Insel Taschenbuch 1986 (1817)– 84 Seiten
>> In der Farbgebung der schwarzen Romantik thematisiert der Autor den progressiven Verfall eines Protagonisten. Eingekerkert in das selbst errichtete Gefängnis des Ichs, wider aller Befreiungsbemühungen des mitfühlenden Umfeldes zerstört der Gefangene Beziehungen der Liebe, verirrt sich in vernichtenden Wahnvorstellungen und findet erst durch den gewaltsamen Tod Ruhe durch Auslöschung. Es sind Bilderszenen von verstörender Intensität. Es sind Filmläufe von seelischen Abgründen unverstandener oder vager Genese. F. Kafka und S. Freud folgen dem Vermächtnis von E.T.A Hoffmann. Der Leser ist ergriffen und verängstigt. Steckt in jedem von uns diese Wucht der Selbstzerstörung?
Für die Erzählung bedient sich Hoffmann einer ungewöhnlichen Konstruktion aus drei Elementen. Es ist ein heute nicht mehr überzeugender literarischer Aufbau: In Briefen an die geliebte Clara und deren Bruder lässt der Autor den Protagonisten Nathanael ein frühkindliches Trauma berichten. Dann schaltet sich der auktoriale Erzähler ein, um die weise Braut Clara vorzustellen und Nathanaels Verwirrungen pathologisch einzuordnen. Sie legt ihrer Studentenliebe Nathanael dar, dass sein wiederbelebtes Trauma nicht auf Wirklichkeit baue. Somit bräuchte er keine Furcht zu haben. Nathanael lässt die Bewertung nicht gelten und manövriert sich statt dessen nur tiefer in die Strudel des Ertrinkens. In einem dritten Abschnitt wechselt der Autor auf die klassische Erzählebene, um in einer finalen Episode die zerstörerische Verblendung in absurder Ausprägung zu beschreiben.
In den Briefen erinnert Nathanael an wiederholte Besuche eines ängstigenden Bekannten seines Vaters. Grässlich anzuschauen, Kinder zu Tode erschreckend, mit dem Vater nächtens alchemistische Versuche durchführend. Die Kinder wurden ins Bett geschickt mit dem Hinweis, es sei der Sandmann. Würden die Kinder zu diesem Zeitpunkt noch nicht schlafen, würde er Sand in die Augen streuen bis diese blutig aus dem Schädel springen. Bei einer dieser Sitzungen kommt der Vater durch eine Explosion zu Tode. Der Sandmann, den Nathanael als den Glasbläser Coppelius erkennt, soll die Rache des Jungen erfahren. Vor allem auch, weil der Sandmann stärker denn je in den Träumen des erwachsenen Nathanaels wütet. Die Schwester rät in einem Antwortschreiben zum Erwachen, zum Gewahrwerden, dass die empfundene Bedrohung ausschließlich eingebildeten Ängsten entspringt. Doch Nathanael bleibt geradezu obsessiv gefangen im Kokon seiner Albträume. Er will seinen Coppelius.
Im abschließenden Erzählabschnitt entdeckt Nathanael zufällig im Nachbarhaus eine betörend schöne Frau, die allerdings durch mechanisch wirkende Bewegungen auffällt. Er verliebt sich unsterblich in sie und verliert dabei seine Bindung zu Clara. Auf einem Ballabend tanzt er sogar mit der Fremden und erklärt der Wortkargen seine grenzenlose Liebe. Unter dem Gelächter der Umstehenden erst wird ihm gewahr, dass er in seiner Verblendung einem Betrug aufgesessen ist, denn die Dame Olimpia ist eine hochentwickelte Puppe des Erfinders Professor Spalanzani. Ein prompter Nervenzusammenbruch führt zur Einlieferung ins Tollhaus.
Mit Verlassen der Anstalt findet Nathanael zurück zur geliebten Clara. Doch schon wenig später folgt auf einem Ausflugsturm der tragische Rückschlag. Ein grauer Busch, in Erinnerung an die graue Erscheinung des Sandmann, scheint auf Nathanael zuzuschweben. Im Wahn droht er zunächst die Geliebte vom Turm zu stoßen, bis er selbst in den Tod springt.
Eine zentrale Bedeutung im Text kommt dem Auge zu: das Auge als Pforte in das Hirn, Sitz von Bewusstsein und Ängsten. Das Auge kann schon durch Sand dauerhaft geschädigt werden. Derjenige, der Sand streut, nimmt nicht nur das Augenlicht, sondern die Seele. Nicht mehr sehen können, heißt am Leben nicht mehr teilzuhaben. Allein die Furcht vor diesem Verlust, mag bereits in den Wahnsinn treiben. Das Auge kann auch getäuscht werden. Allein schon durch den beobachteten Ausschnitt des Daseins. Nathanael schaut vernichtend verengt auf seine Angstvision, genauso wie er sich täuschen lässt beim Blick durch das ihm geschenkte Fernglass, mit dem er Olimpia heimlich beobachtet. Der vermeintlich genauere Blick ins Detail raubt den lebenserhaltenden Überblick.
Auch wenn das Format nicht überzeugt, auch wenn die Episode nicht gelungen wirkt, wohnt dem Werk eine Sogwirkung inne, die Ängste schürt. Eine zeitlose dunkle Faszination wohnt dem Werk inne. Note: 4 (ur)<<