fliehendes Pferd“ (1978) die Lebenskräfte davonzutraben schienen. Dort wie auch in „Brandung“ blies dem Schwaben ein steter Wind von Niedergang entgegen, der auch mit Todesandeutungen nicht geizte. Halm, der mit dem Vorsatz kokettiert, chronisch verkannt zu werden, saß auf dem Bodensee 1978 noch im selben Boot mit einem demonstrativ vitalen Freund und Konkurrenten, bis dieser über Bord ging. 1985 ruft ihn ein ebenso lauter Studienfreund nach Kalifornien. Und so wie die literarische Figur Halm gealtert ist, nimmt auch die Morbidität seines Umfeldes schicksalhaft zu. Für Halm bleibt am Ende nur – und das ist schon viel wert – sich an seinen eigenen schwankenden Halm im Wind zu binden. Unterschätzt zu sein als Genugtuung. Vielleicht eine Deutung, die der Autor Walser dem Leser vorhalten möchte, damit das Leise lauter und seine schriftstellerische Landmarke dauerhaft auf den literarischen Seekarten eingetragen wird? Verdient hätte er es, denn das Werk ist eindrucksvoll.

            Da ist also wieder dieser schwäbische Oberlehrer – in kleinen Karos gestrickt, aber mit einem durchaus beflügelten Geist. Eingeengt in der Talsohle des Stuttgarter Stadtkessels, bedrängt vom missverstandenen Kollegium, tönt plötzlich der Ruf des alten Studienfreundes Mersjohann, der ihm eine Gastdozentur an der San Francisco Bay anbietet. Befreit vom Schulbeamtenmilieu ziehen er und Ehefrau Sabine samt erwachsener Tochter im Rahmen eines viermonatigen Sabbaticals in die amerikanische Fremde. Der Ab- und Aufbruch, das kalifornische Licht und die betörende Frische der Campusjugend wirken ungemein anregend auf den 55-Jährigen, dessen Ausflüge sonst auf die Magerwiesen der Schwäbischen Alb begrenzt sind.

            Ernüchternd jedoch schon bald die Begegnung mit Mersjohann, der nicht mehr der Alte ist. Zum sarkastischen Alkoholiker mutiert, reserviert er die verbleibende Kreativität für zermürbende Rituale innerhalb seiner korrodierten Ehe. Während und gerade weil Halm einen durchaus bleibenden Eindruck allseits hinterlässt, schlägt ihm schon bald Mersjohanns laut vorgetragene Ironie entgegen bis hin zum späteren Vorwurf, Halm wolle ihm die Stelle streitig machen. Auch seine scharfzüngige Sekretärin fühlt sich in ihrer Zuneigung zu Halm nicht ausreichend berücksichtigt. Fortan bilden der Chef und seine engste Mitarbeiterin ein verlässliches Team, das ausdauernd Halms Alltag untergräbt. Nicht verborgen bleibt ihnen natürlich eine attraktive Studentin, die um Halms Aufmerksamkeit buhlt. Halm ist betört von ihrer Vitalität und der sonnensamtenen Glätte der ewig in Shorts ausgeführten schlanken Beine, die fast täglich auf seinem Beratungsstuhl Platz nehmen. Er droht sich platonisch, fast präpubertär hilflos in diese Studentin zu verlieben. Literatur wird fortan als Brückenschlag von beiden Seiten bemüht. Mit theatralischer Heftigkeit proben sie laut Heine und andere Beziehungsautoren. Vor allem aber ein Shakespeare Sonett, in dem ein Paar die Zuneigung unbeholfen in Beschimpfungen kleidet. So wird auch Halm zum verliebten Gockel Malvolio, mit dem er inzwischen die grellbunte Kleiderwahl teilt. Halm ist berauscht, auch wenn der Selbstzweifel sein zuverlässiger Begleiter bleibt. Eine Liaison wird es nicht werden, wohl aber ein in der Katastrophe endender Reigen, als Halm so ausgelassen mit der jungen Dame tanzt, dass sie beide krankenhausreif stürzen. Halms genähte Platzwunde wird verheilen, doch ihre Gehkrücken werden dem Mädel das Leben kosten, als sie Wochen später in ein Auto eingeklemmt sich nicht rechtzeitig aus dem in die kalifornische Brandung gestürzten Wagen befreien kann.

Halms Initialvision vom mental nach oben offenen Lebensraum jenseits des Atlantiks verengt sich zunehmend durch ernüchternde, durch groteske, durch fatale Einschnitte, die die kraftvolle Brandung kalifornischen Lebens zu einer einengenden, lebensbedrohenden Gewalt werden lassen. Zusammenbrüche, Psychoterror, Todesfälle. Seiner äußeren Emigration und inneren Öffnung folgt der erschöpfte Rückzug. Der alternde Mann war stets vor dem unvermeidbaren Niedergang auf der stillen Flucht. Schließlich wird Halm nach seiner Rückkehr vom überschaubaren schwäbischen Alltag mit Gattin Sabine geerdet, während die vermeintlichen Leuchtfeuer erloschen sind: die Studentin ist tödlich verunglückt, die Ehe des Studienfreundes gescheitert – nicht wie prophezeit seine – Mersjohann mit Suizid aus dem Leben geschieden, Sabines Vater an Krebs verendet, Halms Schulleiter überraschend vom Herzinfarkt hingestreckt, der Cocker Spaniel Otto überfahren. Am Ende des Romans heißt es: „Alles tat sich zusammen und forderte ihn auf zu gestehen, daß er sich jetzt daheim fühlte.“ Halm ist bei sich angekommen.

Für Walser hätte vieles nur ein deja vu sein können. Tatsächlich war es mehr, denn zahlreiche Amerikaaufenthalte und eigene Dozentenerfahrungen dort erlaubten ihm authentisch und mit überraschender Detailtiefe Campusszenen, Smalltalk-Tristesse, genauso wie Lebenslust und geistige Freiräume zu durchstreifen. Selbst der fatale Tanz mit einer Studentin samt Sturz gehört zu seiner Lebensgeschichte.

Ein Lesegenuss. Dicht, stilistisch überraschend, unaufdringlich, gut. Ein Werk, das man gerne wieder in die Hand nimmt.  Note : 2+ (ur)>>